Jürgen Theobaldy: Zu Johannes Bobrowskis Gedicht „Immer zu benennen“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Johannes Bobrowskis Gedicht „Immer zu benennen“ aus Johannes Bobrowski: Sarmatische Zeit / Schattenland Ströme. –

 

 

 

 

JOHANNES BOBROWSKI

Immer zu benennen

den Baum, den Vogel im Flug,
den rötlichen Fels, wo der Strom
zieht, grün, und den Fisch
im weißen Rauch, wenn es dunkelt
über die Wälder herab.

Zeichen, Farben, es ist
ein Spiel, ich bin bedenklich,
es möchte nicht enden
gerecht.

Und wer lehrt mich,
was ich vergaß: der Steine
Schlaf, den Schlaf
der Vögel im Flug, der Bäume
Schlaf, im Dunkel
geht ihre Rede –?

Wär da ein Gott
und im Fleisch,
und könnte mich rufen, ich würd
umhergehen, ich würd
warten ein wenig.

 

Ohne Mythos

Das Gedicht steht als vorletztes in Johannes Bobrowskis zweitem Gedichtband, ein verdeckter Schluß, ein Resümee, der Lyriker gibt sich Rechenschaft über sein Projekt „Schattenland Ströme“. Der Titel des 1962 erschienenen Bandes weckt die zarte, bildlose Vorstellung eines Gleitens und Rauschens, er atmet Weite, durchzogen von den Namen osteuropäischer Dichter und Denker, Fürsten und Gottheiten, von Resten der ausgestorbenen pruzzischen Sprache. Jene Weite ist von keinem Staats- oder Staatengebilde zu umschließen; es ist die Weite Sarmatiens, des legendären, von den Römern so genannten Landes östlich der Weichsel, das die Deutschen in mehreren Eroberungskriegen heimsuchten, weshalb Bobrowski die Pruzzen „das vom Deutschen Ritterorden ausgerottete Volk“ nannte.
Eine Lyrik, die ein solches Sarmatien vergegenwärtigen will, braucht einen tragfähigen, ausschwingenden Ton, den Odenton, hier elegisch herabgestimmt im schlichten Benennen, das keine übergeordneten Satzbögen und kaum Verschachtelungen kennt. Ein Spannungsgefüge entsteht: Ohne klangmagische Mittel, ohne die Eingängigkeit von Reim und festem Metrum geraten die Verse zur Beschwörung. Gelassen hebt das Ich an und führt die zentralen Wörter seiner Lyrik zusammen. Wenige Abweichungen von der gewöhnlichen Syntax reichen aus, diese erste Strophe von einer bloßen Aufzählung zu scheiden.
Die zweite Strophe beginnt nach einem Innehalten. Das Gesehene wird in Begriffe gefaßt. Und: „es ist / ein Spiel“, dieses Dichten als ein Anrufen der Dinge. Die gemeinsame Herkunft des Ichs mit den „Zeichen“ und „Farben“ aus dem Vorsprachlichen ist vergessen, muß es sein, weil mit dem Vermögen zur Sprache eine andere Weise des Daseins einsetzt. Seit Wittgenstein wissen wir: Das Sprachspiel ist Lebensform. Der richtige Ausdruck für das mythische Erleben dagegen, so Wittgenstein, ist „kein in der Sprache geäußerter Satz“, es ist „die Existenz der Sprache selbst“.
Und hier sorgt sich das Ich, ob seine Dichtung seinem ans Mythische rührenden Sarmatien auf der Grenze der sprachlichen Ausdrucksmöglichkeit gerecht werde. Selbst wenn es einen Gott gäbe, der helfend eingriffe, würde es vor ihm nicht in Demut verharren. Von allem eingangs Benannten zählt es in der dritten, deutlich auf die erste bezogenen Strophe „Strom“ und „Fisch“ nicht zu jenen Dingen, in denen, romantisch gesagt, ein Lied schläft. Der Strom markiert die fließende Grenze zwischen Landschaft und Mensch; auch den am Feuer zubereiteten Fisch behält das Ich vor Augen – und dazu braucht es keine mythenumrankte Gottheit.
„Immer zu benennen“ – dies bleibt Möglichkeit, selbst über die lange Geschichte aus Unglück und Verschulden“ hinweg, die das Verhältnis der Deutschen zum europäischen Osten ausmacht. Bobrowskis Schreibabsicht ist oft zitiert worden und war kaum je so dringlich einzulösen wie heute. Nachdem die einen in wenigen Jahren ihre Geschichte abgeschüttelt haben, sind sie nun konfrontiert mit den andern Deutschen, die immer noch an der falschen Antwort auf diese Geschichte leiden. Mag auch absehbar sein, wann der Fisch auf dem Grill zum Wochenendvergnügen beider werden wird, die Geschichte der Landschaften östlich des geeinten Deutschlands bleibt in die unsrige verstrickt. Für die, die Bobrowskis Lyrik lesen, ist das nicht nur zum Erschrecken.

Jürgen Theobaldyaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfzehnter Band, Insel Verlag, 1992

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