Karl Riha: Zu Bertolt Brechts Gedicht „Legende vom toten Soldaten“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Bertolt Brechts Gedicht „Legende vom toten Soldaten“ aus Bertolt Brechts Hauspostille. –

 

 

 

 

BERTOLT BRECHT

Legende vom toten Soldaten

Und als der Krieg im vierten Lenz
Keinen Ausblick auf Frieden bot
Da zog der Soldat seine Konsequenz
Und starb den Heldentod.

Der Krieg war aber noch nicht gar
Drum tat es dem Kaiser leid
Daß sein Soldat gestorben war:
Es schien ihm noch vor der Zeit.

Der Sommer zog über die Gräber her
Und der Soldat schlief schon
Da kam eines Nachts eine militär-
ische ärztliche Kommission.

Es zog die ärztliche Kommission
Zum Gottesacker hinaus
Und grub mit geweihtem Spaten den
Gefallnen Soldaten aus.

Der Doktor besah den Soldaten genau
Oder was von ihm noch da war
Und der Doktor fand, der Soldat war k. v.
Und er drückte sich vor der Gefahr.

Und sie nahmen sogleich den Soldaten mit
Die Nacht war blau und schön.
Man konnte, wenn man keinen Helm aufhatte
Die Sterne der Heimat sehn.

Sie schütteten ihm einen feurigen Schnaps
In den verwesten Leib
Und hängten zwei Schwestern in seinen Arm
Und ein halb entblößtes Weib.

Und weil der Soldat nach Verwesung stinkt
Drum hinkt ein Pfaffe voran
Der über ihn ein Weihrauchfaß schwingt
Daß er nicht stinken kann.

Voran die Musik mit Tschindrara
Spielt einen flotten Marsch.
Und der Soldat, so wie er’s gelernt
Schmeißt seine Beine vom Arsch.

Und brüderlich den Arm um ihn
Zwei Sanitäter gehn
Sonst flöge er noch in den Dreck ihnen hin
Und das darf nicht geschehn.

Sie malten auf sein Leichenhemd
Die Farben Schwarz-Weiß-Rot
Und trugen’s vor ihm her; man sah
Vor Farben nicht mehr den Kot.

Ein Herr im Frack schritt auch voran
Mit einer gestärkten Brust
Der war sich als ein deutscher Mann
Seiner Pflicht genau bewußt.

So zogen sie mit Tschindrara
Hinab die dunkle Chaussee
Und der Soldat zog taumelnd mit
Wie im Sturm die Flocke Schnee.

Die Katzen und die Hunde schrein
Die Ratzen im Feld pfeifen wüst:
Sie wollen nicht französich sein
Weil das eine Schande ist.

Und wenn sie durch die Dörfer ziehn
Waren alle Weiber da
Die Bäume verneigten sich, Vollmond schien
Und alles schrie hurra.

Mit Tschindrara und Wiedersehn!
Und Weib und Hund und Pfaff!
Und mitten drin der tote Soldat
Wie ein besoffner Aff.

Und wenn sie durch die Dörfer ziehn
Kommt’s, daß ihn keiner sah
So viele waren herum um ihn
Mit Tschindra und Hurra.

So viele tanzten und johlten um ihn
Daß ihn keiner sah.
Man konnte ihn einzig von oben noch sehn
Und da sind nur Sterne da.

Die Sterne sind nicht immer da
Es kommt ein Morgenrot.
Doch der Soldat, so wie er’s gelernt
Zieht in den Heldentod.

Notizen zur „Legende vom toten Soldaten“ 

– Ein Paradigma der frühen Lyrik Brechts . –

Stöbert man in den populären Balladensammlungen des späten neunzehnten, frühen zwanzigsten Jahrhunderts, stößt man auf das stehende Kapitel „Heldentum“. Um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts entstand der Plan, die ganze deutsche Nationalgeschichte von den alten Sachsen bis zu den Freiheitskriegen herauf, von Hermann und Thusnelda bis Feldmarschall Blücher durch Balladen – aus „vaterländischen“ Dichtern zusammengestellt1 – abzudecken. Die reaktionäre Erneuerung der deutschen Ballade kurz nach 1900 steht deutlich unter ähnlichen Vorzeichen.

Wo Sporenklirr und Mut und Manneszorn,
Wo Grimm und Scham die harten Fäuste ballen; Das Hifthorn tönt…
es gurrt der wilde Tauber…
Ein Schrei im Wald…
in mörderisches Erz…
Ein letzter Hauch… –
Das ist Balladenzauber!

schreibt Joseph Lauff im ,balladischen‘ Geleitwort zum Neuen deutschen Balladenschatz,2 einer Anthologie, die aus einem literarischen Preisausschreiben hervorgegangen ist, das die „schlummernden poetischen Kräfte“ wecken sollte, die – eben jetzt: 1906 – „der Gestaltung einer Balladendichtung zustreben, … die so gerne das Wirken elementarer Mächte, das Eingreifen des Wunderbaren in das Menschenleben schildert.“ – Wolfgang Kayser trug diesen Tendenzen Rechnung, wenn er, und zwar zu einem Zeitpunkt, da mit der Lyrik Frank Wedekinds und Bertolt Brechts Gegenentwürfe einer modernen deutschen Ballade vorlagen, in seiner Geschichte der deutschen Ballade wie folgt definierte:

Balladendichtung. Ein Stück Welt öffnet sich, in dem es dröhnt von dem Hufschlag anstürmender Pferde, Rüstungen blitzen, herrische Rufe werden laut, es gibt nur Sieg oder Tod im Zusammenprall, aber über dem Sterbenden noch steht das Ziel, dem er treu blieb, und der einzelne wird zu einem aus der Schar der ewigen männlichen Kämpfer. Kurz: Die Ballade ist eine deutsche Dichtungsform.3

In der Tat: wie keine andere literarische Gattung ist die Ballade im Lauf des neunzehnten Jahrhunderts zum ,Walhall‘ der deutschen Literatur geworden, zum Ort, an dem Vaterländisches sich verklärt; die Nachfolger des zwanzigsten Jahrhunderts drehen sie dann zum dünnen Ende einer betont nationalen und völkischen und schließlich nationalsozialistischen Poesie. Drusus’ unglücklicher Sturz vom Pferd diente schon Karl Simrock zu nichts weiter als zur Paraphrase des „Gott mit uns!“ und Anbringung einer Warntafel wie:

Also wird Gott alle fällen,
Die nach Deutschlands Freiheit stellen.
4

Diesen „alten Gott, der die Schlachten will“5 sieht Börries von Münchhausen kurz nach 1900 wieder mächtig werden. Drei Schläge tut der „Deutsche Schmied“ Conrad Ferdinand Meyers:

Der erste schmiedet den Teufel fest,
Daß er den Welschen nicht siegen läßt.

Den Erbfeind trifft der zweite Schlag,
Daß er sich nimmer rühren mag.

Der dritte Schlag ertöne rein,
Er soll für die deutsche Krone sein!
6

Hier wird, mit Arno Holz’ parodistischer „Literaturballade“ im Buch der Zeit zu reden, „Urdeutsch doziert“ und „Gott erhalte“ gebrüllt; den Ruin der Literatur, für den solche Texte einstehen, faßt Holz ins Bild des nabelkauenden Eremiten.7 – In historischem Kolorit schafft sich aktuelle Emotion ihr schlecht versifiziertes Pathos.
Der Sieg wird „vom Himmel gerissen; heiß, wild und wundervoll“ ist die Schlacht im ersten Frühlingsgleißen.8 Notdürftig kaschierte Propaganda beschwört tragisches Schicksal, politisches Denken schrumpft zu heroischem Lebensgefühl zusammen: – genug, die Zitate sprechen für sich selbst!
Neuere Balladenanthologien, etwa die Deutschen Balladen Hans Fromms,9 sind also im Recht, wenn sie dieses Kapitel deutscher Literatur überschlagen und statt seiner für die Ballade der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts mehr oder weniger ausschließlich auf Theodor Fontane, Eduard Mörike, Detlev von Liliencron und weniger verfängliche Stücke C. F. Meyers rekurrieren. Jedoch: solche Auswahl verstellt die historischen Sachverhalte und gibt insofern ein verzeichnetes und falsches Bild von der tatsächlichen Produktion und ihren Gewichten; sie dokumentiert gegen den Strich. Läßt man aber die Unmasse patriotischer Balladendichtung und ihr Anschwellen zum Ende des neunzehnten, zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts außer acht, verliert sich leicht auch der Punkt aus dem Auge, gegen den eine Revolution der Ballade, wie sie eben Frank Wedekind und Bertolt Brecht unternommen haben, ihr Recht und ihre spezifischen kritischen Implikationen erhält. Dazu der folgende Versuch.
Vorweg ein Beispiel älterer Satire! Der Kasus war folgender, heißt es im Kontext eines Feuilletons Ferdinand Kürnbergers von 1872, „Hieronymus Lorm hatte weiland im Literaturblatt der ,Presse‘ einige Novitäten besprochen und zum Schlusse seiner Kritik gesagt, es wäre jetzt noch ein Haufe neuester Lyrik abzuurteilen oder vielmehr abzuschlachten, aber er könne das ganze Geschäft in einer kurzen Kollektivkritik erledigen… und so bringe er das, was er von Geist und künstlerischer Besonnenheit bei ihnen gefunden, wie in einem Spiegel zur Anschauung unter dem Schema der nachstehenden Ballade:

Der Ritter sprach zum Knappen:
Auf, satt’le mir den Rappen!
Drauf ritt er ins Getümmel
Der Schlacht auf seinem Schimmel etc
.10

Indem er in vier Strophen fünf Mal das Pferd die Farbe wechseln läßt, gibt Lorm ein „kleines Meisterstück parodistischer Satire“ auf die vaterländische Dichtung seiner Zeit; er travestiert die vaterländische Heldenballade. Bezeichnend ist, daß der Autor nicht aus den Texten herausspringt, auf die er anspielt, sondern sie mit ihren Mitteln karikiert und ad absurdum führt: es entsteht dabei ein ausgesprochener Groteskeffekt. – In die Groteske geht auch Frank Wedekind. Im „Lied vom armen Kind“ pervertiert der Heerzug zum Elendszug; es treten auf: das blinde Kind, der taube Mann, das lahme Weib, der räudige Hund und schließlich „die Jungfrau zart / Mit ihrem langen Knebelbart, / Die Jungfrau mit dem Knebelbart“.11
Für den Frühexpressionismus verweise ich auf Georg Heym und Gedichte wie „Robespierre“ oder „Louis Capet“, zu denen Kurt Mautz anmerkte:

Eine Hinrichtung als Inhalt eines Sonetts bedeutet den offenen Affront nicht nur gegenüber dem gehobenen Stil der symbolistischen Lyrik…, sondern aller konventionellen Poesie. Insbesondere hat sich gegenüber dem Genre der traditionellen historischen Ballade von Schiller über C.F. Meyer bis zu Börries von Münchhausen herab das Verhältnis des dichterischen Subjekts zum historischen Motiv und damit zur Geschichte selbst entscheidend verändert, nämlich ins Gegenteil verkehrt.12

Zusammen mit der Dreigroschenoper bildet die Hauspostille im dichterischen Werk Bertolt Brechts einen markanten Einschnitt; mit letzterer schließt die frühe Lyrik ab. Das am offensten politische Stück des Gedichtbandes, dem insofern eine Sonderstellung zukommt, ist die unter die „Kleinen Tagzeiten der Abgestorbenen“ aufgenommene „Legende“ – oder Ballade – „vom toten Soldaten“. Sie ist – nach den Erinnerungen Hans Otto Münsterers13 – gegen Ende des ersten Weltkriegs, vielleicht sogar in jenem Augsburger Lazarett entstanden, in welchem Brecht 1918 Dienst leistete. Tatsächlich lesen sich einzelne Strophen als direkter Reflex auf Ort und Vorfälle, denen Brecht damals konfrontiert war; zum Beispiel die fünfte Strophe:

Der Doktor besah den Soldaten genau
Oder was von ihm noch da war
Und der Doktor fand, der Soldat war k.v.
Und er drückte sich vor der Gefahr
.
14

– nur daß eben solcher Befund nicht an einem noch Lebenden, sondern an einem Toten, der längst den Heldentod gestorben ist, nicht an einem Verwundeten, sondern an einem Verwesenden geübt wird. Im paradoxen Bild treibt Brecht das Inhumane von Vorgängen, die er selbst beobachtet haben mag, heraus und steigert es ins Unerträgliche: der „vor der Zeit“ gefallene Soldat wird aus dem Grab gezerrt, nochmals k.v. geschrieben und – „Voran die Musik mit Tschindrara“ – abermals an die Front, in einen zweiten Heldentod beordert.
Ein solcher aus dem Leben des Autors gezogener Ansatz zur Interpretation hat jedoch seine Grenze am Text selbst. Das Besondere von Motivik und Form erfaßt man erst, wenn man auch Brechts „Legende“ als literarischen Gegenentwurf – als Satire – begreift; freilich geht Brecht darin ungleich weiter als etwa Lorm in seiner Travestie. Nehmen wir das Motiv des ,lebenden Toten‘! In der Schauerballade des späten achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhunderts vorgeprägt und dort im Motivzusammenhang des Totentanzes oder Geisterritts endlos variiert, übernimmt es die Heldenballade, verengt es aber zur puren Formel; in solcher Erstarrung dient es hauptsächlich zur Illustration heldischer Tugenden wie ,Treue über den Tod hinaus‘: Kriegsmut und Schlachtenbegeisterung werden durch den Tod nicht gebrochen, sondern leben – durch ihn illuminiert – im Toten weiter. „Wo steht die Front und wo mein Bataillon?“, heißt es in Münchhausens „Frage des Toten“.15 Der Tote hat weiter teil am Kampf, mengt sich noch einmal ins Getümmel, er sieht und triumphiert mit:

Vorwärts stürz ich, und im Sprunge
Triffts auch mich und reißt mich nieder.

Doch im Zorn das Meer, das graue,
Hat den Damm schon überflogen.
Talwärts, südwärts, siegwärts fluten
Blitzend, brausen unsre Wogen.

Wankend, blutend, jubelnd seh ich
Sie den Sieg vom Himmel reißen.
Heiße, wilde, wundervolle
Schlacht im ersten Frühlingsgleißen
.16

Verherrlichung des Krieges und pathetische Apotheose seiner Opfer sind in solchen und ähnlichen Versen unmittelbare Korrelate.
Dieser doppelten Glorifizierung und all ihrem formalen Aufwand schiebt Brecht schon mit der ersten Strophe seiner „Legende“ einen Riegel vor:

Und als der Krieg im vierten Lenz
Keinen Ausblick auf Frieden bot
Da zog der Soldat seine Konsequenz
Und starb den Heldentod.

Mit Blick auf den Frieden, der ausbleibt, wird „Heldentod“ hier zur Verzweiflungstat; die Ernüchterung der Phrase – und daß der Krieg jetzt kein Krieg des Soldaten mehr ist – wird in der Wendung „die Konsequenz ziehen“ sichtbar. Folgerichtig muß – mit dem Kontext des Gedichts, der weitergetriebenen Groteske zu reden – jede Wiedererweckung, jede Wiederherstellung des Toten zu neuem Einsatz, jedes Zurück in die Schlacht als Erpressung erscheinen. Die zweite Strophe macht mit dem Kaiser den Urheber solcher Vergewaltigung namhaft. Subjekt der Macht und ihr Objekt, in der Heldenballade doch stets harmonisch vermittelt, klaffen bei Brecht auseinander; der Charakter der Herrschaft entlarvt sich im ,Mitleid‘ des Kaisers, das sich als blankes Kalkül, als purer Egoismus entpuppt:

Der Krieg war aber noch nicht gar
Drum tat es dem Kaiser leid
Daß sein Soldat gestorben war:
Es schien ihm noch vor der Zeit.

In den folgenden Strophen kommt die Aktion nicht vom Kaiser selbst, sondern wechselt auf jene über, die seine Herrschaft nach unten repräsentieren und sehr wohl wissen, wie der stille Gedanke des Herrschers als Befehl zu interpretieren und in die Tat zu setzen ist. Die Schergen der Macht machen sich ans Werk: „militärische ärztliche Kommission“ und „geweihter Spaten“ walten ihres Amtes. Das ist der Sinn des moritatenhaften Bilderwechsels von den ersten beiden zur dritten und vierten Strophe; die fünfte Strophe, wie gesagt, läßt sich als direkter Reflex auf Brechts Augsburger Lazarett-Erlebnis lesen.
Kernstück der „Legende“ ist der Aufmarsch des toten Soldaten und derer, die ihn dazu treiben. Was hier die Folie betrifft, auf die Brecht seine Satire aufgetragen hat, geht man am besten von einigen Detailbeobachtungen aus. Die „Sterne der Heimat“ in der sechsten und das „Wiedersehn“ in der sechzehnten Strophe markieren das Wortfeld soldatischer Marschlieder; die neunte Strophe greift – „Klingkling bumbum tschingdada… Voran der Schellenträger“ zusammengefaßt zu „Voran die Musik mit Tschindrara“ – Detlev von Liliencrons „Die Musik kommt“17 auf; ebenfalls auf Parade weist die aus dem niederen Militärjargon entlehnte, im Textzusammenhang makaber wirkende Formulierung für Stechschritt:

Schmeißt seine Beine vom Arsch.

Brecht stört die militärische Schaustellung, wenn er ihr einen Kriegstoten unterschiebt; ein längst Gestorbener wird gewaltsam zum Helden präpariert. Für diese grause Gewaltsamkeit findet Brecht grellste Bilder:

Sie schütteten ihm einen feurigen Schnaps
In den verwesten Leib
Und hängten zwei Schwestern in seinen Arm
Und ein halb entblößtes Weib.

Der Parade als militärischem Ritual entsprechen in der Heldenballade Heerzug und Ausritt als motivisches Äquivalent:

Greif aus, du mein junges, feuriges Tier,
Noch einmal verwachs ich zentaurisch mit dir!
18

Unzählbar die Balladen, in denen einer auf diese Weise ins Abenteuer und in den Krieg reitet. Brecht gibt das Ende vom Abenteuer. ,Begeisterungstrunken‘ und ,siegestrunken‘ verkehren sich in „Wie ein besoffner Aff“. Oder aber „Wie im Sturm die Flocke Schnee“ zieht der Soldat nur taumelnd mit, und zwei Sanitäter müssen ihm unter die Arme greifen: „Sonst flög er noch in den Dreck ihnen hin.“ – Kein Aufschwung ins Abenteuer, keine Parade; ein Leidenszug bewegt sich voran.
Die verschiedenen Stationen dieses Leidenszuges haben jedoch noch eine andere Funktion als die, in der an einem Toten verübten Marter die Qual der Kreatur – ins Unsinnige gesteigert – aufscheinen zu lassen. Es ist nicht zu übersehen, daß der tote Soldat mit der Entfaltung der „Legende“ in den Hintergrund des Geschehens rückt; auch poetologisch gesprochen wird er zum Nicht-Helden. – Wir dürfen hier aufgreifen, was Brecht in seinem Aufsatz zur „Weite und Vielfalt der realistischen Schreibweise“ zu Shelleys Ballade „Der Maskenzug der Anarchie“, dem Vorbild seiner eigenen, nach dem zweiten Weltkrieg entstandenen Großballade „Freiheit und Democracy“ angemerkt hat; bei Shelley heißt es:

I met Murder on the way –
He had a mask like Castlereagh –
Very smooth he looked, yet grim;
Seven blood-hounds followed him.

Ich traf den MORD unterwegs –
Er ging maskiert wie Castlereagh –
Sehr glatt sah er aus, aber finster;
Sieben Bluthunde folgten ihm.

Zu Brechts Übersetzung gleich auch sein Kommentar:

So verfolgen wir den Zug der Anarchie auf London zu und sehen große symbolische Bilder und wissen bei jeder Zeile, daß hier die Wirklichkeit zu Wort kommt. Hier wurde nicht nur der Mord bei seinem richtigen Namen genannt, sondern, was sich Ruhe und Ordnung nannte, wurde als Anarchie und Verbrechen entlarvt.19

„Mit Gott für Kaiser und Vaterland“: unterlegt man Brechts Legenden-Ballade diese für die Wilhelminische Ära so symptomatische Formel, unter der dann auch die dem nationalisierten Bürgertum konforme Literatur, darunter nicht zuletzt die Balladenrenaissance des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, angetreten ist, dann stehen, nachdem vom Kaiser bereits die Rede war, noch die beiden Restposten – ,Gott‘ und ,Vaterland‘ – aus; ihre Kritik gibt Brecht in den Strophen acht und elf:

Und weil der Soldat nach Verwesung stinkt
Drum hinkt ein Pfaffe voran
Der über ihn ein Weihrauchfaß schwingt
Daß er nicht stinken kann.

Sie malten auf sein Leichenhemd
Die Farben Schwarz-Weiß-Rot
Und trugen’s vor ihm her; man sah
Vor Farben nicht mehr den Kot.

Den Zusammenhang liefert der als Leichenzug stagnierende pervertierte Heldenzug. Der tote Soldat bleibt tot, verwest und stinkt; das ist sein Widerstand. An diesem Widerstand läßt Brecht jene Kräfte sich brechen, die mit dem weihrauchfaßschwingenden „Pfaffen“ und den „Farben Schwarz-Weiß-Rot“ repräsentativ genannt sind: beide Mal erscheinen sie als Kräfte der Vertuschung, der Verheimlichung und Ablenkung; beide Mal enthüllt sie Brecht in ihrer propagandistischen Funktion. – Mit dem Totenhemd als nationaler Flagge, bzw. der nationalen Flagge als Totenhemd, gibt Brecht ein großes symbolisches Bild im oben bezeichneten Sinn.
Damit dringt Brecht ins ideologische Zentrum jener Literatur vor, deren Satire er in seiner „Legende“ gibt. Daß in den Schlußstrophen das gaffende Volk vor lauter „Tschindra und Hurra“ den Toten nicht mehr sieht, zeigt den Effekt der Propaganda und weitet die Kritik an den bestimmenden Kräften der Zeit zu der des Systems aus. Es bestätigt unseren Ansatz, wenn sich – in Strophe vierzehn – ein unmittelbarer Reflex auf jenen Franzosenhaß findet, der ein stehendes Ferment der deutschen Heldenballade ist. – In der letzten Strophe entläßt der Autor den toten Soldaten in einen zweiten Heldentod. Das Gedicht schraubt sich auf seinen Anfang zurück: der Tote bleibt das Opfer, das er ist; nur der Leser ist einen Schritt weiter!
Kurt Tucholsky erklärte Brechts Hauspostille lesenswert allein schon der „Legende vom toten Soldaten“ willen:

Wer die nicht kennt, sollte schon um ihretwillen das Buch in die Hand nehmen.20

Das Urteil gilt noch heute. – Nicht zur Sprache kam die formale Leistung Brechts. Die neue Bewegung der Form entspricht jedoch nur der kritischen Bewegung insgesamt. Brecht schreibt dazu in seinem Aufsatz „Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen“:

In der „Ballade vom toten Soldaten“ gibt es in neunzehn Strophen neun verschiedene Rhythmisierungen der zweiten Verszeile.

Und weiter – in einer allgemeinen Aussage über die frühe Lyrik:

Es handelte sich, wie man aus den Texten sehen kann, nicht nur um ein ,Gegen-den-Strom-schwimmen‘ in formaler Hinsicht, einen Protest gegen die Glätte und Harmonie des konventionellen Verses, sondern immer doch schon um den Versuch, die Vorgänge zwischen den Menschen als widerspruchsvolle, kampfdurchtobte, gewalttätige zu zeigen.21

Der doppelte Ansatz zu einer modernen deutschen Ballade von Frank Wedekind herauf – in einen Impuls zusammengefaßt – ist damit präzis formuliert: ihn zu fixieren, erscheint die „Legende vom toten Soldaten“ als instruktivstes Beispiel.
Die bisher geleistete Analyse – Brechts Text verstanden als Negation und Verweigerung – reicht jedoch nicht aus. Neben den Aufweis der satirischen Implikationen hat die Feststellung zu treten, in welche Affinitäten sich Brecht mit der „Legende vom toten Soldaten“ begibt, an welche kritischen Positionen der Zeit er sich konkret anschließt, in welchen Verbindungen sein kritisches Engagement steht. Dazu die beiden folgenden Exkurse:
Ungefähr parallel zur Entstehung von Brechts „Legende“ oder „Ballade“ arbeitet Karl Kraus an der Tragödie Die letzten Tage der Menschheit: auch eine Abrechnung mit dem ersten Weltkrieg. In den Gesprächen zwischen Optimist und Nörgler, jenen kommentierenden Szenen also, in denen die kritische Position des Dramas am deutlichsten zutage tritt, heißt es u.a.:

Einst zog man in den Krieg, jetzt wird man in den Krieg gezogen.22

Oder es ist – den Wortlaut des Stellungsbefehls, des Kriegsberichts zitierend – satirisch die Rede von „einrückend Gemachten“. Auch Kraus entzieht also der Helden-Poesie ihr ideologisches Fundament; das liegt mit in solcher sprachkritischen Einlassung. Brechts toter Soldat ist ein einrückend Gemachter in exakt dieser sich selbst decouvrierenden Bedeutung. Immer wieder geht es Kraus um die Bloßstellung der patriotischen Phrase, des patriotischen Pathos, der Kriegspropaganda. Zur Phrase vom ,Heldentod fürs Vaterland‘ merkt er beispielsweise an: „Jawohl, das Vaterland faßt die Gelegenheit, fürs Vaterland zu sterben, als Strafe auf und als die schwerste dazu. Der Staatsbürger empfindet es als höchste Ehre“;23 der Behauptung, daß der Krieg auch denen, die „ständig dem Tod ins Auge sehen müssen, einen seelischen Aufschwung“ gebracht habe, antwortet Kraus mit dem Hinweis auf die allgemeine Wehrpflicht (sprich: „allgemeine Galgenpflicht“), die dem mit Todesstrafe droht, der nicht gewillt ist, dem Tod fürs Vaterland ins Auge zu schauen. Resümee:

Ich beneide den Tod nicht darum, daß er sich jetzt von so vielen armen Teufeln ins Auge blicken lassen muß.24

Eine Gefallenen-Anzeige wird zitiert: „Sein weiter kaufmännischer Blick ließ ihn früh die großen Kampfesziele erkennen und freudig zog er hinaus pro gloria et paitia“, Überschrift: „Letzte Wahrheit über den Weltkrieg“.25 Ein Akt der Demaskierung; der Sprache des Krieges wird die Larve abgerissen, in der auf den Kopf gestellten Phrase, in der verfremdeten und verfremdenden Reproduktion zeigt sich die versteckte, die abgeschirmte Wahrheit. Brecht tendiert – in der Satire – zu ähnlicher Aufklärung, wobei freilich mitzunotieren ist, daß seine Methode der Erhellung noch sozusagen ,poetisch‘ verfährt, während die Sprachkritik bei Karl Kraus unmittelbarer am blanken, direkt der Gebrauchssphäre entnommenen Sprachfakt sich vollzieht. Doch: so gut wie bei Karl Kraus kommt in Brechts „Legende vom toten Soldaten“ Wirklichkeit zu Wort, wird brutale Gewalt Gewalt, grausame Vergewaltigung Vergewaltigung genannt, und zwar – wenn man die späte Äußerung zu Shelleys „Maskenzug der Anarchie“ auf den frühen Text projizieren darf – in großen, symbolischen Bildern.
Vom Fackel-Kraus und Weltuntergangsdrama Die letzten Tage der Menschheit schlägt der andere Hinweis die Brücke nach Berlin und dort zu Aktivitäten im Umkreis des spezifisch Berliner Dadaismus, der von Anfang an eine starke politisch-satirische Komponente enthält. – Wir hatten die fünfte Strophe der „Legende vom toten Soldaten“ –

Der Doktor besah den Soldaten genau
Oder was von ihm noch da war
Und der Doktor fand, der Soldat war k.v.
Und er drückte sich vor der Gefahr

– zunächst als direkten Reflex auf Brechts Augsburger Lazarettdienst Ende des Jahres 1918 gelesen. Davon ist kaum etwas zurückzunehmen. Dennoch färbt sich der Sachverhalt in ganz bestimmter Weise ein, wenn man weiß, daß im selben Jahr 1918 – nun seinerseits auf Lazarett-Erlebnisse zu Beginn des Jahres 1917 rekurrierend – George Grosz eine Zeichnung geschaffen hat, die fast exakt dieselbe Szene gestaltet: ,Kv‘-Schreibung eines Soldatenkadavers vor „militär- / isch ärztlicher Kommission“. Mit dem Titel „Le triomphe des sciences exactes, Die Gesundbeter, German doctors fighting the blockade“ wurde das Blatt zur Nummer fünf der Juni 1920 im Malik-Verlag erschienenen Graphik-Mappe Gott mit uns, ist jedoch schon früher publiziert worden, zum Beispiel Frühjahr 1919 in Nummer drei der ebenfalls vom Malik-Verlag herausgegebenen Zeitschrift Die Pleite, dort – bereits aktualisiert – „Den Ärzten von Stuttgart, Greifswald, Erfurt und Leipzig gewidmet“ und mit der Unterschrift:

4½ Jahre haben sie dem Tod seine Beute gesichert, jetzt, als sie Menschen das Leben erhalten sollten, haben sie gestreikt. Sie haben sich nicht geändert. Sie sind sich gleich geblieben. Sie passen in die ,deutsche Revolution‘.26

Entscheidend ist nicht, ob Brecht beim Entwurf seiner „Legende“ oder „Ballade“ diese und ähnliche Zeichnungen von Grosz kannte, sondern daß eine solche frappierende Parallelität besteht. Immerhin: die direkte Kenntnis selbst zu so frühem Zeitpunkt ist nicht ganz auszuschließen, hatte doch bereits 1916 in den Weißen Blättern Theodor Däubler auf den Zeichner Grosz hingewiesen, waren 1917 die „Erste George Grosz-Mappe“ und die „Kleine Grosz-Mappe“ sowie Einzelzeichnungen in Zeitschriften publik geworden; Letzteres unter anderem in der Malik-Zeitschrift Neue Jugend, die ihrerseits 1917 in verschiedenen deutschen Städten, darunter auch in München, wo sich ja Brecht Ende des Jahres 1917 aufhielt, Autorenabende veranstaltete, zu denen Wieland Herzfelde erinnert, daß sie „mehr der Agitation gegen den Krieg dienten als der Propaganda für die Zeitschrift.“27 Caspar Neher, der neben Brechts Erstlingsdrama Baal auch die „Legende vom toten Soldaten“ illustrierte, könnte eine gewisse Vermittlerrolle gespielt haben. – Für den Fall aber, daß ein solcher direkter Bezug ausscheidet, für den Fall also, daß Brechts Text nicht geradezu als Übersetzung des Grosz’schen Zeichenstifts ins Gedicht aufzufassen und dementsprechend als Bekenntnis zu Grosz und zur kritisch-satirischen Berliner Avantgarde zu werten ist, bleibt doch, daß Brecht mit der „Legende vom toten Soldaten“ ein Engagement getroffen hat, das zumindest im Nachhinein zu solcher Identifikation herausforderte und sie bestätigte. In Berlin, wohin Brecht 1924 übersiedelte, ist das Gedicht sicher erst in den frühen zwanziger Jahren, mithin nach den einschlägigen Graphik-Veröffentlichungen von Grosz bekannt geworden; wie kein anderes Stück der frühen Lyrik galt – Freunden wie Feinden – gerade die „Legende“ als eindeutiges politisches Bekenntnis des Autors und klare Positionsbestimmung gegenüber den Berliner Klassenkampffronten. Die Linie zu George Grosz – allerdings nicht zu den Bildern, Zeichnungen und Graphiken, sondern zu dessen frühen Gedichten – zieht Kurt Tucholsky in der oben aufgeführten Rezension. Direkt zur „Legende“ merkt er noch an:

Den Preußen hats ja mancher besorgt – so gegeben hats ihnen noch keiner. … Das ist eine lyrische Leistung großen Stils, und wie man mir erzählt hat, soll das Lied in den Kreisen junger Kommunisten beginnen, populär zu werden.

Der unmittelbar anschließende Absatz faßt die Anmerkungen zur Hauspostille zu einem Gesamturteil zusammen, und hier heißt es: „Nur noch die Jugendgedichte von George Grosz haben diesen Ton – sonst wohl nichts.28 – Die Feinde:

schon 1923, zur Zeit des ersten Hitlerputschs, soll Brecht auf der Liste der nach der Machtergreifung zu verhaftenden Personen an fünfter Stelle gestanden haben – hauptsächlich weil ihm vorgeworfen wurde, er habe die Ehre des deutschen Soldaten in seiner „Legende vom toten Soldaten“ in den Kot gezogen. Als die Nazis nach ihrer Machtergreifung 1933 die Bücher ihrer ideologischen Gegner den Flammen überlieferten, waren Brechts Bücher unter den ersten, die ins Feuer geworfen wurden. Später wurde er seiner deutschen Staatsbürgerschaft für verlustig erklärt, und zwar wieder als Verfasser der „Legende vom toten Soldaten“.29

Karl Riha, aus TEXT+KRITIK – Bertolt Brecht II, Richard Boorberg Verlag, 1973

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