Karl Krolow: Zu Georg Heyms Gedicht „Letzte Wache“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Georg Heyms Gedicht „Letzte Wache“ aus Georg Heym: Gedichte. –

 

 

 

 

GEORG HEYM

Letzte Wache

Wie dunkel sind deine Schläfen
Und deine Hände so schwer.
Bist du schon weit von dannen,
Und hörst mich nicht mehr?

Unter dem flackernden Lichte
Bist du so traurig und alt,
Und deine Lippen sind grausam
In ewige Starre gekrallt.

Morgen schon ist hier das Schweigen
Und vielleicht in der Luft
Noch das Rascheln von Kränzen
Und ein verwesender Duft.

Aber die Nächte werden
Leerer nun, Jahr um Jahr,
Hier wo dein Haupt lag und leise
Immer dein Atem war.

 

Verlorene Nähe eines Menschen

Als Georg Heym (1887–1912) diese letzte, definitive Fassung des Gedichts schrieb, war September 1911, der Dichter – im schlesischen Hirschberg geboren – noch nicht ganz vierundzwanzig. Ein Zeitgenosse sah ihn so:

Ein runder, fester Kopf unter der Studentenmütze, das robuste Gesicht eines Jungen, den seine Freunde als wuchtige, impulsive, unglaublich gesunde Viechsnatur schildern, ein abenteuernder Rabauke und Tatmensch.

Andere sahen ihn anders. „Letzte Wache“ war kein Gedicht der Satzbauzerrüttung, ein einfaches Gedicht vielmehr aus vier Strophen mit je vier Zeilen, die zweite und die vierte gereimt, schlicht, trauervoll, tränenvoll. Die endgültige Fassung wurde vermutlich am 4. September 1911 geschrieben. Sie steht ziemlich nahe dem ungleich wüsteren Gedicht „An meinen Leichnam“, mit dem es nichts gemeinsam hat. Im Tagebuch Heyms findet man lediglich angeführt, daß dieser 4. September „ein kritischer Tag erster Ordnung“ gewesen sei. Gemeint ist die Zuspitzung einer der Heymschen Frauen-Affären. Die „Letzte Wache“ ist weit fort von allen Zufalls-Amouren. In diesem Gedicht ist Zufall nicht unterzubringen. Dazu ist dieses Totenwache- und Liebesgedicht zu verschwiegen, zu ernst, zu endgültig.
Seine Sprache ist gedämpft zu einem wie erstickt wirkenden Flüstern. Es sind Worte der halben und der Viertelstimme, angesichts einer Toten (oder eines Toten?), nachgerufen inmitten eines Schweigens, das wächst und alles an sich ziehen wird: das endgültige Schweigen des Todes. Sanft, melodiös, beinahe überredend kommen die Zeilen, in einer Art melancholischer Grazie, die die Verstörung, den Schmerz rhythmisch zu widerlegen, ja, aufzuheben scheint. Dennoch setzt sich die zarte Klage der Vergänglichkeit und Vergeblichkeit menschlicher Beziehung, Zuneigung, Liebe, diese Klage der Unwiderrufbarkeit des physischen Endes einer geliebten Person durch.
Sie gilt der verlorenen Nähe eines Menschen, gilt Haupt und Atem des Abgeschiedenen, gilt dem, was an diesem Toten geistig und leicht war, gilt dem Verschwinden des Lebens-Wandels, seinem Weichen und dem Beginn der Toten-Schwere, den schweren Händen, erstarrten Lippen, dem endgültigen Schlaf bei dunklen Schläfen unter flackerndem Licht. Das alles wird vorgebracht und in Worte gefaßt, als wenn nichts gesagt worden wäre, als wenn ein Luftzug durch ein Zimmer wehte. Die Stille ist überwältigend, mit der sich das Gedicht einzurichten beginnt, weil es sich mit ihr einrichten muß. Ein Adieu, sozusagen mit brennenden Augen gemurmelt, angesichts der Kälte und Einsamkeit des Todes.
Auch – so kann man es sehen – das wie hypnotisch wirkende Gedicht eines Todessüchtigen, der sich mit dreiundzwanzig Jahren bereits seine Grabinschrift überlegt hatte:

Auf meinem Grabstein soll nichts anderes stehen als: Er schläft, er ruhet aus.

Ich erinnere mich beim Lesen der „Letzten Wache“ an Heyms kurze Erzählung „Die Sektion“, der ein Jahr nach seinem Tode erschienenen Novellensammlung Der Dieb. Auch dort gibt es einen ähnlichen Abschied von einem toten, jungen Menschen, der für den Seziertisch bestimmt ist. Ist er derselbe, dem die „Letzte Wache“ gilt? Ist es ein Mädchen, eine junge Frau?
Es bleibt unbestimmt:

Wie ich dich liebe. Ich habe dich so geliebt. Soll ich dir sagen, wie ich dich liebe? Wie du durch die Mohnfelder gingest, selber eine duftende Mohnflamme, hattest du den ganzen Abend in dich getrunken. Aber dein Kopf neigte sich in dem Lichte, und dein Haar brannte noch und flammte von allen meinen Küssen. – So gingest du dahin und sahst dich immer nach mir um. Und die Laterne in deiner Hand schwankte wie eine glühende Rose lange fort in der Dämmerung… Ich werde dich wiedersehen alle Abende um die Stunde der Dämmerung. Wir werden uns nie verlassen… Soll ich dir sagen, wie ich dich liebe?

Karl Krolow, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Sechster Band, Insel Verlag, 1982

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