Jewgeni Jewtuschenko: Mit mir ist folgendes geschehen

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Jewgeni Jewtuschenko: Mit mir ist folgendes geschehen

Jewtuschenko-Mit mir ist folgendes geschehen

MAJAKOWSKI IN AMERIKA

Ihm nach
aaaa  a  aatrabte
aaaaaaaaa a  aaastraßenweis
aaaaaaaaaaaaa   a aaaaaaaaastets ein Spion –
das war dortzulande der Auftakt:
„Er kommt grad aus der Sowjetunion,
gewiß in geheimem Auftrag!“
Er sah hier:
aaaaaaaa aaDer Daseinswert
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaasinkt immer doller,
Erwerbslosenlos –
aaaaaaaaaaaaaaa awelch ein Graus!
Er schritt durch das Land des „allmächtigen“ Dollar,
den Haß
aaaaa a ageballt
aaaaaaaa  aaa aain der Faust.
Im Kampf nur, erkannt er, läßt das sich begreifen.
Da gab es für ihn
aaaaaaaaaa aaaaakein Zurück.
Er prüfte
aaaa aaaadie Strophen-Patronenstreifen:
je Strophe
aaaaaa aaaPatronen vier Stück.
Da, vor ihm, ein Vortragssaal, riesengroß.
Er musterte
aaaaaa aaaadas Gewimmel.
Den Lärm, der nicht nachließ,
aaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaadurchfuhr ein Stoß
granatengleich:
aaaaaaaaaaa aaseine Stimme.
Dem Donnerer
aaaaaaaaa aaaawurde all der Applaus,
den Händekraft hergeben kann.
Die Docker
aaaaaaaaaasagten von ihm
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaagradheraus:
„Unser
aaaaa aMann!“
… Dem Hudson gleich
aaaaaaaaa aaaaaaaaaaflutet die Zeit,
kreist
aaaaasamt dem Planeten –
wer
aaaatrat
aaaa aaadas Gerücht
aaaaaaa aaaaaaaaaaadenn breit,
nicht gebs den Poeten?!
Gestern erst
aaaaaa aaaaaist er aufgeragt,
wie
aaadie Feindwelt auch kläffte.
Hat Detroiter
aaaaaaaaaaaaKommunisten
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaagesagt:
„Verdreifacht
aaaaaaaaaaaadie Kräfte!“
Tod?!
aaaaaTrotz den
aaaaaaaaaaaaaain Gerüchte
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaVerrannten –
kein Sein währt so lang
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaawie das seine.
Heut
aaaaaist er
aaaaaaaaaaals Heerbann von Demonstranten,
als
a a ganz New York
aaaaaaaaa   aaaaaaauf den Beinen.
Er stampft durch Florida,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaer eilt nach Frisko –
Gangart
aaa   aaavon wuchtigstem Schlage.
Mit einemmal
aaaaaaaaaaaaain Ohio ist er
und schon
aaaaa aaaain Chikago!
Solln sie’s verbieten!
aaaaaaaaaaaaaa aaaaEr macht seine Märsche
allem und jedem zum Trotz.
Vorstürmt sein Wort,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaller Herzen Beherrscher –
den hemmt
aaaaaaaaaanicht Schranke
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaanoch Klotz!
Welcherlei Menge
aaaaaaaaaaaaaaaaauch lauscht
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaseinem Baß,
wo er auch immer erschiene –
Hydeparkbank
aaaaaaaaaaaaaund ein umgestülpt Faß
werden
aaaaa asogleich
aaaaaaaaaa  aaazur Tribüne!

 

 

 

Der Dichter der Sowjetjugend

Im Sommer 1956 sah und hörte ich ihn zum erstenmal, nachdem ich von ihm nicht viel mehr gesehen als ein paar auffallend kühne, schöne Gedichte in sowjetischen Zeitschriften… und dabei nicht viel mehr gehört, als daß er auf Deibel komm raus ein Frondeur, ja Poseur sei. An jenem Sommerabend war eine Aussprache in einem Zimmer des Moskauer Schriftstellerklubs, der ich hatte beiwohnen wollen, ausgefallen; dafür fand ich den damals größten Raum des Klubs, einen Saal, der immerhin an die dreihundert aufnahm, voll von jugendlichen Gästen der Lyrikersektion, von angehenden Lyrikern oder von Lyrikliebhabern, meist Studentinnen und Studenten der Literaturhochschule. Am Vortragspult stand ihr ehemaliger Kommilitone Jewgeni Alexandrowitsch Jewtuschenko und trug Verse aus seinem grade druckfertigen dritten Gedichtbuch, Chaussee der Enthusiasten, auswendig vor; seine beiden ersten Gedichtbücher, Schürfer der Zukunft und Dritter Schnee, waren längst vergriffen, nachdem die einheimische Presse sie so zwiespältig wie nur möglich besprochen hatte: mit starkem Lob der dichterischen Qualität und noch etwas stärkerem Tadel der angeblichen „Kritiksucht um jeden Preis“. Die Nichtübereinstimmung zwischen Presse und Publikum in diesem Fall trat nun im großen Klubsaal zutage. Sogar ausdrücklich und ausgesprochen. Denn es gab nicht nur stürmischen Applaus der Hörerschaft nach buchstäblich jedem Gedicht und nicht nur größtenteils lobende Diskussionsreden, sondern auch ein Schlußwort der Veranstaltungsleiterin, der Dichterin Veronika Tuschnowa, mit der betonten Versicherung, dieser Abend habe stattgefunden, um eine böswillige Pressekritik am Buch Dritter Schnee zu entkräften.
Anfang 1958 hatte ich an der gleichen Stätte das gleiche Erlebnis mit dem nunmehr vierundzwanzigjährigen Dichter; nur war der große Klubsaal diesmal nicht voll, sondern dermaßen übervoll, daß berittene Miliz die Zugänge abriegeln mußte. Und was damals Veronika Tuschnowa zur Verteidigung seines zweiten Gedichtbuchs gesagt hatte, das sagten nun Pawel Antokolski, Semjon Kirssanow, Sergej Michalkow und andere Koryphäen der sowjetischen Dichtkunst, die sich zugleich stolz seine Lehrmeister nannten, von seinem jetzt bereits zur Debatte stehenden vierten Gedichtbuch mit dem schönen Titel Verheißung… Seither sind vier Jahre vergangen und fünf neue Bücher Jewtuschenkos in der Sowjetunion erschienen und vergriffen: Bogen und Leier (Gedichte über Grusien und Nachdichtungen grusinischer Dichter, 1959), Verse verschiedener Jahre (1959), Der Apfel (1960), Eine Handbewegung (1962) und Zärtlichkeit (1962). Längst kennt man ihn in der ganzen Sowjetunion. Und nicht nur dort. Gedichte von ihm sind ins Bulgarische, Englische, Italienische, Polnische, Rumänische, Tschechische und in andere Sprachen, auch in die vieler sowjetischer Nationalitäten, übersetzt. Die vorliegende Sammlung ist die erste deutsche Übertragung seiner Gedichte in Buchform. Indes geht das Für und Wider um ihn pausenlos weiter.
Wer ist er? Woher kommt er?
Geboren am 18. Juli 1933 in Sima im sibirischen Gebiet Irkutsk, hat er vom vierzehnten Lebensjahr an in einem Kolchos, dann in einem Sägewerk gearbeitet, 1948 und 1950 als Teilnehmer geologischer Schürfexpeditionen Kasachstan und den Altai bereist, ist unter anderem als Vorarbeiter tätig gewesen. 1951 bezog er die Literaturhochschule des Sowjetischen Schriftstellerverbandes in Moskau. Im Jahre 1949 erschienen seine ersten Gedichte in der Zeitung Sowjetski Sport. Seitdem gehört er zu den ständigen Mitarbeitern bedeutender Blätter wie der Komsomolskaja Prawda, der Literaturnaja Gaseta, führender Zeitschriften wie Nowy Mir, Oktjabr, Molodaja Gwardija, Junost, Ogonjok, Smena und vieler anderer Periodika. Seine Bücher nannte ich schon. Eine womöglich noch größere Popularität als durch diese Veröffentlichungen hat er durch seine öffentlichen Rezitationen erlangt. Als Mitglied des Komsomol ist er vor allem in Kontakt mit der Jugend gekommen; aber das glühende Interesse für sein Schaffen, auch für seine vorerst seltene essayistische und novellistische Prosa (Aufsätze über Puschkin und Schewtschenko, die Reiseskizze 18 Tage in England, die Erzählung Die Straße), hat sich längst der Leser aller Altersstufen bemächtigt. Den Radius seiner eigenen Interessen haben seit Ende 1960 längere Auslandsreisen beträchtlich erweitert: Er weilte nicht nur als Tourist in Bulgarien, Frankreich, Spanien, Nordafrika und England, sondern auch als Prawda-Berichterstatter und Filmautor in Kuba, von wo aus er Abstecher in die USA unternahm, und als Ehrengast in Helsinki bei den Weltfestspielen der Jugend und der Studenten.
Woher seine Anziehungskraft? Woher seine Umstrittenheit?
Das Dichtertum Jewgeni Jewtuschenkos ist eine Synthese aus Jessenins sinnlich-besinnlicher Wortmelodik und Majakowskis sittlich-gewittriger Dreieinigkeit Tribunat / Tribunal / Tribüne. An Majakowski gemahnt schon sein Äußeres und zweifellos auch seine ästhetisch-ethische Selbstbewertung. Sofort mußte ich an Jewtuschenko denken, als ich bei Lunatscharski über Majakowskis Selbsteinschätzung das Folgende las:

Sehr oft finden sich bei Majakowski Selbstdefinitionen, Selbstporträts, die besagen, er, Majakowski, sei von zu großem Kaliber für die Umwelt, in der er zu leben habe. Er gebraucht dies Wort ,groß‘ etwas doppelsinnig. Einerseits geht es einfach darum, daß er, Majakowski, ein Mensch von sehr großem Wuchs, eine physisch große Gestalt ist; dem entsprechen anderseits auch seine geistigen Eigenschaften: die Reichweite seines Bewußtseins, seiner Leidenschaften, seiner Anforderungen an das Leben, seiner Schaffenskräfte; sie passen ihrem Kaliber nach gleichfalls nicht zu seiner Umwelt. Es ist sehr bezeichnend, daß hier ,Größe‘ und ,Großförmigkeit‘ in seiner Vorstellung zu einer Einheit verschmelzen. Für ihn sind diese seine Eigenschaften, diese seine Gedanken, diese seine Unzufriedenheit, diese seine Hoffnungen, diese seine Verzweiflung überhaupt nicht ein Hirnerzeugnis, sie kreisen bei ihm nicht irgendwo in den ,Empirien des Bewußtseins‘; es ist dies etwas von seinem Körper, es geht dies in seinem reckenhaften Organismus vor. Majakowski war Materialist: Alles Irdische, Körperliche, von heißem Blut Umspülte, von unmittelbarer Daseinsgier Erfüllte, all das empfand er mit größter Stärke und empfand es als Majakowski-Organismus und als diesem Organismus entsprechende Majakowski-Psyche.

Um auf Jewtuschenko anwendbar zu sein, müßte dies Zitat lediglich statt des Namens Majakowski überall seinen Namen enthalten. Dann wäre nur noch das Wörtchen „reckenhaft“ zu modifizieren: Majakowskis physische Größe ging auch in die Breite, während Jewtuschenko zwar eine „lange Latte“, aber zugleich eine Gerte ist. Und Fußball-Mittelstürmer! Und toller Moskwitschfahrer! Diese scheinbar literaturfernen Dinge darf man nicht außer Betracht lassen, will man die Ursachen seiner Anziehungskraft auf die Jugend vollzählig erfassen. Ihm eignet all das Gärende und sich Klärende, Wilde und Milde, Wuchtvolle und Zuchtvolle, das die Generation kennzeichnet, die in den Planjahrfünften des sozialistischen Aufbaus groß wurde. Es spricht nur für diese Jugend, daß ihr als nacheifernswerteste Helden jene vorschweben, die den Winterpalast und den Perekop erstürmten, Großtaten der Industrialisierung und Kollektivierung vollbrachten und hernach unter den Auswirkungen des Personenkults um so tiefer, um so schmerzlicher litten… Im Grunde ist die Geisteshaltung des Typus Jewtuschenko (und als Typus, keineswegs bloß als Individuum, ist diese Erscheinung sozial ja so bedeutsam) von vornherein auf die große Luftreinigung eingestellt, die mitsamt dem Sowjetvolk die ganze revolutionäre Bewegung dem XX., vollends dem XXII. Parteitag der KPdSU verdankt.
So betrachtet, steht es um die Sache der Widersacher Jewtuschenkos nicht eben gut. Sie selber sind im höchsten Grade kritikbedürftig. Den Gouvernanten beiderlei Geschlechts, die beispielsweise sein Gedicht „Du flüstertest so blaß, schwach, schwer“ schon wegen des Sujets anstößig finden, weil sie da der Gefühlsdialektik nicht innewerden, ja die Intimität der Humanität als Frivolität mißdeuten – solchen ist schwerlich zu helfen. Ebensowenig wie den Dogmatikern, die etwa das jüdische Problem für bestens gelöst halten, wenn sie’s für gelöst und die Debatte darüber für geschlossen erklären, um just eines Russen und Internationalisten so tiefe Einfühlung in jüdisches Leid, wie sie aus dem ergreifenden Gedicht „Babi Jar“ spricht, ausgerechnet als nationalistisch zu verdächtigen und zu verdonnern. Diese Art Verkanntheit durch Zeitgenossen teilt Jewtuschenko gleichfalls mit Majakowski.
Seine Abkunft von ebendiesem ist ohnehin unverkennbar; so packen den Leser wie den Hörer die Verse „Das Ausrufzeichen“ durch die gleiche Einheit von sowjetpatriotischem und internationalistischem Pathos wie die schon klassischen „Verse vom Sowjetpaß“. Und dies, ohne die unnachahmlichen Neuererzüge des Jüngern, der eben nicht bloß ein Jünger ist, zu verleugnen.
Mit der Schwierigkeit des Nachgestaltens dieser unnachahmlichen Züge hat es der Jewtuschenko-Nachdichter aufzunehmen. Können schon die Nachdichtungen aus Majakowski bloß einen Abglanz des Leuchtkugelfalls seiner Wort- und Reimspiele bieten, so gilt das erst recht für die Nachformung des gradezu so benannten „Jewtuschenko-Reims“, welcher meist bis in die viertletzte, oft bis in die fünft-, ja sechstletzte Silbe des Verses zurückreicht, überdies durch Binnen- und Stabreim gestützt wird (und mit alledem Schule macht bei der jüngeren sowjetischen Dichtergeneration). Zwar hat Jewtuschenko selber als Übersetzer sich zur erdenklich größten nachdichterischen Freiheit bekannt. Man lese sein Gedicht „Vom Nachdichten“ (1959):

Nicht schlimm, wenn man frei übersetzt.
So frei sein dürfen die, die lieben.
Doch wenn sie die Musik wegschieben,
wird aller Sinn zu Brei gefetzt.

Nicht Fälschermurks, selbst eleganten,
nein, Dichterodems freien Hauch!
’s gibt die Exaktheit der Pedanten,
doch die der Schöpfer gibt es auch!

Pedantentum – sich selbst verzehrs!
Mehr Freiheit, mehr Musik herbei!
Ich glaube einzig an den Vers,
nicht an Herübersetzerei!

Aber befugt zu derart weit reichender Freiheit ist der Nachdichter nur, wenn er sich dem Originaldichter im Hinblick nicht bloß auf die Originalität so ebenbürtig weiß wie Lermontow als Nachdichter Goethes und Heines, Rilke als Nachdichter des Igor-Lieds, George als Nachdichter Baudelaires, Marschak als Nachdichter Burns’ und, last but not least, Jewtuschenko als Nachdichter bedeutender, doch ihm nicht überlegener burjatischer, grusinischer und kasachischer Zeitgenossen. Als deutscher Jewtuschenko-Nachdichter maße ich mir dies Recht nicht an; ich habe mich vielmehr, allen Sprachhindernissen zum Trotz, um die äußerste Treue auch zur Sprachgestalt des Originals bemüht. Jewtuschenkos deutscher Leser wird sich also nicht allein an jähen Wechsel des Rhythmus gewöhnen müssen, sondern auch und vor allem an „unreine“ aber klanghelle Reime, die eher dem Ohr eingehn als dem Auge: eben Assonanzen, An-klänge, wie sie einem Tribünendichter grad helfen, Anklang zu finden durch das von ihm doch mehr zu sprechende als zu mimende Wort. Kurz, der deutsche Leser wird grade die ihn zunächst am stärksten befremdenden Reimfügungen („mitternächtig/mit ermächtigt“, vollends „Maxim und… Marxismus“) als die relativ gelungensten hin- und annehmen müssen.
Das vorliegende Bändchen ist eine bescheidene, aber hoffentlich eindrucksvolle Auslese aus neun russischen Gedichtbüchern Jewtuschenkos, auch aus seinen Zeitschriftenzyklen. In chronologischer Folge – damit die Reinheit dieses jungen Dichterlebens und -werks in seinem Werden und Wachsen veranschaulicht sei. Eben das ist von höherem als nur literarischem Wert: von kulturpolitischem, kulturgeschichtlichem. Bedeutet die Wiederherstellung der leninschen Verhaltensnormen im staatlichen und gesellschaftlichen Leben des ganzen sozialistischen Lagers zugleich das Wiedererstehen des Leninschen Ethos auch in der Kunst, so ist eine Verkörperung dieses Ethos in der Verskunst eben Jewgeni Jewtuschenko, der Dichter der Sowjetjugend aller Lebensalter.

Franz Leschnitzer, 1951, Vorwort

 

Um ihn ist Unruhe.

In ihm sind Widersprüche. Heiße Eisen ziehen ihn an. Er provoziert. Er ist Mittelstürmer nicht nur beim Fußballspiel. Wenn er in Moskau aus bekannten und unveröffentlichten Dichtungen liest, ist der Andrang so groß, daß die Miliz Ordnung schaffen muß.
Als er nach England fuhr, kündigte ihn die Presse als den „russischen zornigen Mann“ an. Man erwartete Sensationen. Er lieferte sie, indem er berichtete, daß sein neues Buch Eine Handbewegung in einer Auflage von 100.000 Exemplaren herausgebracht worden sei; daß er in der Tat verfolgt werde: von Zeitungen und Zeitschriften, die ihn um Beiträge, von Betrieben und Klubs, die ihn um Lesungen ersuchen…
Was ist das Geheimnis dieses Neunundzwanzigjährigen? Warum zieht er die sowjetische Jugend so magnetisch an? Weil er kompromißlos ehrlich ist. Weil er sich nicht scheut, das Schwierige, Umstrittene aufzugreifen. Weil er alles ausspricht, was diese Jugend erregt, beunruhigt und begeistert – in Versen, die eine seltsame Mischung von unverblümtem Draufgängertum und formalem Raffinement sind, Versen, die von zarter Verhaltenheit, vom Ausdruck persönlichster Gefühle, von Enttäuschung, Einsamkeit und Depression bis zum beißend-sarkastischen Angriff, zum echten Pathos, zum Ringen um große Probleme reichen. Aber so herausfordernd und widerspruchsvoll das Werk dieses jungen Lyrikers sein mag, er wurzelt mit jeder Zeile in der entschlossenen Bejahung einer Lebensform, die ihn sagen läßt:

… und muß ich
auf der weiten Welt mal sterben,
sterb’ ich vor Glück darüber,
daß ich bin.

Verlag Volk und Welt, Klappentext, 1963

 

 

SENTIMENTALER MARSCH
Für Jewgeni Jewtuschenko

Dein Name ist Hoffnung. Ich kehre zurück, sobald der Hornist zum Rückzug bläst, sobald er das Horn an die Lippen setzt und den Ellenbogen spitz angewinkelt zur Seite führt. Ich bleibe heil: Nicht mir ist es bestimmt, in der feuchten Erde zu liegen, auf mich warten deine Unrast und die gütige Welt deiner Sorgen. Doch wenn eine Ewigkeit vergangen ist und du müde wirst zu hoffen, wenn bereits der Tod seine Flügel über mir ausbreitet, dann befiehl, o meine Hoffnung, daß der verwundete Hornist sich aufrichtet, damit sein Signal mich davor bewahrt, noch von der letzten Granate zerrissen zu werden. Und schlägt mir dennoch einst die Stunde, dann soll es nicht darauf ankommen, welche neue Schlacht gerade den Erdball erschüttert: Ich werde allem zum Trotz im Bürgerkrieg gefallen sein, in jenem fernvergangenen Bürgerkrieg, und es werden seine Kommissare sein, die sich mit ihren staubigen Helmen schweigend über mich beugen.

Ich kehr zurück, ich kehr zurück,
ich weiß, daß ich nicht fallen werde!
Wenn der Hornist den Arm anwinkelt
und gibt zum Sammeln das Signal,
dann kehr ich heim, dann kehr ich heim!
Nein, mich begräbt noch nicht die Erde!
Du gute Welt, zu sehr erregt mich
noch deine Kümmernis und Qual!

Doch währts noch lang, ach noch so lang,
daß meine Zuversicht entschwindet,
wenn Todesflügel mich umwehen,
dann hilf mir, Hoffnung, aus der Not!
Befiehl, befiehl, daß der Hornist
erhebt den Arm trotz seiner Wunden,
bevor die letzte Handgranate
am Ende mir noch bringt den Tod!

Doch muß ich einst in spätrer Zeit
im Kampf mein Leben nochmals wagen,
dann soll es sein im Kampf der Klassen,
dem Krieg, der wahren Ruhmes wert!
Dann will ich in der letzten Schlacht,
der Freiheitsschlacht der Völker fallen,
von unsren greisen Kommissaren
als tapferer Soldat geehrt!

Bulat Okudschawa
Nachdichtung: Martin Remané

 

 

Fakten und Vermutungen zum Übersetzer

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + Kalliope
Porträtgalerie: Brigitte Friedrich Autorenfotos + Keystone-SDA +
deutsche FOTOTHEK

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Lothar Müller: Poesie mit Schiebermütze
Süddeutsche Zeitung, 18.7.2013

Hans-Dieter Schütt: Sowjetischer Schlawiner
neues deutschland, 18.7.2013

Nachrufe auf Jewgeni Jewtuschenko: NZZ ✝ SZ ✝ nd ✝ WSWS ✝
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