Ingolf Brökel: friedenserhaltungssatz

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Ingolf Brökel: friedenserhaltungssatz

Brökel-friedenserhaltungssatz

BIOGRAFIE

ich wurde in einer zeit geboren
die bei null begann oder
nach christi geburt.
es herrschte gerade waffenstillstand
eine neue zeit war angebrochen
ich sah die eieruhr laufen
im sozialistischen lager
lief die schnellste zeit in žloukovice
sang mit den stones „the last time“.
ich studierte einsteins langsame uhren
sah dalis weiche und las lange zeit
wie marcel proust ein leben lang
seine verlorene zeit suchte.
die pfingstrose kam in der regel pfingsten
schnee oft weihnachten
und nach dem postboten konnte ich
eine zeit lang meine uhr stellen.
ich bin älter geworden
als benn brecht und büchner
von einem jahrtausend in
das nächste jahrtausend gekommen
es reicht mir.

 

Ingolf Brökel liest aus seinem Band friedenserhaltungssatz

 

Ingolf Brökel liest zum Welttag der Poesie aus seinem Band friedenserhaltungssatz

 

Ingolf Brökel liest am 22.6.2022 im BAIZ beim Doppel-Release ROT & ROSA u.a. aus dem friedenserhaltungssatz

 

In seinem neuen Gedichtband

schlägt Ingolf Brökel deutlicher als bisher die Brücke zwischen Physik und Lyrik. Aus den Erhaltungs-sätzen der Physik kommt eindeutig der Titel, die Brücke u.a. auch durch den Frieden, nicht unbeabsichtigt. Schon in einem früheren Gedicht hieß es „… theoretisch physiker / praktisch lyriker…!“ Die zweifellos nicht zufällige Verbindung erklärt er so: „Was wäre die Wirklichkeit ohne die Physik und was die Physik ohne die Metaphern? Während ich mit der Physik gewohnt bin, exakte Lösungen anzustreben, beschreibe ich mit der Lyrik die Vernachlässigungen, die ich dabei eingehen muß: mit genügend Ironie und Lakonismus. Das gilt auch für den Weltlauf schlechthin.“

PalmArtPress, Ankündigung

 

Friedenserhaltungssatz

– Zu Ingolf Brökels neuen Gedichten. –

Erhaltungssätze sind in den exakten Wissenschaften nicht außergewöhnlich. Meist beschreiben sie in einem System ein Merkmal, das – in der Summe seiner Komponenten – quantitativ unverändert bleibt. In der Poesie ist das Problem vielschichtiger, es geht hier bei Erhaltungssätzen nicht vordergründig nur um Zustandsbeschreibungen, sondern auch um Rufe. Ein Dichter wird dafür in der Regel nicht zu bloßen Appellen greifen, er wird den Dingen auf den Grund gehen und „alles auf den Punkt… bringen“, er wird die Poesie, die in ihnen steckt, in einen Zauberstab verwandeln, der wieder neue Poesie hervorbringt. Und genau das tut Ingolf Brökel. Und manchmal geht er dabei „etwas weiter… als gedacht (und)… das ist die Kunst.“
Mit seinen vier Friedenserhaltungssätzen, von denen jeder eine andere, originäre Facette der Problematik behandelt, erschafft er Säulen, die das dichterische Werk tragen. Brillant ist sein Postulat des Zusammenhanges zwischen Frieden und Liebe, das er im ersten der vier Sätze darlegt:

friedenserhaltungssatz (1)

die erdbevölkerung nimmt stetig zu.

ich bin
also hat man geliebt.

das kann jeder sagen.

Brökels Themen sind die großen und ewigen der Lyrik: Ausgehend von der Sphäre des Menschseins, des Lebens in Generationen, kommt er über die Fragen von Sprache, Schreiben und Literatur zur Thematik der Elemente des Seins, der Natur und Physik, und schließlich zum Kreis zwischen Kindheit, Jugend und Alter. Einiges fällt dabei besonders auf, wie beispielsweise die, nicht zufällig als „Kindheitsmuster“ dargebotenen, Erinnerungen oder die Stellung des Menschen im Zwiespalt zwischen seinen Träumen und den äußeren Zwängen, ihn selbst und die Welt zu vermessen:

der mensch

kommt nach der geburt
auf die waage
ans lineal
man liest die zeit
von der uhr ab.

dann wird er
in die kilogramm meter sekunden
eingebettet
wacht an und ab auf
um d
ies und das zu tun
und vermessen zu werden.

Der Mensch lebt also im Universum der physikalischen Maße, die er der Welt abgelauscht hat, aber er unterwirft sich ihnen auch, man misst ihn und er existiert in all seiner Vermessenheit. Bemerkenswert, wie exakt Ingolf Brökel seine Umwelt wahrnimmt, wie er immer wieder scheinbar Unfassbares erfasst und es uns so vor Augen führt, wie wir es ohne ihn vielleicht nicht gesehen oder gar in seiner ganzen Paradoxität auch nicht verstanden hätten. Kritisch zeigt er Zusammenhänge auf, die unsere Gesellschaft in Jahrhunderten mit planetarischen Maßstäben durchziehen:

das planetarium in senftenberg
wird zur wohnung lese ich
also keine planetarische bildung
in der jungen universitätsstadt –
keine planetarische aussicht
bunker also
grube
wie vor hundert jahren.

Doch nicht allein die Themen der Gedichte sind entscheidend für den bleibenden Wert dieser Lyrik, sondern in mindestens dem gleichen Maße das, was Ingolf Brökel aus ihnen macht und wie er dies tut – das ist außerordentlich und beeindruckend. Natürlich spürt man hinter den freien und modernen Versen ab und an die beruflichen Blickwinkel des Autors als Physiker. Doch hier treffen sich nicht nur Physik und Lyrik zu gemeinsamem Treiben, hier entsteht eine Symbiose auf weit höherem Niveau.
Ingolf Brökels Gedichte sind absolut originell, lakonisch und ausdrucksvoll ausgeführt. Es finden sich Perlen, die in keinem zeitgenössischen Kanon von Wert fehlen sollten. Der Autor beobachtet präzis, entdeckt erstaunliche und makabre Konstellationen und bereitet sie bis hin zu phantastisch anmutenden Sprachspielen auf. Er stellt Unbedachtes und Fragwürdiges in unserer Zivilisation fest und zerlegt dieses in ironischem Duktus durch ein scheinbar exaktes Prisma in Satire und Philosophie. Nicht alle seiner Thesen und Sichtweisen erschließen sich beim allerersten Lesen, einige fordern den Leser auch bewusst zu längerem intellektuellem Vergnügen heraus.
Aber lesen kann – und sollte – man Brökels Gedichte wieder und wieder. Und jedes Mal wird man überraschende Nuancen entdecken, Bedeutungen, die sich in der Sprache verstecken und aus ihr erst entstehen. Und das ist ein Beweis für große Poesie. Der Friedenserhaltungssatz ist aus Sicht des Rezensenten, der übrigens über einen ähnlichen beruflichen Hintergrund verfügt wie Ingolf Brökel, eines der besten und reifsten Bücher des Autors, das jeder an Literatur und Lyrik Interessierte gelesen haben sollte. 

Roland Müller, oda Ort der Augen, I/2021

Ingolf Brökel,

der 1950 in Sauo bei Senftenberg geborene Dichter, ist eigentlich Physiker von Beruf. In seinem neuesten Gedichtband, der den Titel friedenserhaltungssatz trägt, klingt seine Tätigkeit als Lehrer der Physik an einer Berliner Hochschule an. Vier Variationen das dem Energieerhaltungssatz adaptierten Wortes kommen in den jeweils vier Kapiteln des Bandes vor, denen jeweils drei Zeilen philosophischer Sentenzen programmatisch vorangestellt sind. In seinen tiefgründigen Gedichtaphorismen verwandeln sich die alltäglichen Dinge zu hyperbolischen Metaphern: 

der nagel

er ist spitz
einzudringen
er will geschlagen werden
aufrecht
auf den kopf
immer auf den kleinen kopf
bekloppt werden
bis er halt findet
auf dem holzweg

Physik, Mathematik und Astronomie werden zu Poesie. So auch in dem Adalbert Stifter gewidmeten Gedicht zu der von ihm erwähnten Sonnenfinsternis vom 8. Juli 1842. Ein mit „calvin“ überschriebenes Gedicht schließt den Bogen mit einer kunstvollen Volte:

gedichte
sind strafzettel
für die frontscheibe
des fortschritts

der ab und an
kurz auftaucht

und die parkuhr
glatt
für eine lyrische erfindung hält

So sagt er der praktischen Arbeit mit der Physik adieu und begrüßt ihren neuen Denkraum im Gedicht mit den Worten:

die physik brachte mir bei
alles auf den punkt zu bringen
diese stelle
die unendlich klein ist
aber nicht null
die muss ich nun finden

Im Band findet man auch zahlreiche Erinnerungen an Kindheit und Jugend, so heißt es im Gedicht „senftenberger see“, das er seiner Mutter gewidmet hat: 

der see liegt glatt vor uns
aber
jetzt regnet es

(jeder regentropfen ist
ausgangspunkt für
eine elementarwelle
würde huygens sagen)

siehst du es jetzt
vor uns
das meer

In dem vierteiligen Zyklus „kindheitsmuster (II)“ entwickelt Brökel eine eigene Lebensphilosophie mit Mutterwitz:

Was von oben kommt
ist heilig sagte
großmutter immer
nach jedem regen
musste ich raus zu
den pfützen um mich
unten zu sehen…

balancieren
auf gefällten bäumen
war meine kindheit.
gern käme ich
aus diesem bild heraus
aber ich würde
das gleichgewicht verlieren

Die Physik geistert überall und liefert den Stoff und die Form seiner poetischen Sprachgebilde, wie in dem witzigen Apercu „prüfung 1972“:

welche farbe
hat das elektron
fragte er

die farbe
meines fdj-hemdes
das ich vergessen habe
anzuziehen.

Wie eine Summe seiner physikalisch beeinflussten Gedichte erscheint das Gedicht zur Allgemeinen Relativitätstheorie:

kleine ART

meine kinderstube
sagt mir
wie ich mich zu bewegen habe
und ich sag ihr
wie sie sich
höllisch
zu strecken hat.

Im Gedicht „kepler weihnachten“ findet Brökel ein schlichtes und originelles Zeichen für das flüchtige Phänomen Dichtung:

nix kommt vom himmel
ich habe nix in der hand
die kristalle des nix
die wasserzeichen der poesie

(nix lat. für Schnee).

Georg Rainer, Signum, 22. Jahrgang Heft 2, Sommer 2021

Weiterer Beitrag zu diesem Buch:

Nils Bernstein: Eine Hausapotheke zu Meta – und zu Physik
literaturkritik.de, Juli 2021

 

Fakten und Vermutungen zum Autor

 

Ingolf Brökel (Text) & Erhard Ertel (Video/Musik)
Trailer zu Häschen in der Grube – Ein Stück Abend aufgeführt am 23. Oktober 2004.

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