Christian Morgensterns Gedicht „Gleichnis“

CHRISTIAN MORGENSTERN

Gleichnis

Palmström schwankt als wie ein Zweig im Wind…
Als ihn Korf befrägt, warum er schwanke,
meint er: Weil ein lieblicher Gedanke,
wie ein Vogel, zärtlich und geschwind,
auf ein kleines ihn belastet habe –
schwanke er als wie ein Zweig im Wind,
schwingend noch von der willkommnen Gabe…

1910

 

Konnotation

Einem größeren Lesekreis bekannt wurde der 1871 geborene und 1914 verstorbene Christian Morgenstern besonders als Dichter humorvoller Verse. Diesen Ruf begründen vor allem seine Galgenlieder (1905) und der Band Palmström (1910), in denen Morgenstern sich nicht nur als sprachbewusster Anverwandter philosophischer Ideen erweist, sondern auch als großer Wortfetischist mit einer Vorliebe für bizarrschöne Wortneuschöpfungen wie dem Mondschaf, der Auftakteule oder dem Siebenschwein.
Palmström, der idealistische Held aus dem gleichnamigen Band, berichtet hier von einem wunderbaren, inspirierenden Moment. Wie auf einem Zweig hat sich ein lieblicher Gedanke in Vogelgestalt auf ihm niedergelassen, wodurch er in Schwingung geriet. Der mit den beiden letzten Versen als Reprise wiederaufgegriffene Anfangsvers zitiert die Vorstellung vom Dichter, den ein winziger Moment bereits inspirieren kann. Diese Nobilitierung des poetischen Einfalls zeigt also, dass der Idealist und Erfinder Palmström auch ein Dichter ist.

Norbert Lange (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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