Jürgen Brôcan: Ritzelwellen

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Jürgen Brôcan: Ritzelwellen

Brôcan-Ritzelwellen

DER BIOGRAPHIENSAMMLER

es ist nicht nur der Zeitgeiz, den uns der Körper
vorführt, sondern auch das zerrende Gefühl
von Mangelernährung – daß man sich nicht
genug ist, in dieser Kosmossekunde –
zerquetscht von den opaken Blöcken vor einem

und nach einem – meist hilft eine Transfusion,
das Anzapfen anderer Leben – im Regal
stehn sie, in festem Umschlag und ohne
feste Ordnung – so daß sich begegnet,
wer sich nie traf und nicht hätte leiden können –

Heinrich Schütz singt sein letztes Magnificat –
Philip K. Dick verflucht Gott, beim Tod
seiner Katze – so oder so ist es am Ende
immer zu wenig, niemand weiß, wie-
viele kunstvoll geritzte Baumrinden moderten –

wieviele verborgene Höhlengalerien insgeheim
verschüttet wurden – welche Sandbilder
verwehen – Skulpturen durch religiösen
Wahn fielen – niemand weiß, wer das
Wenige erschuf, das überlebte durch die Jahr-

tausende – und irgendwann ist auch die Sprache
dieses Gedichts unverständlich, vergessen
von einer Menschheit, die worum kämpft:
noch immer um Ideen? – um Wasser
und Raum? eine Menschheit von welcher Haut-

farbe – welcher Schädelform? – unzivilisiert? –
cyborgisch? – irgendwann ist keiner da,
der sich diesen Mann vorm PC ausmalt,
was er aus dem Fenster sah, was ihn
quälte aus Nachbarschaft und seinem Land –

irgendwann erinnert sich der Planet nicht mehr
und irgendwann vergißt sich die Galaxie,
Licht aus! – ihr Sonnen – schlaft ruhig –
es ist so, wie Edward Elgar sagte:
„Ich glaube, da ist nur völliges Vergessen.“

(selbst der smaragdene Amazonas konnte sein
nobles Feuer nicht wieder erwecken.) – er
hätte sich nie vorgestellt, daß die Skizzen
und nachgelassenen Ideen zu seinen
besten Werken zählen würden – vervollständigt

von fremder Hand – deshalb spende ich, selten,
doch jetzt öfter, selbst etwas Blut –: Spät-
nachmittag mit eingebautem Farbwechsler,
schneller als ich wen anrufen könnte,
daß er den Beweis sieht: Sintflutgrau, Spektral-

licht – diskolorierte Birke, ihr korallenbleicher
Schopf, im Wind trocknend – tagtraum-
farben, substanzielle Luft, grimmgelb –
(da kneift die Sprache, kein Wort
schafft, was dem Eichhornpinsel leichtfällt).

 

 

Ritzelwellen

Die Poesie, sagt Jean-Pierre Siméon sinngemäß, ist der ständige Aufstand des Bewusstseins gegen das Vergessen. Gedichte sind deshalb unersättlich neugierig, sie möchten sich am liebsten alles (und alles auf einmal) einverleiben. Vielleicht wurden Reim und Metrum nicht nur zum Beweis der Kunstfertigkeit erfunden, sondern auch, um diese Neugier zu bändigen. Dass tiefste Bedeutungen in wenigen Silben Platz finden können, haben die chinesischen und japanischen Dichter gezeigt. Das globale Gedicht sucht den großen Zusammenhang. Doch wieviel passt hinein, ohne dass man Unförmigkeit oder Unverständlichkeit riskiert? Und nach welchem Maß? Das Gedicht sollte beweglich und verständlich bleiben und sich gleichzeitig gegenüber Leserinnen und Lesern, die mehr ,Tiefenschichten‘ suchen, offen zeigen.

Jürgen Brôcan

 

Beiträge zu diesem Buch:

Timo Brand: Diesseits des Weltgehalts
signaturen-magazin.de

Monika Vasik: Im grünen Adieu-Licht
fixpoetry.com, 28.12.2020

 

 

Im Gespräch: Timo Brandt redet mit dem Autor Jürgen Brôcan

Die Dankesrede des Dortmunder Autors Jürgen Brôcan zur Verleihung des Literaturpreises Ruhr 2016 in Gladbeck.

 

Fakten und Vermutungen zum Autor

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Jürgen Brôcan

 

Jürgen Brôcan liest den Gedichtzyklus HALDENHUB am 20.2.2022 im Museum für westfälische Literatur – Kulturgut Haus Nottbeck.

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