Leslie Meier: Zu Wolfgang Weyrauchs Gedicht „Atom und Aloe…“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Wolfgang Weyrauchs Gedicht „Atom und Aloe…“ aus Hans Bender (Hrsg.): Mein Gedicht ist mein Messer. –

 

 

 

 

WOLFGANG WEYRAUCH

Atom und Aloe
im letzten Areal
des schwarzen Ninive
der Hauch flieht vor der Zahl

Der Kehricht küßt den Aal
Atom und Aloe
das Schweißtuch würgt den Wal
rings um Gethsemane

Atom und Aloe
der Kern erstickt das Tal
der Mantel scheucht die See
bis zu dem Marterpfahl

Die Käfer fressen Kral
Atom und Aloe
und Kathedrale kahl
dann fällt der rote Schnee

Atom und Aloe
das scharlachrote Mahl
der Hirschkuh mit dem Reh
verzehrt zum letzten Mal

im letzten Areal
des schwarzen Ninive
der Hauch floh vor der Zahl
Atom und Aloe

Atom Atom und Aloe
die Aloe stäubt das Atom
Gespinst von Lotos und von Schleh
der Reisig selbst wird autonom

der Zephyr zirpt Hallelujah
Zenith Nadir Nadir Zenith
die Taube im Himalaya
erwidert mit dem ersten Lied

das Murmeltier pfeift den Akkord
der Esel schreit den Intervall
sogar das Lallen und das Wort
entgegnen dem Oboen hall

ein Mr. Smith in Turkestan
ein Dimitrij in Mexico
entzücken sich am Zimbelhahn
und schlafen auf dem Harfenstroh

die Sonnenuhr wirft Schatten aus
auf Hosenmatz mit Lid und Zeh
auf Elefantenohr und Laus
auf Ninive und Aloe

das Kanu zieht hebridenwärts
Diakonie an Bord denn jetzt
und immer tönt die Terz:
das Brudersegel ist gesetzt […]

 

Wolfgang Weyrauch,

für’s Gedicht engagée plädierend, für den Vers mit Zeitanstoß und in menschlich-politischem Auftrag, Wolfgang Weyrauch, hinter den vier Zeilen her, die die Welt verändern, sieht die Aufgabe des Schriftstellers, sieht seine besten Möglichkeiten darin, „die Summe des Bösen zu vermindern und die Summe des Guten zu vermehren“. Ein Standpunkt, den ich akzeptiere, mit der Zusatzklausel allerdings, daß mir die Proklamation des Guten allein noch nicht als Blankoscheck für eine Zustimmung hinlangt, daß ein Gedicht zu bewerten ist nach Maßgabe seiner Erfüllung, nicht seiner Ansprüche und Vor-Forderungen; daß ein Gedicht mit dem Thema „Güte“ seine ästhetische Qualifikation zu erweisen hat genau so dringend wie ein anderes mit dem Thema „Blumen“, „Liebe“, „Weltschmerz“, „Morphium“ oder „Rhabarberkompott“: daß es innerhalb seiner selbstgewählten Grenzen stimmen muß und seine Konsequenzen zu ziehen hat.
Weyrauch, er hat einige ausgezeichnete Verse geschrieben, heute steht ein Gedicht wider den Atomschrecken zur Debatte, ein Zwölfstropher, publiziert im Jahre 1955 und Verlag Rothe. Der Autor gibt sich im Begleittext als der Politischste der Politischen. Er hat es akut eilig, an den Zeitgenossen heranzukommen, da scheint ihm die Gattung Gedicht gerade gut und nutze:

Auch könnte ich ein Gedicht wohl am schnellsten schreiben. Das Thema muß unter die Leute.

Das klingt nun nach alten, schönen Konspirationszeiten, nach 1848er Flugblatt oder Kabarettvorstoß, vor allem aber nach Wladimir Majakowski. Dem genialen Futuristen, der auf akute Anlässe mit gezielten Strophen zu reagieren pflegte, und dessen Poetik, „Wie macht man Verse“, an die Entstehung eines solchen Gedichts anknüpft.
Was wir Majakowski abnehmen, eine durchaus originäre Arroganz als Zweckpoet, diese Keckheit des Sozialsnobs, empfinden wir beim Nachvollzieher bestenfalls als Pose zweiter Hand, als etwas Angelesenes: hier paßt’s nicht auf den Mann, nicht in die Situation, nicht für den Text. „Das Thema muß unter die Leute“ –?
Wo die Gedichtmanufaktur „Presto“ in Bütten arbeitet, soll der Autor nicht keck wie ein Propagandaprotz auftreten. Und wie sehen schließlich die Verse aus, die da mit Agitationsanspruch vor uns treten? Nunja, so:

Atom und Aloe
im letzten Areal
des schwarzen Ninive
der Hauch flieht vor der Zahl

Der Kehricht küßt den Aal
Atom und Aloe
das Schweißtuch würgt den Wal
rings um Gethsemane

Atom und Aloe
der Kern erstickt das Tal
der Mantel scheucht die See
bis zu dem Marterpfahl

Die Käfer fressen Kral
Atom und Aloe
und Kathedrale kahl
dann fällt der rote Schnee

Atom und Aloe
das scharlachrote Mahl
der Hirschkuh mit dem Reh
verzehrt zum letzten Mal

im letzten Areal
des schwarzen Ninive
der Hauch floh vor der Zahl
Atom und Aloe

Atom Atom und Aloe
die Aloe stäubt das Atom
Gespinst von Lotos und von Schleh
der Reisig selbst wird autonom

der Zephyr zirpt Hallelujah
Zenith Nadir Nadir Zenith
die Taube im Himalaya
erwidert mit dem ersten Lied

das Murmeltier pfeift den Akkord
der Esel schreit den Intervall
sogar das Lallen und das Wort
entgegnen dem Oboen hall

ein Mr. Smith in Turkestan
ein Dimitrij in Mexico
entzücken sich am Zimbelhahn
und schlafen auf dem Harfenstroh

die Sonnenuhr wirft Schatten aus
auf Hosenmatz mit Lid und Zeh
auf Elefantenohr und Laus
auf Ninive und Aloe

das Kanu zieht hebridenwärts
Diakonie an Bord denn jetzt
und immer tönt die Terz:
das Brudersegel ist gesetzt […]

„Atom, das frißt uns an“, heißts im Beitext – konzediert, wenn auch mit Abstrichen; jenem Einwand nämlich, daß das noch keine Novelle ist, die unbedingt und auf die Schnelle publiziert werden müßte. Das ist mir geläufig, gerade in seiner undeutlichen Verallgemeinerung, gerade in solch mystisch-kleistriger All- und Nichtsumfassung: das Atom frißt uns nämlich primär und als solches überhaupt nicht an; im Gegenteil, wir bestehen daraus, wir, diese Zeitungsseite, der Autor selbst wie seine Aloe „das Gegenteil, ja der Widersacher des Atoms“ – (?). Widersacher des Atoms. – Kurz ein Überblick: Aloe, Gattung aus der Familie der Liliaceen, teils kleine Kräuter, teils baumartige Gewächse; etwa 200 Arten; der eingetrocknete, bittere Saft dient als leichtes, unschädliches Abführmittel – Widersacher des Atoms? Aus Aloesaft gewann man im Mittelalter das Elixier ad longam vitam: aha, „Das Thema muß unter die Leute.“
Ich bin nicht bösartig, aber wo sich Blumenmystik als Zeitkritik interpretiert, wo durch die Blume spricht, was sich „Pragmatist der Poesie“ nennt, messe ich am Anspruch, basta.
Als Kind pflegte man mir den Daumen gegen das Lutschen mit Aloesaft einzuschmieren, später durfte ich dann beim Wilhelm Busch lesen „dort steht die bittre Aloe / setzt man sich drauf, so tut es weh“, alo ahe, und jetzt muß ich plötzlich die schnurrige Pflanze als Atomschutz angepriesen finden:

Ich will nicht fetischistisch sein. Aber kommt es von ungefähr, daß Beide, Atom und Aloe, mit A anfangen, und daß jedes von ihnen aus vier Buchstaben besteht? Daß das O bei Beiden der dritte Buchstabe ist?

Will nicht fetischistisch sein, aber Zahlenkabbalist gern, gell? O selige Schottel und Harsdörffer mit Assoziationsethymologie und Stammsilbenmystik, wer tritt da im Jahre 1955 in die ulkigsten Eurer Spuren. Gar mit der Maßgabe „eine Unruhe zu verursachen“ und, nun ja, „Tabus anzufechten“.
Ich möchte noch einen Augenblick bei der ersten Zeile verweilen, von ihr aus erschließt sich ein Großteil der übrigen 47 zwanglos. „Atom und Aloe“, erläutert Weyrauch, „das Wortpaar ist durch Assoziation entstanden“ und „es stimmt nicht, daß Assoziationen im Additiven steckenbleiben. Sie sind Figurationen der Tiefe“ – mag sein, aber wenn ich hier einmal zu gleichen Bedingungen und in gleicher Tiefe mitassoziieren darf:

1. Amol (Einreibemittel gegen Rheuma, die 20-g-Flasche zu 0,45 DM)

2. Aeon (Bei den Gnostikern göttliche Kraft, die von Anfang an von Gott emaniert)

3. Amor (Gott der Liebe; Sohn der Venus und des Merkur)

4. Amok (malaiisch, Raserei blindwütiger Mörder)

5. Aron (Pietro. Mönch vom Kreuzträgerorden, Musiktheoretiker)

6. Aloi (gesetzmäßiger Gehalt, Schrot und Korn einer Münze)

Alles Wörter à vier Buchstaben, das A an erster, das O an dritter Stelle, alles gleich tief und gleich hergeholt, aber zu 80% als atomgegnerisch interpretierbar. –
Oberflächliche Formmechanismen: das möchte ich auch an anderem nicht unbewiesen lassen. Also, so sehr ich Reime schätze, und gerade den zugespitzten, hochgedopten, finalistischen Reim, den durch artifizielle Kunstgriffe wieder flott gemachten, wie er nicht nur unsere lyrische Spätbewegung kennzeichnet – was hier an Gereimtem vorliegt, scheint sich über Kuhglockengebimmel kaum zu erheben. Zwar, und das deutet wieder auf die vordergründige Effektmache, wird reimlich gepaart, was in Jahrhunderten vorher sicher nie zur Vereinigung fand, Aloe und Ninive, Tal und Marterpfahl, Atom und autonom, Hallelujah und Himalaya, Turkestan und Zimbelhahn – und doch hat man eigenartigerweise überhaupt nicht den Geschmack wirklicher Erlesenheit und künstlerischer Raffinesse auf der Zunge. Nehmen Sie die ersten sechs Strophen, fixieren Sie die al-Serie: da wird die Skala heruntergeklingelt, wie es in Rilkes berüchtigtem Gral-Mahl-Saal-Poem nicht aufdringlicher geschah; das Dauergeläute entwertet, die tatsächliche Spannung aber, die zwischen den Reimen herrschen kann, bleibt aus. Bleibt aus auch zwischen so ohrenfälligen Raritäten wie Aloe-Ninive, Aloe-Gethsemane. Zwei Fremdklänge, Fremdwörter miteinander paaren: da beginnt bereits die Inflationierung, und der Spannungsabfall für’s empfindliche Ohr. Wenn man’s mir nicht abnehmen will, bitte ich, eine analog zielende Bemerkung des Karl Kraus nachzulesen, wie sie sich in der Fackel Nr. 775 vom April 1927 auf der Seite 32 findet: „Ein toter Reim ist ferner der zweier Fremdwörter…“ und „Um so stärker wird der Reim sein, wenn ein Fremdwort mit einem deutschen gepaart wird“. An dieser Eintönigkeit krankt tatsächlich eine Vielzahl der scheinbaren reimlichen Raritäten Wolfgang Weyrauchs. Betrachtet man unter solchen Voraussetzungen die Paarung Aal-Wal, die widerstandslose Deckung zweier Einsilber gleichen Sinn- und Sachbereichs, eine Paarung überdies, in die der jambische Leierkasten zweier völlig parallel gebauter Sätze einmündet:

der Kehricht küßt den Aal

das Schweißtuch würgt den Wal

so wird ohne weiteres die geringe Subtilität evident, die hier ein scheinbar pretiöses Gedicht durchwaltet.
Der Reiz eines Reims besteht ja heute nicht mehr in der kruden Deckung zweier Klänge, es sind vielmehr ganz außerordentliche Kunstgriffe erforderlich, um dem Reim Originalität und Spannung zu verleihen: schließlich will er nicht als störendes Scheppern, sondern als formale Attraktion empfunden werden. Regenerierung des verbliebenen Reimmaterials darf sich nicht nur in der vordergründigen Unerhörtheit eines Zusammenklangs erschöpfen, es gilt eine möglichst große Differenzierung der Reimpartner zu erreichen. Erst wo ein einfaches auf ein (quantitativ) kompliziertes Wort stößt, ein Verb auf ein Substantiv, ein Abstraktum auf ein Faßbares, ein eingeborenes auf ein Fremdwort, ein Dutzendwort auf eine Erlesenheit, ein Pol auf einen Gegenpol gelingt es, den Reim zum elektrizitätsspendenden Element werden zu lassen.
Sehen Sie, wie ihm da kurz vor Schluß der al-Reihe der Odem ausgeht, und ein überaus störender Mahl-Mal-Reim weniger erklingt als erklappt; da wird die Masche zur Laufmasche und das schlechte Gewebe durchsichtig: durchsichtig wie im Fall Himalaya-Halleluja –.
O nein, ich bin kein Schulfuchs, man kann unreine und auch, so mißgenannt, reiche Reime gegebenenfalls einbauen, kann sie sogar prinzipiell ansetzen; wehe aber dem Gedicht, wenn die Notwendigkeit auftritt als Zwangsläufigkeit und sichtbar wird als Unvermögen.
Indezent aufdringlich wie der Reim, bei gleicher innerer Kraftlosigkeit, tritt im übrigen auch die Alliteration auf. Stabreimende Krafthuberei leistet in diesem Fall ein Übersoll, das mit Intensität und Energie nichts zu tun hat. „Überladung mit Gleichklängen, Alliteration und so weiter“, so möchte ich nur kurz aus Majakowskis wundervoller Poetik vorlesen „erzeugt beim Leser schon nach wenigen Augenblicken das Gefühl der Übersättigung…
Man denke immer daran, daß der Grundsatz der Sparsamkeit in der Kunst beständig die wichtigste Regel jeder Produktion ästhetischer Werte ist.“
Zwei Sätze, die uns schnell das nächste Kapitel einleiten dürfen: die kunterbunte Bilderwelt. Bunt, das heißt grell und zugleich wirkungslos, vielfarbig und doch unkomponiert, ohne bildliche Folgerichtigkeit, ohne großen metaphorischen Schwung, greif hier mal hin, greif da mal hin, greif auch mal in die Mitte. Schweißtuch und Wal, welche Schwierigkeit, den verbindenden Bogen zu schlagen, welche Möglichkeiten auf der anderen Seite, ein spannungsreiches und doch festes Integral zu entwickeln, und nun würgt’s, das Schweißtuch, und der Leser steht fassungslos visavis. Nein, man soll nicht immer den Surrealismus für ausgerutschte Bilder ins Feld führen, postsurreal: das gilt heute geradezu als Paragraph 51 für alles Schiefe, und noch fürs Mißerfundenste. Lieber, lieber Leser, ein Schweißtuch von Gesichtsgröße soll einen Wal alliterierend erwürgen, gar „rings um Gethsemane“ –!
Weyrauch, in seiner Selbsterläuterung, versucht Dinge und Sinnzusammenhang per Überratio zurechtzubiegen:

Der Wal wird, wenn es soweit ist, sogar nach Israel kommen, in das Heilige Land, um es zu verschlingen. Aber die heiligen Gegenstände werden sich erheben und, vergiftet, wie sie bereits sind – gleichsam zum Überwal geworden –, den Wal töten, statt ihn zu lieben und so zu überwinden.

So genau wollten wir’s gar nicht wissen, über die Eselsbrücke gehen wir nicht; Logik stand schon lange nicht mehr zur Debatte: Bildlogik, so hieß die Frage, und unter dieser Voraussetzung ist das walwürgende Schweißtuch (das nun, so sagt’s die Zeile: rings um Gethsemane würgt) so mißgemalt wie der Kern, der in der folgenden Strophe das Tal erstickt. „Der Kern, der Mantel des Mordatoms. Ich werde deutlich“, beteuert die Gebrauchsanweisung; aber bitte, sage ich, wofür halten Sie uns, das Atom hat einen Kern, wir sind im Bilde; aber daß ein Kern, und wir bleiben im Bilde, daß etwas Konzentriertes, zusammengezogenes, auf kleinstem Raum Geballtes, sagen wir das Kernhafte schlechthin ein Tal ersticken soll, etwas Weites also, Offenes ersticken kann, will uns nicht in den Kopf, schon gar nicht ins Auge.
Woran krankt diese Lyrik?
An der Unbescheidenheit der Ansprüche und der Unentschiedenheit der Ausführung! Wer unter der Formulierung „Mein Gedicht ist mein Messer“ antritt, wer sich derart als Messerwerfer und Propagandapoet exponiert: von ihm kann verlangt werden, daß er klar und scharf die Position bezieht, deren Ruf er beansprucht.
Wer sich dann, in praxi, mit den Schmuckstücken und Zieraten einer Poesie pure behängt, sich den Luxus eines exquisiten Vokabulars leisten möchte und leistet: er hat in allen formalen Disziplinen seine Integrität und Könnerschaft zu erweisen, seine Fähigkeit zur homogenen Vision, die in sich selbst beschlossen, der krückenhaften Interpretation nicht bedarf.
Mag es möglich sein, beide Richtungen zu synthetisieren und zur Vereinigung finden zu lassen, Wolfgang Weyrauch, in bilateraler Unentschiedenheit, wird in diesem Gedicht weder als „Tabuanfechter“ und „Beunruhiger“ sichtbar, noch kommt er formal über oberflächliche Konjunkturen und Vokabelshake hinaus.

Leslie Meier (das ist Peter Rühmkorf), Erstdruck Studentenkurier Nr. 4, 1957

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