Jürgen Fuchs: Poesiealbum 356

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Jürgen Fuchs: Poesiealbum 356

Fuchs/Rub-Poesiealbum 356

PAPIER IST SCHNELL
Beseitigt:

Zerrissen
Zerschnitten
Zerknüllt

Und dann
In diese Papierkörbe
Geworfen

Aber
Die Worte
In uns

Wohin
Mit ihnen?

Sie sterben doch
Nicht

 

 

 

Jürgen Fuchs

Er irritierte die Kulturdomestiden und Modeschriftsteller sowie das angepaßte Publikum: Der Bürgerrechtler verfaßte schwerverdauliches ,Schwarzbrot‘ und deckte politische Realitäten auf. Das stößt Mißgünstigen noch heute übel auf: Den kunstfernen Mächtigen, die nackt agieren vor dem entlarvenden Spiegel der Kunst und den kunstlosen Lakaien, die ,ihr‘ literarisches Feld ungestört mißbrauchen wollen. Fuchs’ Gedichte decken auf.

Ankündigung in Rolf Haufs: Poesiealbum 355, MärkischerVerlag Wilhelmshorst, 2020

Stimmen zum Autor

Seine Literatur ist Sprachkunst mit dem „Blick der kleinen Bahnstationen“, emotionale Nahaufnahme des einzelnen Lebens im Sozialismus, dokumentarische Poesie. Die Texte belehren nicht, aber sie vergrößern die Augen. Seine Erfahrungen haben sich ihn zum Autor genommen. Das Thema hat ihn gewählt, nicht umgekehrt.
Herta Müller

Er war schon als Jüngling umgeben von einer Aura, wie sie mir so nie wieder bei Menschen seines Alters begegnet ist, eine geradezu gläserne Lauterkeit, etwas Unbeirrbares… Da wurde ein Kompaß sichtbar, ein Steuerstrich, der nicht abwich von der einmal eingeschlagenen Richtung.
Ralph Giordano

Ja, noch radikaler als reden kann er zuhören, und noch radikaler als zuhören kann er sich verhalten. Er verhält sich so, daß seine Freunde sich ihm öffnen können, daß seine Feinde sich entblößen müssen.
Wolf Biermann

Härte, Ironie, Beharrlichkeit, Wissen, innerste Teilnahme, sprachliche Kraft – Jürgen Fuchs ist wahrscheinlich der einzige weit und breit, der die Sache (um nicht zu sagen „das Thema“) erfassen und beschreiben kann. Ich erfahre mehr, als aus allen möglichen „Sachdarstellungen“.
Hans Joachim Schädlich

Er ist unter den berühmten und von vielen verehrten doch einer der unbekanntesten Autoren dieser Republik.
Lutz Rathenow

Ich war beeindruckt von Jürgen Fuchs’ persönlichem Mut: Er hatte nicht nur neun Monate Gefängnis mit hochintensiven Verhören hinter sich gebracht, sondern war auch das Wagnis eingegangen, aus dieser existentiell bedrohlichen Situation fast ohne Kommentare einen literarischen Text zu schaffen.
György Dalos

In ihm spürte man Freude und Entschlossenheit. Es gibt Leute, die, um das metaphorisch zu sagen, vor der Entscheidung stehen und solche, die sie schon hinter sich haben; seine Entscheidung lag in der Vergangenheit, er hatte die Prüfung bestanden.
Adam Zagajewski

MärkischerVerlag Wilhelmshorst, Klappentext, 2020

Poesiealbum 356

Fuchs’ künstlerische Sicht auf die reale Welt nannte die Literatur-Nobelpreisträgerin Herta Müller den „Blick der kleinen Bahnstationen“. Mit diesem Heft liegen zum ersten Mal seine Gedichte und Poeme, die dem Diktum der bis zu seinem Tod befreundeten Dichterin standhalten, als ein essentieller Querschnitt seines lyrischen Schaffens vor.

MärkischerVerlag Wilhelmshorst, Klappentext, 2020

 

Die unbeirrbaren Gedichte von Jürgen Fuchs

in einer einfühlsamen Auswahl

Verdient hatte es Jürgen Fuchs schon lange. Jetzt hat Utz Rachowski ein Poesiealbum mit seinen Gedichten und Poemen zusammengestellt, die dem Herausgeber auch deshalb sehr vertraut sind, weil er Ähnliches erlebt hat. Gefängnis und Verhöre sind auch an Jürgen Fuchs nicht spurlos vorübergegangen, der 1999 im Alter von 48 Jahren starb. Auch weil ihm die Stasi auch noch im Westen zusetzte. Einige der Gedichte stammen direkt aus den Stasi-Unterlagen.
Sie erzählen von der Einsamkeit und Zerrissenheit des Eingesperrten, dessen Gefühle mit den erfahrenen Widersprüchen nicht zurechtkommen – draußen geht das ganz normale Leben weiter, spielen die Kinder, läuft die Geliebte, steht noch immer „dieses Haus, aus dem sie mich holten“, an das er später wieder denkt „In einer Fremde / Die meine Sprache spricht /“. Und doch nicht spricht.
Die Dissonanz bleibt. Denn weg wollte er genauso wenig wie seine Freunde Gerulf Pannach und Christian Kunert. Sie wurden zwangsausgebürgert. 1976. Dem Jahr, als das Ende der DDR begann, weil ihre Machthaber damit auch jene Generation endgültig verrieten, die in diesem Land aufgewachsen war und es (mit)gestalten wollte. Und natürlich das immer wieder gepredigte Recht in Anspruch nehmen wollte, mitreden und mitgestalten zu dürfen.
Auch so kann man die DDR und ihr Scheitern betrachten: als Verrat an den eigenen Idealen und der eigenen Jugend. Jürgen Fuchs gehörte zu jenen, die dieses Land verändern wollten – und auch deshalb in die SED eintraten. Und die dann die stupide Wucht eines Apparates erlebten, der längst in seinen Rastern der Feindbilder erstarrt war und so professionalisiert in der Kriminalisierung jeder menschlichen Regung, dass dieser Widerspruch für fühlende Menschen eigentlich nicht mehr zu fassen und auch nicht mehr zu beschreiben war.
So unmöglich zu beschreiben, dass Fuchs auch nach der Ausreise immer wieder vor dem leeren Blatt Papier sitzt und nicht aufschreiben kann, was er doch will und muss. Denn das Land, das er verlassen musste, lässt ihn nicht los, hat sich eingebrannt in seine Erinnerung. Und deshalb wirkt gerade sein Poem „Die Schule“ so wuchtig. Gerade weil es so nüchtern aufzählt, wie das war in der Schule, die Fuchs als ganz normales DDR-Kind durchlief.
Mit all ihren Stereotypen, Fahnenappellen, Schweigen und Kichern, dem Kleinen Trompeter, Kartendienst, Patenbrigade, dem Hausaufgabenheft im „grünen, abwaschbaren Umschlag“. Auf einmal weht die ganze optimistische Tristesse aus den Seiten des Heftes, dieser ganze inszenierte Schöne-Zukunft-Traum in einer abgeschabten und ritualisierten Kulisse.
Wer den Traum ernst genommen hat…
… der landete im Widerspruch, in Akten und einer Welt voller Misstrauen. Der spürte sehr bald, wie ihm selbst im Alltäglichen misstraut wurde. „Ich war ein guter Schüler“, schreibt Fuchs.
In dem Vers steckt mehr Wahrheit als alle Versuche, das Land aus den Wahlergebnissen von 1990 begreifen zu wollen, als sich auch die vielen Mitmacher und Wegducker trauten, „Wir sind das Volk“ zu rufen. Als es nichts mehr kostete und man mit einem Kreuzchen dafür sorgen konnte, dass man sich nicht einmal mehr mit den Brüchen im eigenen Leben beschäftigen musste. All den Verkrustungen, die das Herz verhärtet haben. Nicht nur bei den Apparatschiks. Aber wer hätte darüber schreiben sollen?
Wer hatte diese Distanz? Die im Osten erwachsen Gewordenen ja auf keinen Fall. Und so erzählen viele der Gedichte, die Fuchs nach der Ausweisung schrieb, von der Unmöglichkeit, das Erlebte loszuwerden. Selbst „Die Fassade meiner Straße“ ist ihm noch so präsent, dass er sie aus der Erinnerung detailliert beschreiben kann. Und was er vergessen glaubte, schicken ihm die Eltern mit der Post.
Und auch die Erinnerungen an Worte und Großmäuligkeiten sind noch präsent. Der kleine, allgegenwärtige Faschismus („Wir haben den Krieg verloren…“) und der ebenso alltägliche Rassismus, verbunden mit einer groben, zutiefst verletzenden Sprache („Polacken / Grobzeug, Proleten“) sind noch da. Sie lassen den Mann vor dem leeren Blatt Papier nicht los, so wenig wie dieses Land, an dem er (Stichwort „Heimat“) noch immer mit allen Gefühlen hängt.

Ich schweige nicht
Ich sitze vor leeren Blättern
Das ist kein Schweigen
Ich sitze vor leeren Blättern
ich schreie nicht mehr

„Vielleicht gibt es viele Zuhaus“, schreibt er. Und der Zweifel ist nicht zu überlesen. Denn wer einen Menschen so rabiat aus allem herausreißt, was bisher sein Leben war, der greift die Wurzel all dessen an, was Zuhause ist. Der macht ihn für immer heimatlos, entzieht ihm den festen Boden unter den Füßen. Was vorher nur im Hintergrund, im Hinterzimmer waberte, wird zur existenziellen Not. Eine, die nicht zu Unrecht an Kafkas Geschichten erinnert. Man weiß nicht wirklich, was genau man falsch gemacht hat. Hat man sich denn nicht an alle Anweisungen gehalten, nur angesprochen, was einem wesentlich war? Welche ungeschriebenen Gebote hat man übertreten?

Aber
die Worte
in uns
Wohin
Mit ihnen?

So leise, so vorsichtig und tastend diese Gedichte sind – hier sprechen sie den Riss an, der durch das Land geht. Bis heute. Das Ungesagte und manchmal Unsagbare. Dieser kleine Verrat, der heute selbst in diesem „Wir sind das Volk“ steckt, in dem jetzt das alte, wohlvertraute „Wenn du nicht für uns bist…“ mitschwingt.

Wer mitmacht
Wer tötet
Wer schweigt
Lebt länger, wir muckten auf

Der ganze Widerspruch auf den Punkt gebracht. „,Zersetzungsmaßnahmen‘ stecken in uns“.
Den Gedanken nur noch ein wenig weitergedacht, merkt man, was da 1976 implodiert ist, aufgerissen ist und nie wieder verheilt. Man kann es wirklich so sagen: Der Verrat der Alten an den Kindern. (Weshalb Bettina Wegners Lied „Sind so kleine Hände“ auch so eine Kraft entfaltete, als es leise durchs Land ging.)
Und auch Fuchs schreibt:

Wir sind die Kinder
Wir sind dran

Aber weder die Kinder noch die Enkel kamen dran. Die „Kinder“ wurden gemaßregelt und eingeschüchtert oder aus dem Land gedrängt. Mundtot gemacht. Und sie wurden auch nicht gefragt, als der Laden in sich zusammenfiel.
Ein bisschen schade ist, dass nicht alle Texte eine Jahreszahl tragen. Wenn Jürgen Fuchs das Gedicht „Papier, keine Angst“ schon in den 1970er Jahren schrieb, war er sehr hellsichtig. Auch weil er dieses Volk kannte.

Keine Angst
Das sind nur Kinder
Und Künstler
Die Schönfärber
Kommen später

Und nicht nur die. Auch: „Die Schwarz-Weißen“.
Vielleicht werden künftige Leser/-innen die ganze Wucht dieser Verse nicht mehr verstehen, vielleicht nur noch ein leises Bedauern empfinden, wenn sie die Zeilen über das Gefängnis lesen und diesen Moment im Besucherzimmer:

Immer sehe ich dein Gesicht
Als der Blonde hinter dem Schreibtisch sagte
Die Zeit ist um
Verabschieden Sie sich…

Dieses Ausgeliefertsein. Dieses Gefühl der völligen Machtlosigkeit. Und daneben das Gegenbild, das alles enthält, warum Menschen wie Jürgen Fuchs sind nicht verbiegen lassen wollten:

Und immer sehe ich dich im Gefängnis
Auf Wiesen
Zwischen Kinderwagen
Und Wäscheleinen
Hilflos, ohne Angst…

Es ist eines der treffendsten Bilder für all das, was die jungen Leute fortan ermutigte, sich nicht mehr einschüchtern und mundtot machen zu lassen.
Natürlich kann man fragen: Was bleibt? Natürlich auch diese Gedichte, die davon erzählen, dass ein Land nicht einfach verschwindet, wenn man es per Staatsvertrag abschafft. Es bleibt in den Köpfen, den Erinnerungen und Gefühlen. Und auch in den Verkrustungen und Verkrümmungen, diesem fatalen „Wir“, das immer ein ausschließendes „Wir“ war. Ein Gruppenzwang-Wir.

Schweigen, Getuschel, Achselzucken
Denken Sie an Ihre Zukunft
Dieser Satz

So lernten Kinder sich zu fügen in die ihnen verordnete Zukunft. Oder die Angst zu spüren nur bei dem Gedanken, sie könnten sich ihre Zukunft selbst denken wollen.
So etwas hat Folgen. Auch 30 Jahre später noch, auch wenn Jürgen Fuchs nicht mehr da ist. Aber seine Gedichte sind noch da, sehr nachdenkliche, fast knisternde Gedichte über die verordnete Sprachlosigkeit eines Landes, das niemandem so sehr misstraute wie den eigenen Kindern.

Ralf Julke, Leipziger Internet Zeitung, 6.11.2020

 

Jürgen Fuchs – Lieblingsfarbe eines Dichters

Es kann nicht Sache des Dichters sein, die Menschheit dem Tode auszuliefern. Mit Bestürzung wird er, der sich niemandem verschließt, die wachsende Macht des Todes in Vielen erfahren. Selbst wenn es allen als vergebliches Unterfangen erschiene, er wird daran rütteln und nie, unter keinen Umständen, kapitulieren. Sein Stolz wird es sein, den Abgesandten des Nichts, die in der Literatur immer zahlreicher werden, zu widerstehen und sie mit anderen als ihren Mitteln zu bekämpfen. Er wird nach einem Gesetz leben, das sein eigenes ist, aber nicht für ihn selber zugeschnitten, es lautet:
Daß man niemand ins Nichts verstößt, der gern dort wäre. Daß man das Nichts nur aufsucht, um den Weg aus ihm zu finden, und den Weg für jeden bezeichnet. Daß man in der Trauer wie in der Verzweiflung ausharrt, um zu lernen, wie man andere aus ihnen herausholt, aber nicht aus Verachtung des Glücks, das den Geschöpfen gebührt, obwohl sie einander entstellen und zerreißen.

Elias Canetti: „Der Beruf des Dichters“

 

Ich weiß nicht, ob die Lieblingsfarbe von Jürgen Fuchs Orange war. Ich vergaß zu fragen. Dreißig Jahre lang habe ich Jürgen nicht nach der Farbe befragt, die ihm die liebste war. Die Liebste. „Am schönsten ist L., wenn sie zögert.“

Wer in die Fremde will wandern,
Der muß mit der Liebsten gehn;
Es jubeln und lassen die andern
Den Fremden alleine stehn.

Passt nicht so recht, das „Heimweh“ von Eichendorff.

Was wisset ihr, dunkle Wipfel,
Von der alten, schönen Zeit?

Hier steht ein Fragezeichen bei dem Freiherrn, und ich setze gleich noch eines dazu.

Ach, die Heimat hinter den Gipfeln,
Wie liegt sie von hier so weit!

Und die letzte Zeile:

Grüß dich, Deutschland, aus Herzensgrund!

Na, ja. Sagen wir lieber Reichenbach, die vogtländische Hügellandschaft. Das gibt dann die Gipfel, die Wipfel, die Jürgen Fuchs aber nicht so richtig sehen konnte aus dem Fenster des Hauses, in dem er aufwuchs, unten in der Altstadt, wie man heute noch sagt, unten. Aber das schmächtige, stinkende, flinke Textilflüsschen, das er später und zugleich am Beginn seines Schriftstellertums beschrieb, dann immer wieder:

Der Abwassergraben
Unter meinem Fenster wechselt seine Farbe
Grün, gelb, rot auch schwarz
Je nachdem
Was im Textilwerk Unterheinsdorf
Gefärbt wird
Wenn das Wasser klar ist
Baden wir
Und bauen Dämme
Der Raumbach
Die Göltzsch
Die Weiße Elster
Die Saale
Die Elbe?
Im Schulatlas
Kann ich Hamburg sehen
Die Nordsee
Den Atlantischen Ozean
Blau und nicht wirklich wahr

Warum habe ich Jürgen nie nach seiner Lieblingsfarbe gefragt, jetzt ist es Orange geworden, ich hatte keinen Einfluss auf die Farben, eines Tages stand es so da, Orange, meine Lieblingsfarbe ist es. Diese Farbe.

Das Blumengeschäft in der Unteren Dunkelgasse
Ist wirklich wahr
Die Blumengasse
Die Autowerkstatt Roth
Skoda Service
Die Entlüftungstürme
Von Hempels Fabrik
Der weiße warme Dampf am Mittag
Das Schild
Steine werfen verboten Eltern haften für ihre Kinder
Zuwiderhandlungen werden bestraft

„Grün, gelb, rot, auch schwarz“ hat er beschrieben, „Blau und nicht wirklich wahr“, wahr ist „der weiße Dampf am Mittag“, sagen wir, wenn er von der Schule kam, mittags an den Mauern der Fabrik entlanglief, heimwärts dem Mühlgraben zu, die Tür aufschloss am Haus Nummer 13, an dem der Salpeter hochkroch. Gelb doch wohl nicht, würde ich denken, wegen des Dampfes, der ihm die Sicht verdarb, und weiß auch nicht mehr. Und Blau, nicht wirklich wahr. Oder doch? Nur für eine kleine Zeit.
Ich habe sie gekannt, die mit dem silbernen Lachen, dem Metall in der Stimme, Goldschmiedstochter, in der Oberschule eine Klasse niedriger, dann ein paar Semester Medizin in Leipzig nach langem Warten auf den Studienplatz. Eva Blau hat er sie genannt im Roman, Schweigen ist Gold und nicht seine Sache, zu viel Silber die Stimme. Blau wurde nicht wahr und zog nicht mit in die Fremde. Kein Jubel, sie ließen einander schon zu Hause stehn. Blau zögert nicht.
Und Rot? Rot doch wohl auch nicht. Aber am Anfang vielleicht. Fuchsrot hätte ihn bestimmt gefreut, rot wie der Fuchs auf dem Gemälde von Eve Rub. „Vom Rot, das brennt“ – Mensch Gerulf, du musst noch etwas warten, du darfst mir jetzt nicht dazwischenkommen in dieses Reichenbach, aber wie könnte ich dir die Stimme verbieten, die aus dem rauen Metall, Reibeisen, nicht Silber, jetzt, wo auch du tot bist – also: „Vom Rot, das brennt, mach ich Lieder für euch, vom Rot, das brennt, wünsch ich die Witze nicht bloß, vom Rot, das brennt, alles hier.“ (Warte noch etwas, Gerulf, nicht lange mehr, Jürgen in Bad Köstritz, ich in Kreuzberg, in meiner Eiswohnung, immer hast du mir eine Zigarette mitgebracht, und immer – seltsam – war es die letzte, das lässt sich nicht erfinden.) Rot also bestimmt, für den Anfang. Ihr wolltet es retten, das verwaschene, ausgeblichene, über die Jahre verkommene Rot, das schon todesbleiche. Jürgen Fuchs:

MIT ROTSTIFT

Oder Kohle

Auf Papier
Oder Straßen

Genannt
Oder verschwiegen

Solange
Die Dunkelmänner

Warnen:

Vorsicht
ROTE GEFAHR

werde ich schreiben

Und zeitgleich:

Sah gestern eine Fahne
Und diese Fahne war rot
Sie lag als Schaufensterfahne
Unter dem Schild: Hundeverbot
Das war ein zerbrechlicher Laden
Sein Angebot Porzellan
Und allerhand Tassen und Vasen
Bedeckten die rote Fahn

Und hinter sehr teuren Gläsern
Las ich vom Sozialismus im Land
Der war aber nur halb zu sehen
Weil davor ein Rauchverzehrer stand

Und wenig später.

Keiner wollte sie tragen. Wir blickten weg und taten geschäftig, führten intensive Gespräche mit dem, der gerade in der Nähe stand oder wechselten die Straßenseite. Niemand wollte den Dummen machen: Es wird sich schon einer finden. Vornweg marschieren und dann noch allein mit diesem Ding, da wirst du gesehen und verlacht, das kennt man, ich werde wohl aus freien Stücken die Fahne schleppen. […] Als Fahnenträger kannst du nicht in die erstbeste Seitenstraße entweichen, da mußt du in Reih und Glied bleiben bis zuletzt: Wenn sich die anderen schon nach Eis oder Bockwürsten anstellen, stehst du noch als Demonstrant auf der Straße, weithin sichtbar und verzweifelt eine Ablage suchend. […] Irgendeine Lautsprecherstimme verkündete kreischend große Erfolge, und wir standen als bestellte Demonstranten in Nebenstraßen und warteten, bis sich einer fand, der die Fahne mitnahm, die am Zaun lehnte. Und es war die rote Fahne.

Nicht berühren, sagt er da, eigentlich. Nicht dieses Rot, das einen bleichen Leichnam verhüllt, aber er sagt es mit Schmerz. Rot also nicht mehr. Das Schaufenster-Rot in der „Kahlaischen Str. zu Jena“.
Da kommt mir plötzlich Blond dazwischen, kommt aus dem „zerbrechlichen Laden“, in meiner Farbenlehre, aber das Blond ist aus Reichenbach – oder ist es ein bloßes Gelb? –, das anfängt zu flattern, wenn es in Jena in der Sonne über die Straße springt, ein verquirltes Gelb, denke ich. Zwei Klassen niedriger diesmal, an der Oberschule, kommt nach Eva Blau, nur ein Sprung über den Weg, will in Jena studieren und Philosophie, aber darf nicht, da fährt die Mutter von Reichenbach nach Jena und geht mit dem Professor zu Bett, die Jenischen Berge kreißen und gebären einen Studienplatz für Blond mit Drei Quellen und Bestandteilen. Es wird aber eine Verfolgung vorgetäuscht, Herren würden sie vorladen und vernehmen, klagt Blond, mit Briefen kämen ihre Einladungen, Blond ist so schon toll und will noch etwas interessanter werden, auch ein bisschen verfolgt sein, Jürgen schlägt einfach die Tür zu hinter der Lüge und geht seines Wegs. Blond hat nichts zu tun mit dem Gelb am Mühlgraben 13. Und nichts mit une petite blonde, das er später in Paris bestellt, aber ich denke, da hat er sich lieber einen trockenen Roten kommen lassen, wenn er noch etwas Zeit hatte, bevor er zu Manès Sperber hochging. Aber Blond ist hartnäckig, und Blond zögert nicht. 1993, nach seiner ersten Vorlesung in Jena, „Poesie und Zersetzung“, springt sie ihm an den Hals, wie er mir erzählte, und alle Freunde umher staunen: die, wieso die. Poesie und Zersetzung. Abgewaschen von allen Wassern, Quellen und Drei Bestandteilen. Blond passt nicht in meine Farbenlehre.
Von den Farben aber ist Orange meine Lieblingsfarbe. Auf einmal stand es da. Früher, in meiner Kindheit, war es mein kleines Italien gewesen, der Palazzo meiner Träume, die Ferne ja, die Fremde nicht, dorthin konnte man allein gehen und zu Fuß, mein Arkadien. Auch ich bin dort gewesen. Verwartete dort manchen sonnigen Mittag auf den Treppen sitzend während der Schließzeit der Läden. Ich würde auf die Oberschule kommen und dann Chemie studieren, dessen war ich mir sicher. An diesen Mittagen in der Sonne, am Fuße meines Palazzo, meines kleinen Verona, kaufte ich dann, wenn die Läden öffneten, bei „Bandagen-Oltzscher“, immer das Zubehör für meine chemischen Experimente, schwer schmelzbare Reagenzgläser, Erlenmeyerkolben, Flaschen mit Glasschliffstöpsel, Pipetten, Justus-von-Liebig-Kühler, Schläuche, Schlauchklemmen und Lackmuspapier. Es fällt mit ziemlicher Sicherheit in diese Zeit, und vielleicht war es an einem dieser Mittage, als ich Jürgen Fuchs zum ersten Mal sah.
Oder war es der andere? Denn es gab zwei in der Stadt, die mit langen schwarzen Feincordhosen herumliefen, beide mit auffallendem längerem Haar, das tiefschwarz war, ungewöhnlich, ich erinnere es genau, der schwarze Glanz dieser Haare und ungewöhnlich für die Kleinstadt sowieso die Länge, über die Ohren, aber nicht ganz, in die Stirn fallend, „aber nicht zu sehr“. Ich saß auf den Treppen meines Palazzo und staunte. War es der eine, oder war es der andere? Ging da einer zur Schule, am Nachmittag zum Volleyballtraining, oder hatte ein anderer Mittagspause und war Dachdecker, vielleicht Zimmermann. Manchmal sah ich bei einem eine „Schmiege“ oder vogtländisch: „Schmiesch“ aus der Seitentasche der schwarzen Cordhose ragen, einen Zollstock, dann wieder, war es ein anderer?, nichts davon… Schwarz, aber Schwarz ist vielleicht die Farbe, nach der ich suche. Paint it black. Rolling Stones, das war seine Lieblingsgruppe.
Erst als ich Monate später, im September 1968, auf die Oberschule kam und dort gleich am ersten Tag den einen sah, beim Fahnenappell, als Mitglied des Fanfarenzuges mit Trompete und Blauhemd in Reih und Glied, wusste ich sofort, das war nicht der Dachdecker und Zimmermann. Zollstock, „Schmiege“, „Schmiesch“, schmiegsam, das schien nicht sein Metier zu sein, nicht sein Maß, er stand, seine linke Hand in der Hüfte abgestützt, stieß in die Fanfare gen Himmel und trug bei zu einem ohrenbetäubenden Ritual, das ich nicht kannte, das es an unserer Schule nicht gegeben hatte. Ein paar Wochen später ergab sich zufällig ein erstes Gespräch. In der Turnhalle. Die Klasse 12B3, in die Jürgen ging, hatte 9B3 gerade mit drei zu zwei Sätzen beim Volleyballturnier der Goethe-Oberschule geschlagen, und ich war stinksauer, ich war der Mannschaftskapitän der Verlierer. Ich setzte mich auf eine der längs am Spielfeld stehenden Holzbänke der Turnhalle und senkte den Kopf „Na, Sexer (abgeleitet von Sextaner, von Sexta), willst du nicht eine rauchen gehen aufs Klo?“, sagte eine Stimme neben mir. Ich sah auf und erkannte den 12er neben mir auf der Bank, der mich vorige Woche in der Großen Pause auf der Toilette aufgestöbert und beim Rauchen erwischt hatte. Ich kannte ihn schon vom Stadtbild her und wusste jetzt, wie er hieß.
„Der Fuchs verpfeift dich nicht, da brauchst du keine Angst zu haben“, sagte ein Klassenkamerad zu mir, der ihn von der gemeinsamen Grundschule her kannte. Er sollte recht behalten, „der Fuchs“ verpfiff mich nicht. „Im August habe ich dich gesehen“, sagte Jürgen jetzt grinsend auf der Bank, „du hast eine tschechische Fahne in den Speichen deines Vorderrades gehabt, das hätte schiefgehen können, mit deinem schönen neuen DIAMANT-Rad.“ Wieder lachte er. Auch er hatte mich offenbar schon in der Stadt wahrgenommen. „Hab ich von meiner Oma gekriegt“, sagte ich, „als ich auf die Oberschule durfte.“ „Und die Fahne?“, fragte er. „Aus einer Girlande gerissen, beim Sommerfest.“ „Und wie kamst du drauf?“ „Mein Bruder“, sagte ich, „hat mir alles erzählt, seit meine Eltern geschieden sind, warum dann die Panzer kamen, auch vorher schon, Rudi Dutschke, was im Mai in Frankreich los war.“ „Hat dein Bruder noch den alten Direktor gehabt?“ „Ja“, sagte ich, „noch Buchta.“ „Du musst aufpassen“, sagte er, „Übel, der Neue, ist gefährlich, Kadettenschüler, Major der Reserve, hat gleich Ordnungsgruppen gebildet und rote Armbinden ausgegeben. Lehrer wie Kießling, Rammler, Werlich, weißt du, von wem die freundschaftlichen Besuch kriegen, im ersten Stock, in dem verriegelten Zimmer, jede Woche?“ „Wirklich, von denen?“ „Du musst aufpassen, ich habe die Autonummern“, sagte er.
Alles schon da, die Farben seines Lebens, abgesteckt die Themen, nach diesem Sommer 1968, als die Panzer der Armeen des Warschauer Paktes tagelang auch durch unsere kleine Stadt gerollt waren, eine nicht enden wollende Schlange aus Metall, ein Geschehnis, das die Atmosphäre dieser Kleinstadt wie eine Naturkatastrophe verändert hatte. Ein Naturereignis. Als ich an die Schule kam, zitterte die Stadt noch vom Sommer.
Einige Monate später, auf einem Schultanzabend im Gasthaus Stadt Dresden mit angeschlossenem Saal, Jürgen war erst weit nach Beginn der Veranstaltung mit Eva Blau hereingekommen, redeten wir den ganzen Rest des Abends zusammen. Sofort über Dubček, er fragte, ob ich Brecht kennen würde. Ja. Was? Dostojewski? Nein. Er zählte Titel auf. Nietzsche? Ja, aber nur den Antichrist. Ich fragte ihn nach Hesse. Während Eva Blau wegging und ein bisschen im Saal herumsilberte, erzählte er mir erstmals von seinem Lehrer Hieke, der von der Schule, von unserer Schule, geflogen war, ohne dass ich ihn vorher kennenlernen konnte, weil er sich geweigert hatte, einen Grußappell zum Einmarsch in die ČSSR zu unterschreiben. Jetzt würde er draußen auf dem Güterboden Kisten schleppen, der Altphilologe, mit gestärkten weißen Hemden Ölfässer und Garnkisten umladen. Einer aus Jürgens Haus, so alt wie er, hätte an den Sockel der Mylauer Kirche „Hoch Dubček“ geschrieben, der blaue Fleck der Übermalung sei noch gut zu sehen, ich müsse nur hinlaufen, in die kleine Nachbarstadt mit der Burg Karl des IV. Bernd Seidel, Arbeiter, im Knast, wahrscheinlich Zwickau, und immer noch kein Urteil jetzt im Dezember. Der Abend ging zu Ende, wir verabredeten uns, ich solle ihn besuchen.
Wir hatten in dieser Zeit, in unserem gemeinsamen einen Schuljahr keineswegs regelmäßigen Umgang, das kam erst später, als Jürgen die Schule verlassen hatte und zur Armee musste. Jetzt, in diesen Monaten sprachen wir eher nur zufällig zusammen, Jürgen stand im Abitur, wir begegneten uns auf den Sportfesten, ich sah, wie er beim Hundert-Meter-Lauf Schulrekord lief, elfkommasechs Sekunden, das weiß ich noch heute. Erst als ich, noch in der neunten Klasse, einen Schulaufsatz schrieb, der vom Parteisekretär sofort herausgefischt, „an die große Glocke gehängt“ und, was ich nicht wusste, dem Staatssicherheitsdienst übergeben wurde, wuchs das Interesse von Jürgen an einer gemeinsamen Begegnung wieder. Seine Deutschlehrerin, die nach dem Rausschmiss Hiekes in Jürgens Klasse unterrichtete, hatte meinen Aufsatz unter dem Aspekt kritischer Auseinandersetzung im Unterricht verlesen und dabei durchblicken lassen, dass ihr der Text sehr gefiel.
Diese Frau Dr. Hochmuth empfing auch nach der Schule interessierte Schüler und sprach mit ihnen über Literatur, Hölderlin, Thomas Mann, Hermann Hesse waren ihre Lieblingsautoren, die sie an ihre Schüler weitergab. Jürgen hat auch später immer wieder von ihr gesprochen, auch mit Distanz, sie bediente das Bildungsbürgertum und dessen Nachwuchs in der Stadt, hielt sich an kritischen Punkten, bei kritischen Autoren zurück. Sie stand wohl auch unter der missgünstigen Kontrolle der linientreuen Schulleitung, die, vom Fall Hieke alarmiert, nur auf einen Fehler von Frau Dr. Hochmuth wartete. Diese Zeit, die Atmosphäre an der Schule, auch die Umstände beim Weggang seines geliebten Lehrers Hieke, hat Jürgen Fuchs später in einem Aufsatz beschrieben, der seine Begegnung mit dem Buch LTI von Victor Klemperer zum Thema hat:

In den Wochen nach der LTI-Lektüre begann ich zu schreiben. Das waren nicht mehr, wie zuvor, versuchte Nachempfindungen Bobrowskischer Landschaften, die ich nicht kannte. Ich wagte mich vor zur Wirklichkeit, zur eigenen, zu der, die mich umgab. „Beobachte, präge dir ein, was geschieht.“ Ich steckte alles weg, wenn ich das Zimmer verließ. Keiner wußte, was ich tat. Aber ein Weg war gefunden: Geschichte, Geographie, Staatsbürgerkunde. Ramsch wird immer ganz rot, vom Hals her, wenn wir Fragen stellen, die er nicht beantworten kann. Ramsch mit den großen Reden in der ersten Stunde: Ich bin ein strikter Gegner der Phraseologie. Da saßen wir ganz still auf unseren Plätzen und dachten sonstwas, aber was er war, wußten wir bald. Ordnungsgruppen werden gebildet, Armbinden verteilt. Blaue und blau-rote, „LvD“ heißt der Lehrer vom Dienst. Montags Fahnenappell. Der Direktor wünscht eine militärische Meldung. Mit Hackenzusammenschlagen. Manchmal trägt er Uniform. Er hat graue Haare und ist Major der Reserve. Er verbreitet Angst. Es sind seine Augen, sein Durchschauerblick… Wenn ich im Glied stehe, muß ich lachen. Warum?… Viele haben Schwierigkeiten, das Wort Sozialismus richtig auszusprechen. Die meisten verschlucken die Endung, auch der Direktor, wollen dieses Wort schnell hinter sich haben… Lenin ist der liebe Gott. Ich muß lesen, was er schrieb. 40 Bände will einer abgeben. Er mußte sie kaufen auf Beschluß seiner Parteigruppe. Jetzt liegen sie auf dem Boden, in einer Kiste. Die Mutter brachte fünf Stück mit in einem Einkaufsnetz. Er ist ihr Kollege, es soll geheim bleiben… S. und Z. wurden vorgeladen. Das geht so: Die Sekretärin kommt und sagt: „Bitte zum Direktor dann und dann.“ Am Sekretariat klingeln, der Summton, „Hier herein, bitte.“ Zwei Herren sitzen da, der eine jünger, der andere älter. Zeigen ihren Ausweis vor, der sieht aus wie eine Fahrerlaubnis, klein, schmal, zum Aufklappen. „Wir hätten uns gern mit Ihnen unterhalten.“ Im Gespräch sagen sie Du. Es ging um H., er will die Schule verlassen. Ob welche Sympathien für ihn haben. H. sei ein Freund Dubčeks. Zum Schluß muß man einen Text aufschreiben mit Hand, ein Paragraph des Strafgesetzbuches kommt vor – Schweigepflicht! Weitere Gespräche werden verabredet oder in Aussicht gestellt… Angst. Wie soll ich mich verhalten, wenn sie kommen?… Von den Litfaßsäulen lächeln die Lügen… immer wieder Aufrufe und neue Termine für Höhepunkte, immer muß ein Ziel da sein. „Blaue Wimpel im Sommerwind. Du hast ja ein Ziel vor den Augen, damit du in der Welt dich nicht irrst“… Auch ich habe eine doppelte Buchhaltung… Alles ist zu früh. Bald kommt der Einberufungsbefehl. Die schwarzen Hefte besser verstecken: Wir haben’s weggetan, sagte sie, wir haben’s verbrannt. Wenn du so weitermachst, bringst du uns alle noch ins Unglück, ins Gefängnis, deinen Vater und mich, so was will ich nicht noch einmal sehen… Die Panzer hinterließen helle Spuren auf den Pflastersteinen. Auf der Straße hörte ich einen sagen: „Jetzt sind die Tschechen dran. In ein, zwei Tagen geht das heute… Die Technik…“ Darf eine sozialistische Armee andere Länder besetzen? Und ich werde Soldat. Alle reden von der „Sicherung des Friedens“…
Notizen, Fragen. Die überführte, festgehaltene Wirklichkeit verlor für die Zeit des Schreibens ihre Macht. Ich übte, ohne es zu wissen, eine Überlebenstechnik, die mir bei Armee und im Gefängnis von Nutzen sein sollte: die Zeitverschiebung. Ab in die Vergangenheit war das eine, die versuchte Vorwegnahme der Zukunft das andere. Heimlich, mit Hilfe von Sprache, sollten die Gefahren abgewendet werden. In der Not der Rückgriff aufs Magische. Das Aufschreiben war sehr wichtig und nicht nur ein Ventil. Und doch: Auch ich wurde ins Zimmer des Direktors gerufen. Und der Einberufungsbefehl kam pünktlich, ich war achtzehn. Und Jahre später verhafteten mich drei Herren von der Straße weg.
Und aus dem Gefängnis wurde ich über die Grenze gefahren. Trotzdem ich fast alles beschwörend vorweggenommen hatte in meinen Notizen […]. Ich gestehe, daß ich der Sprache, dem, was vielleicht Literatur genannt werden könnte, die Ohnmacht, dieses Versagen vor den Häschern übelnahm. Daß sie mich, trotz meiner Hingabe an sie, zum Opfer werden ließ. Das sie nicht allmächtig war, daß ich leiden mußte wie andere auch, das wollte ich lange nicht akzeptieren. Diese Kränkung saß tief.

(„Das Erschrecken über die eigene Sprache“, 1983.)

Ich klingelte an der Haustür mit der 13, der Blick seiner Mutter, eine Wand, ganz Ablehnung: Da kommt einer, langhaarig, mit Baskenmütze, Vietnam-Abzeichen an der Jacke, die ausgewaschen ist, und zerrissenen Volleyballschuhen, aus denen die Socken quellen, das passt alles nicht zusammen, das passt zusammen, der sieht aus wie der Sohn. Wie der Sohn aussah bis vor ein paar Wochen. Der Sohn macht schon die Tür auf, sagt kein Wort zur Mutter und zieht den Freund schnell in sein Zimmer. Schlägt die Tür zu. Musik. Im Zimmer ist Musik, ich weiß nicht, welche. Links in den hohen Regalen Reclam-Bändchen, ein Plattenspieler. Homers Odyssee, Ilias, Hegel, die Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, mehrbändig, weinrot, auch Feuerbach und Kant. Rechts, die Holztruhe dunkel, aufgeklebt Guernica, auf der Truhe eine Lampe, darüber hellroter Fahnenstoff, sorgfältig, an den Rändern handbreit, versengt, angekohlt, darüber, an der Wand, ein Zettel, Aufschrift:

Sie gruben die Helligkeit dieser Zeit in unsere Augen, die Zweifelnden, wie weit verbrannt ist schon das Licht?

Von wem? Von mir, sagt Jürgen. Die Musik? Vorspiel zum Nachmittag eines Fauns, Debussy, später Die Frühlingsweihe von Strawinsky. Das Licht im Zimmer Dämmer, es ist schon November, das Fenster ein wenig geöffnet, draußen rauscht das flinke Bächlein. Jürgen sitzt in einem hohen alten Samtsessel, seine schwarzen Haare jetzt kurz, sein erster Besuch, sein „Urlaub“, jetzt ist er bei der Armee, Grenzbataillon in Plauen, Funker, nicht vorn am Streifen, nur am Draht, Kaserne Schöpsdreh am Stadtrand von Plauen. Jetzt sitzt er im Sessel, liest mir Gedichte vor, seine, die neuen. Aber erst später wird er aufschreiben, das, was mit ihm geschah, wie er wegging, aus dieser Stadt, denn etwas musste geschehen sein, bevor einer solche Gedichte schreibt.

Ich gehe die Schulgasse hinauf mit dem Koffer, in dem ist, was vorgeschrieben wurde auf einem Blatt Papier: Socken, Rasierzeug, weiße Kragenbinden, Schuhcreme, Bürsten, Nähzeug, Handtücher, Unterwäsche und die schwarze Reisetasche, der Reiselord.
„Wohin gehst du?‘
„Ich gehe zur Armee.“
„Ach“, sagt sie und lächelt.

Ich weiß nicht, wohin ich gehe. Ich habe Geschichten gehört, die endeten immer: Auch das geht vorbei. Aber jetzt sollte es beginnen. Die Schulgasse hinauf mit dem Koffer. Da ist die Altstadtschule, über der Tür, halbrund, in großen Buchstaben: „I. polytechnische, allgemeinbildende zehnklassige Oberschule“. Schnell vorbei, den kleinen steilen Berg hinauf, Richtung Marktplatz, Richtung Bahnhof, Richtung Wehrkreiskommando, Richtung Friseur.
Coiffeur steht über der Tür, daneben die Eisdiele, geschlossen, es ist früh 9 Uhr und ein paar Minuten. Zwei Kugeln Vanille, eine Zitrone. Zu früh, kurz nach neun, dort ist die Uhr, kreisrund, Rat des Kreises, Rat der Stadt.

Ich weiß nicht, ob Orange die Lieblingsfarbe von Jürgen Fuchs war. Ich habe ihn nie gefragt. Grau, damals war alles nur grau. Und noch einmal grau. Selbst dann noch ist das Gebäude auffallend schön, auch mächtig, wenn Mittag ist und man sich vorstellt, es sei ein friedlicher Palazzo in Italien, sagen wir Verona, bald kommt Mercutio zum Brunnen, Tybalt wird ihn erschlagen, Romeo muss nach Mantua fliehen. Es beginnt. Aber Jürgen geht am Brunnen vorbei, den ich mir träume, zum Friseurladen, zögert nicht, tritt in die Tür. Aber wo? Wo bleibt die Liebe, die gelebte, und die nicht, die andere, die nur von einer Seite vergebene, die vergebliche, auf dieser Welt? Wohin geht sie? Wo bleibt sie? Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, wo. Es bleiben die Brunnen, die Palazzi, die Bibliotheken. Und Jürgen geht am Brunnen vorbei, zögert jetzt nicht, geht durch die Tür, das Tor, liest nicht die Flammenschrift, liest nur Coiffeur.

Dort hinein, den Koffer abstellen, keiner ist vor dir. Du kommst gleich an die Reihe.
Eine junge Frau, ein Mädchen:
„Wie möchten Sie es haben?“
Dann sieht sie in den Spiegel, lächelt, lächelt nicht mehr.
„Zur Armee gehst du…“
„Ja.“
„Ach“, sagt sie.
„Kurz, hinten kurz.“
„Ja“, sagt sie, „ich weiß.“
„Aber nicht zu sehr. Und an den Seiten, nicht zu sehr.“
„Nein“, sagt sie und beginnt zu schneiden.“

Was haben sie ihm getan, was haben sie ihm noch getan, danach? Sie haben ihm die Haare abgeschnitten, zuerst, jetzt sitzt er im Dämmer seines Zimmers, in einem alten Samtsessel, hat zwei Tage Urlaub, draußen rauscht das Bächlein vorm Fenster. „Wer in die Fremde will wandern…“ Was haben sie ihm getan? Was gibt es dort? Es muss etwas Schreckliches sein, was ihn so verändert hat, in wenigen Wochen.
„Bei den ersten Gedichten hatte ich noch Bobrowski als Vorlage, du wirst sehen, die Originale kennst du, dann lese ich die anderen“, sagt er.
Plötzlich war es orange.
Als die Sparren, Holzplatten, die grünen und blauen Plastikplanen gefallen waren, abgebaut die schmutzig-silbernen Gerüströhren, die Verschraubungen gelöst, unter dem schwarzschiefernen Dach, war das Gebäude orange. Die Bauleute und Architekten hatten ihm meine Lieblingsfarbe gegeben, dem Verona meiner Kindheit. Und zwei tiefblaue Plakate wurden gehisst wie Fahnen unter dem blassen Himmel dieser nordvogtländischen Stadt, auf denen stand: Hier entsteht für die Bürger von Reichenbach und Umgebung die Jürgen-Fuchs-Bibliothek. Ich stand vor den riesigen gläsernen Fensterbögen des mächtigen Gebäudes und begriff zum ersten Mal, nach langen Monaten vollständigster Verwirrung, dass Jürgen tot ist.
Was haben sie dir getan?, fragte ich. Er saß in seinem Sessel und sagte: Ich lese dir vor, ich habe nämlich etwas aufgeschrieben in den letzten Wochen:

SPRACHE (WEGEN JOHANNES BOBROWSKI)

Der pfiff

Lauter als das wort
Mit dem atem der tierwärter
Mit dem geschrei
Über der stille

Die augen
Unter dem fuß
Ihr brechender ruf
Lange im staub
Nicht für ewig

Sprache

Gehetzt
Von pfiffen verfolgt
Im endlosen kampf
Gegen das schweigen der menschen

(Jürgen Fuchs, 1969. Das bisher früheste bekannte Gedicht des Autors.)

Utz Rachowski, aus Gabrielle Alioth und Hans-Christian Oeser (Hrsg.): Im Schnittpunkt der Zeiten. Autoren schreiben über Autoren. Synchron Wissenschaftsverlag der Autoren, 2012

 

Fakten und Vermutungen zum Poesiealbum + wiederentdeckt +
Interview
50 Jahre 1 + 2 + 3 + 4 + 5 + 6

 

 

Zum 65. Geburtstag des Herausgebers:

Klaus Walther: Wer sollte da Zweifel haben, die Welt sei nicht schön?
FreiePresse, 23.1.2019

Fakten und Vermutungen zum HerausgeberIMDb + Kalliope

 

Andreas Schirneck singt Gedicht von Utz Rachowski
am 1.10.2015 im Malzhaus Plauen bei „Jürgen Fuchs nicht zu vergessen“, Literarische Blicke auf unser Land
Schriftstellerlesung Utz Rachowski & Udo Scheer Musikalische Begleitung Andreas Schirneck

 

Fakten und Vermutungen zum AutorIMDb + Internet Archive +
Kalliope
Porträtgalerie: Brigitte Friedrich Autorenfotos + Keystone-SDA +
deutsche FOTOTHEK

 

Staatsfeind Nr. 1 – Dokumentation über Jürgen Fuchs.

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