Ruth Klüger: Zu Else-Lasker Schülers Gedicht „Jakob“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Else-Lasker Schülers Gedicht „Jakob“ aus Else-Lasker Schüler: Sämtliche Gedichte. –

 

 

 

 

ELSE LASKER-SCHÜLER

Jakob

Jakob war der Büffel seiner Herde.
Wenn er stampfte mit den Hufen,
Sprühte unter ihm die Erde.

Brüllend ließ er die gescheckten Brüder.
Rannte in den Urwald an die Flüsse,
Stillte dort das Blut der Affenbisse.

Durch die müden Schmerzen in den Knöcheln
Sank er vor dem Himmel fiebernd nieder,
Und sein Ochsgesicht erschuf das Lächeln.

 

Der Erfinder des Lächelns

Die Hebräischen Balladen Else Laske-Schülers, 1913 erschienen, sind hebräisch nur insofern, als sie sich auf ein auch außerhalb des hebräischen Sprachbereichs nicht unbekanntes Buch, nämlich die Bibel, beziehen. Balladen sind sie nur insofern, als sie auf Legenden anspielen, die die Dichterin aber nicht nacherzählt, wie es etwa Thomas Mann mit demselben Material in seinen Joseph-Romanen tut. Sie nimmt die biblischen Gestalten vielmehr aus ihren Zusammenhängen wie Puppen aus Schaufenstern heraus, kleidet sie neu ein, stülpt ihnen Masken auf, verfremdet sie probeweise.
Eine Tiermaske für den Erzvater Jakob, der Hirtenpatriarch als Alpha-Tier der Herde. Er, der Ehrwürdige, wird zum Büffel degradiert. Der Mann als Urtier im Patriarchen? So ließe sich die erste Strophe noch als eine Art Reverenz vor urtümlicher Männlichkeit lesen. Doch gleich danach wird es brenzliger. Die „gescheckten Brüder“ erinnern an die nicht ganz lautere Zeugungsmanipulation, durch die sich der junge Jakob einen Großteil von Labans geschecktem Viehbestand aneignete. Zu diesem Viehbestand gehört er nun selbst im Gedicht.
Der biblische Jakob ist der große Liebende unter den Erzvätern, der die zu Recht berühmte, zweimal siebenjährige Geduldsprobe einer Brautwerbung bestand. Doch die Affenbisse, die er im Gedicht im Flußwasser kühlt, sind kein Sinnbild einer edlen Leidenschaft, eher einer verächtlichen, zumindest lächerlichen Sinnlichkeit: Der geile Affe ist seit je ein Gemeinplatz in Kunst und Literatur.
Von den stampfenden Hufen der ersten Strophe, die immerhin die Erde zum Sprühen brachten, kommen wir in der dritten zu den prosaischeren und zudem müde schmerzenden Knöcheln unseres Helden. Jakobs Schmerzen? Aber die rührten doch vom Kampf mit dem Engel und der dadurch verletzten Hüfte, höchste Auszeichnung des himmlisch Auserwählten? Vor dem Himmel sinkt auch unser knöchelmüdes Jakobstier nieder, und zwar mit einem humorvollen und originellen Reim, „Knöcheln“ auf „Lächeln“. Rückblickend fallen uns die anderen beiden unreinen Reimpaare auf, nämlich „Brüder/nieder“ und „Flüsse/Bisse“. In diesem Gedicht geht nichts rein auf, auch nicht die Reime, die schon gar nicht.
Schließlich vertauscht die Dichterin in der letzten Zeile Ochsen und Büffel, wohl weil ein Rindviehgesicht wie das andere aussieht. Dieser endgültigen Verunglimpfung folgt jedoch unvermutet die Rückverwandlung ins Menschliche. Indem sich auf Jakobs Tiergesicht ein Lächeln, vielleicht das erste überhaupt (es heißt ja, er „erschuf“ es), abzeichnet, steht er wieder an einem Anfang, ist wieder unsereiner. Denn kein Tier kann lächeln. Zwischen dem ersten Wort, seinem Namen, und dieser überrumpelnden, schwer vorstellbaren Mundverzerrung am Ende war die Würde des Patriarchen, die Manneswürde und wohl auch die Menschenwürde schlechthin, durch eine Tiermaskerade in Frage gestellt worden. Die Anspielungen verunsicherten den Autoritätsanspruch des Bibeltextes. In der letzten Zeile findet beschwichtigend eine Menschwerdung statt.
„Jakob“ führt exemplarisch die methodischen Eigenarten seiner Dichterin vor. Durch das Vexierspiel mit Maskierung und Verkleidung fallen Streiflichter auf Geschlecht und Charakter. Das überraschende Auswechseln bekannter Begriffe führt durch Staunen zum Erkennen. In Spiel und Anspielung, in unverbindlichem Experimentieren mit Sprache und Kulisse, sehen wir heute wieder das eigentlich Literarische, das überdies eine soziale Funktion ausübt, dort wo es die festgefahrenen Räder der Tradition ins Rollen bringt. Die Lyrikerin Else Lasker-Schüler ist gerade dort ernst zu nehmen, wo sie sich als Meisterin im Nichternstnehmen kostümiert.

Ruth Klügeraus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Siebzehnter Band, Insel Verlag, 1994

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