Christa Reinigs Gedicht „Endlich“

CHRISTA REINIG

Endlich

Endlich entschloß sich niemand
und niemand klopfte
und niemand sprang auf
und niemand öffnete
und da stand niemand
und niemand trat ein
und niemand sprach: willkomm
und niemand antwortete: endlich.

1970er Jahre

aus: Christa Reinig: Sämtliche Gedichte. Eremiten-Presse, Düsseldorf 1984

 

Konnotation

Die stärkste Waffe der Dichterin Christa Reinig (1926–2008) war ihre ästhetische Renitenz. Die unehelich geborene Tochter einer Putzfrau im Berliner Osten geriet schon früh in Konflikt mit den Doktrinen des SED-Staats. In ihrem lyrischen Frühwerk schockierte Reinig mit Gedichten von giftigem Fatalismus. In Walter Höllerers Anthologie Transit (1956) erschien die „Ballade vom blutigen Bomme“, eine finstere Moritat auf einen Delinquenten unter dem Fallbeil, „schärfer als Faschismus“.
Das Gedicht han
delt in erster Linie von Einsamkeit. Aber Reinig konterkariert auch in lakonischem Minimalismus das Pathos der Entscheidung, verkehrt die Formeln eines substantiell unbestimmten Aktivismus in ihr Gegenteil. Die große Aktion, die vom Adverb „endlich“ annonciert wird, erweist sich paradoxerweise als Stillstand. Denn der Protagonist all der annoncierten Handlungen ist das Indefinitpronomen „niemand“. Wenn das Indefinitpronomen in einigen Versionen des Gedichts groß geschrieben ist („Niemand“), dann wird es zum Subjekt wie einst in der homerischen Erzählung über die List des Odysseus gegen den Riesen Polyphem.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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