Jakob Hessing: Auf der Grenze

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Jakob Hessing: Auf der Grenze

Hessing-Auf der Grenze

(…)

Bis in die siebziger Jahre war die Germanistik in Jerusalem verpönt, und als sie schließlich in den Lehrplan aufgenommen wurde, musste jeder der Dozenten einen Weg suchen, wie deutsche Literatur in Israel zu vermitteln war.
Ich beschäftigte mich vornehmlich mit jüdischen Autoren und Autorinnen, die diese Literatur mitgestaltet haben. 1945 war Else Lasker-Schüler in Jerusalem gestorben, in ihrem Nachlassarchiv in der israelischen Nationalbibliothek hatte ich meine Doktorarbeit über ihre Rezeption nach 1945 geschrieben, hatte gesehen, wie wenig man im Nachkriegsdeutschland mit ihrem Judentum anzufangen wusste, für das man sie einst verjagt hatte, und wie heuchlerisch man damit umging. Deshalb schrieb ich noch ein zweites Buch über sie, nannte es Else Lasker-Schüler. Biographie einer deutsch-jüdischen Dichterin und bemühte mich, diesem Titel einen Inhalt zu geben, der sich nicht nur an ihrem Leben, sondern auch an ihrem Werk ablesen ließ.
Denn das Leben und das Werk von Dichtern und Dichterinnen sind zwei verschiedene Dinge, und bei niemandem, vielleicht, wird dieser Unterschied so deutlich wie bei Else Lasker-Schüler. „Es war 1912, als ich sie kennenlernte“, sagt Gottfried Benn über sie.

Man konnte weder damals noch später mit ihr über die Straße gehen, ohne daß alle Welt stillstand und ihr nachsah: extravagante weite Röcke oder Hosen, unmögliche Obergewänder, Hals und Arme behängt mit auffallendem, unechtem Schmuck, Ketten, Ohrringen, Talmiringe an den Fingern, und da sie sich unaufhörlich die Haarsträhnen aus der Stirn strich, waren diese, man muß schon sagen: Dienstmädchenringe immer in aller Blickpunkt. Sie aß nie regelmäßig, sie aß sehr wenig, oft lebte sie wochenlang von Nüssen und Obst. Sie schlief oft auf Bänken, und sie war immer arm in allen Lebenslagen und zu allen Zeiten. Das war der Prinz von Theben, Jussuf, Tino von Bagdad, der schwarze Schwan. – Und dies war die größte Lyrikerin, die Deutschland je hatte.

Ich zitiere Ihnen aus der berühmten – und ich füge gleich hinzu: aus der berüchtigten – Rede, die Benn 1952 im Berliner British Centre über sie gehalten hat, und staune selbst, dass ich es tue. Denn in meiner Rezeptionsgeschichte ist sie das Kernstück der Verlogenheit, mit der man dieser Jüdin im Nachkriegsdeutschland begegnet ist. Ausgerechnet Gottfried Benn, der den Emigranten seinen Fluch nachgeschickt hatte, stellt der eben noch verbotenen Dichterin jetzt das Leumundszeugnis aus, immer wieder zitiert man seine Rede, um das kollektive Gewissen rein zu waschen, und Benn sagt auch den folgenden Satz:

Ein Gedicht wie das Gedicht „Mein Volk“ aus den Hebräischen Balladen ist in seiner Vollkommenheit eine (…) völlige Verschmelzung des Jüdischen und des Deutschen (…).

Den Satz zitiere ich zunächst nur unvollständig, denn ich komme später noch einmal auf ihn zurück. Erst aber schauen wir uns das Gedicht an, von dem hier die Rede ist. In meiner Biographie der Dichterin habe ich ihm ein ganzes Kapitel gewidmet, und dies ist sein Wortlaut:

MEIN VOLK

Der Fels wird morsch,
Dem ich entspringe
Und meine Gotteslieder singe…
Jäh stürz ich vom Weg
Und riesele ganz in mir
Fernab, allein über Klagegestein
Dem Meer zu.
Hab mich so abgeströmt
Von meines Blutes
Mostvergorenheit.
Und immer, immer noch der Widerhall
In mir,
Wenn schauerlich gen Ost
Das morsche Felsgebein,
Mein Volk,
Zu Gott schreit.

Das Gedicht erschien im Jahr 1905, zur Zeit der Jüdischen Renaissance, an die Thomas Sparr gedacht hatte, als er mir den Almanach vorschlug. Das deutsche Judentum befand sich damals in einer tiefen Identitätskrise und suchte nach Antworten. Else Lasker-Schülers Gedicht ist ein Ausdruck dafür, dass diese Krise nicht zu lösen war.
Schon der Titel zeigt es an. Ohne die Juden beim Namen zu nennen, bekennt die Dichterin sich zu ,ihrem Volk‘ und unterläuft damit alle Bemühungen des vergangenen Jahrhunderts, in dem es um die Emanzipation gegangen war, um die Deutschwerdung der Juden. Mit der ersten Zeile indessen erweist ihr Bekenntnis sich als ambivalent: Der Fels, die Metapher der Standhaftigkeit und des Überdauerns, wird morsch, und die Zweideutigkeit dieses Anfangs überträgt sich nun auf das ganze Gedicht.
Denn wie haben wir das Verb der zweiten Zeile zu verstehen? Das lyrische Ich ,entspringt‘ dem Felsen, löst es sich also von ihm ab, wie man von einer Klippe springt, entfernt es sich von ihm, weil der Felsen morsch wird? Oder ist ,entspringen‘ ein Synonym für ,entstammen‘, sagt die Sprecherin das genaue Gegenteil, kettet sie sich mit diesem Wort an den Felsen und kann ihm, selbst wenn sie es wollte, gar nicht entkommen?
Zunächst hat es den Anschein, als beschreibe das Gedicht eine Flucht. Das Ich „stürzt vom Weg“, es geht in sich selbst, „rieselt“ in seinem Inneren dem offenen „Meer“ zu; und die zweite Strophe setzt die Fließbewegung fort: Die hier spricht, hat sich „abgeströmt“ von ihres „Blutes / Mostvergorenheit“ – eine merkwürdige, fast christliche Gleichsetzung von Wein und Blut, das freilich schon verdorben ist, wie der morsche Felsen.
Doch all dem ist bereits die Gegenströmung eingeschrieben. Der Weg in das Innere der Dichterin führt über Klagegestein, über Bruchstücke des zerbröckelnden Felsens, die an den zerstörten Tempel in Jerusalem erinnern, und alle Flucht erweist sich als hoffnungslos. Denn der morsche Fels ist ihr eigenes Gebein, ist ihr Volk, an das sie genetisch gefesselt bleibt und das in ihr zu Gott schreit, auf dass die trockenen Knochen wieder auferstehen, wie es der Herr seinem Propheten Hesekiel versprochen hat.
Es ließe sich mehr sagen über dieses Gedicht – mein Kapitel darüber in der Biographie enthält fast 40 Seiten –, aber ich widerstehe der Versuchung und kehre noch einmal zu der Rede zurück, die Gottfried Benn über Else Lasker-Schüler gehalten hat. Das British Centre hatte ihn eingeladen, weil die Beziehung zwischen der älteren Dichterin und dem jungen Expressionisten zu den Legenden der Berliner Boheme gehört, und auch Benn spielt darauf an.

Im heutigen Berlin bin ich (…) sicher der einzige, dem sie eine Zeitlang sehr nahe stand.

So beginnt er seine Rede und leitet daraus das Recht ab, seinen Hörern Einblick zu geben in die Existenz einer Jüdin:

Das Jüdische und das Deutsche in einer lyrischen Inkarnation! Und damit berühre ich ein Thema, über das ich oft nachgedacht und auch oft mit ihr gesprochen habe. Es war auffallend, dass ihre Glaubensgenossen nicht das in ihr sahen oder sehen wollten, was sie ihrem Range nach war. (…) (S)ie nahm sich die großartige und rücksichtslose Freiheit, über sich allein zu verfügen, ohne die es ja Kunst nicht gibt. Ihre Glaubensgenossen billigten ihr wohl das persönliche Recht zu diesem Exhibitionismus zu, aber sie wollten sich nicht mit ihm und ihr identifiziert sehen.

„Hab mich so abgeströmt / Von meines Blutes / Mostvergorenheit“: Schon lange zuvor, in den Zeilen ihres Gedichtes, hatte Else Lasker-Schüler ihre Enttäuschung über das deutsch-jüdische Bürgertum verschlüsselt. Was Benn hier sagt, ist nicht ganz unwahr, doch gerade deshalb ist es so perfide: Statt die eigene Schuld zu bedenken, denunziert der einstige Mitläufer der Nazis auch im Jahre 1952 noch das deutsche Judentum, und hören wir deshalb noch einmal seinen oben schon zitierten Satz über das Gedicht „Mein Volk“, diesmal zur Gänze: 

Ein Gedicht wie das Gedicht „Mein Volk“ aus den Hebräischen Balladen ist in seiner Vollkommenheit eine so völlige Verschmelzung des Jüdischen und des Deutschen, der Ausdruck einer wirklichen Seinsgemeinschaft auf höchster Stufe, daß es auf beiden Seiten, sofern die Kunst bei uns überhaupt etwas zu sagen hätte, auch politische Folgen würde gehabt haben können.

Das sagt Gottfried Benn über die Verse, die wir uns eben angeschaut haben, und Sie werden vielleicht verstehen, dass einem israelischen Germanisten das Studium der Quellen nicht immer leicht gefallen ist.

(…)

 

 

 

In seiner Münchner Rede zur Poesie

stellt sich Jakob Hessing die Gretchenfrage: „Wie hast du’s mit der Poesie?“ Bei dem Versuch, eine Antwort auf diese Frage zu finden, blickt er zurück und erzählt von Gedichten und Texten der deutsch-jüdischen Tradition, die ihn durchs Leben begleitet haben und die ihm immer noch existenzielle Fragen stellen – auf der Grenze zwischen Berlin und Jerusalem, zwischen dem Deutschen und dem Hebräischen. Die autobiografische Suche führt Hessing aber auch an eine Grenze, die für ihn innerhalb der hebräischen Sprache verläuft: zwischen ihrer profanen und ihrer heiligen Dimension.

Stiftung Lyrik Kabinett, Klappentext, 2018

 

Beiträge zu diesem Buch:

Kristian Kühn: Entdecken und Verhüllen in der Sprache
signaturen-magazin.de

Walter Fabian Schmid: Zu Jakob Hessings Poesierede
poetenladen.de, 11.7.2018

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + Archiv + Internet Archive

 

Jakob Hessing spricht u.a. über sein Buch Der jiddische Witz.

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