Jürgen Fuchs: Tagesnotizen

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Jürgen Fuchs: Tagesnotizen

Fuchs-Tagesnotizen

DAS LETZTE GEDICHT
Das ich schreiben werde
Wird so beginnen:

Die Sonne scheint
Oder
Die Leinen der Hundebesitzer
Oder
Ein Spielplatz mit Rutsche und Sandkasten
Oder
Anfälle von Zweifel
Oder
Das Wort jawoll
Oder
Die Dienstmützen der U-Bahn-Kontrolleure
Oder
Der Dichter Peter Paul Zahl
Oder
Was damals Rechtens war
Oder
Ohne Briefe auf dem Weg zum Briefkasten
Oder
Nikotinarm im Rauch
Oder
Zu Hause: wo ist das: zu Hause
Oder
Lachen, einfach lachen
Oder
Weg vom Fenster
Oder
Das ist toll, wirklich, ganz toll

 

 

 

Tagesnotizen

sind die ersten literarischen Texte, die der Schriftsteller Jürgen Fuchs nach seiner Ausweisung aus der DDR vorlegt. Sie erweisen sich als Wahrnehmungsprotokolle eines jungen Autors, der unfreiwillig von Ost- nach West-Berlin kam und der seine Beobachtungsfunde notiert, um sich zurechtzufinden. Es ist eine lakonische Bestandsaufnahme entstanden, in der das Nächstliegende die ersten Anhaltspunkte liefert. Die Stilmittel des Orientierungsstenogramms zeichneten sich bereits am Schluß der Vernehmungsprotokolle ab. Zur Aufmerksamkeit des unvorbereiteten Beobachters sind inzwischen jedoch die ersten Reaktionen auf Verletzungen gekommen. Aus der Mitschrift eines Diktats äußerer Reize und unübersehbarer Widersprüche ist mit dem wachsenden inneren Widerstand ein neues Medium der Reflexion und ein spezifisches Ausdrucksmittel von Erfahrung geworden: Fuchs entschied sich, angesichts der spannungsvollen Existenz eines Betroffenen und Erkennenden, für das Gedicht. Zur wachsamen Aufgeschlossenheit und zur emotionalen Eingeschlossenheit (wie die Abläuft: eines immer auch politischen Alltags) trat die bewußt gewählte Form:

Meine Gedichte
Liegen unter Zeitungen und Briefen
Deren Absender ich nicht kenne
Gäste kommen und gehen
Sie wünschen alles Gute
Und fragen
Wie ich mich fühle
Nichts
Ich fühle nichts

Rowohlt Taschenbuch Verlag, Klappentext, 1979

 

Jürgen Fuchs: Der Dichter schreibt Amok

DIESE ANGST
Auf halber Zeile:
Dass mein Stift
Zerbricht
Bevor alles gesagt
Und
Wer hört mich
Wenn ich schweige

So endet ein Zyklus von Gedichten des im letzten Jahr verstorbenen Dichters, Schriftstellers, Psychologen, Publizisten, DDR-Dissidenten und Sozialarbeiters Jürgen Fuchs. Heute wäre er 50 Jahre alt geworden. Sein Entdecker und Förderer, der Jenaer Literaturprofessor Edwin Kratschmer gab jetzt den Zyklus Schriftprobe zum ersten Mal vollständig heraus. Der Anfang eines Lebens als Dichter wird nachvollziehbar, dass dann den Dichter fast an den Rand drängte. Jürgen Fuchs ging es als Schüler und als Student der Sozialpsychologie in Jena und als angehender Autor immer auch um Zensur und Politik. Um das, was möglich war in der DDR und was unmöglich schien. Und damit einen wie Fuchs reizte, im lustvoll widerspenstigen, fordernden Ton trotzdem möglich zu machen. Da war früh in den Gedichten dieser klare und suggestive Ernst, der dem Leser vieldeutig entgegentritt. Als ahne einer das, was er noch nicht wissen kann.

Papier, ich trage
Schuld:
Zu groß
der Abstand meiner Zeilen
Zu breit
dieser Rand
Zu wenig
Worte schrieb ich
auf dich
Wer weiß
wie viele Todesurteile
sich noch fertigen lassen
auf deinem Weiß

Da ist auch schon der Dissens zu den Oberflächlichkeiten der westlichen Mediengesellschaft zu spüren, der das Leben eines Jürgen Fuchs in den neunziger Jahren prägen wird. Und seinen zweifelnden und fast verzweifelten Versuch, in dem Roman Magdalena die höllische Präsenz der DDR-Vergangenheit in der Gegenwart herbeizu – nein, nicht zu erzählen – herbeizuschreien, zu flüstern, zu berichten oder herbeizudichten.
Jürgen Fuchs faszinierte und polarisierte. Er hatte faktisch nur Freunde und Feinde. Wenn er sich an einer Diskussion beteiligte, wirkte er sofort als Katalysator vorhandener Differenzen. Auch seine Gedichte versuchen, von der ersten Zeile an, die ganze Gesellschaft in den Blick und in die Zeilen zu bringen. Sie beeindrucken in ihrer Art einer Furcht nehmenden Striktheit. Vom Studium wegen seiner kritischen politischen Haltung exmatrikuliert, wohnte er eine Zeit lang bei seinem Freund, dem DDR-Kritiker Robert Havemann. Dort wurde Fuchs wegen der von ihm organisierten Proteste gegen die Ausbürgerung des Liedersängers Wolf Biermann 1976 verhaftet: Neun Monate in einer Zelle in Berlin Hohenschönhausen, dazu schrieb er den Band Vernehmungsprotokolle. Das war dann schon in Westberlin, nach seiner unfreiwilligen Ausbürgerung. Später entstanden zwei Gedichtbände, zwei wichtige Bücher über die Armee in der DDR.
Es entstanden Theaterstücke, Aufsätze, Hörspiele, und immer wieder versuchte er, oppositionelle Freunde in Osteuropa zu unterstützen. Er packte Pakete, verwahrte Tagebuchnotizen und vermittelte Texte. Jürgen Fuchs ist heute einer der unbekanntesten und gleichzeitig am meisten verehrten Autoren dieser Republik. Seine Freunde waren Reiner Kunze oder Wolf Biermann, lyrische Vorbilder noch mehr Dichter wie Tadeusz Rozewicz oder der Franzose Guillevic. Die hohe Kunst, scheinbar ohne Metaphern vieldeutig zu wirken, spricht auch aus seinen schönsten Versen. Vielleicht sind seine beiden Gedichtbände nach der Ausreise in Westberlin seine intensivsten Texte: Tagesnotizen und Pappkameraden. Sie verblüffen in ihrer sensiblen Kargheit. Sie wollen Spannungen aushalten. In der Dichtung wie im Leben.
Nach der deutschen Vereinigung tat Jürgen Fuchs sehr viel, um die Geister der deutschen Vergangenheiten auszutreiben. Er wurde vorwiegend als „Bürgerrechtler“ oder Aufarbeiter der Stasi-Akten wahrgenommen. Das entsprach seinem Engagement und muss ihn geschmerzt haben. Ab 1994 rechnete er mit dem möglichen Tod. Sein Freund Edwin Kratschmer schreibt zu dem neuen, alten Gedichtband Schriftprobe:

Jürgen Fuchs lebte kurz und intensiv in Dissens und Dissidenz… Er schrieb unter mehreren Zwängen und Drücken… und er schrieb zunehmend nahezu Amok.

Hatte er schon nicht die Zeit, alles zu schreiben, haben wir nun die Zeit, das Geschriebene zu lesen. Auf dem Titelbild seines Bandes Tagesnotizen findet sich folgender Text:

26. 8. 78

Auf dem Weg zum Briefkasten
Sah ich zwei große Hunde
Auf den Rücksitz
Eines Autos springen
Sie bellten nicht
Sie saßen sofort still
Ich ging weiter
Als sei nichts geschehen.

Etwas Unerhörtes ist geschehen und geschieht täglich. Was es ist, bleibt ein Geheimnis. Die bedrohliche Stimmung dieser Hundehalterszene lebt von dem nicht Auserzählten, dem nicht in die pure Politik Übersetzten.

Lutz Rathenow, Der Tagesspiegel, 18.12.2000

 

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Staatsfeind Nr. 1 – Dokumentation über Jürgen Fuchs.

1 Antwort : Jürgen Fuchs: Tagesnotizen”

  1. Rüdiger Rosenthal sagt:

    „Dort wurde Fuchs wegen der von ihm organisierten Proteste gegen die Ausbürgerung des Liedersängers Wolf Biermann 1976 verhaftet“. JF wurde nicht deswegen verhaftet, wenn, dann war dies höchstens ein Anlass. Er wurde – wie viele andere auch – verhaftet, weil er SED und Stasi herausforderte und lebenslang deren menschenfeindliches Tun öffentlich machte.

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