Arno Holz’ Gedicht „Die achte Todsünde“

ARNO HOLZ

Die achte Todsünde

Ein Dichter darf mit seinen Sachen,
Uns wüthend, darf uns rasend machen,
Wir stecken’s schliesslich ruhig ein,
Wer wird denn immer „Kreuzigt!“ schrein?
Nur Eins wird man ihm nie verknusen,
Und gäb’s statt neun selbst neunzig Musen:
Wenn er in Reimen wässrig thränt,
Indess sein armer Leser gähnt.
Drum, wer uns langweilt oder ledert,
Verdient, dass man ihn theert und federt!

1886

 

Konnotation

Binnen weniger Jahre wandelte sich der Dichter und Dramatiker Arno Holz (1868–1929) vom literarischen Epigonen zum lyrischen Revolutionär. Nach einem unauffälligen Beginn mit konventionell gereimter Zeit- und Sozialkritik, die in seinem aufmüpfigen Buch der Zeit (1886) dominiert, verkündete er 1899 die „Revolution der Lyrik“ und die Überwindung der klassischen Kunstmittel Reim und Metrum.
Schon in den lässig gereimten Gelegenheitsgedichten aus dem Buch der Zeit hat Holz alle Ehrfurcht vor der Gattung abgestreift. Sein Interesse gilt nicht der klassischen Musikalität oder Formvollendetheit seiner Verse, sondern dem gesellschaftskritischen Potential und der polemischen Kraft seiner Texte. Die alte Forderung des römischen Dichters Horaz an die Poesie, sie solle nutzen und erfreuen – „prodesse et delectare “ – interpretiert der junge Arno Holz als Appell, den Leser „wütend“ und „rasend “ zu machen, ihn mit politischer Provokation zu reizen.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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