Else Lasker-Schülers Gedicht „Frühling“

ELSE LASKER-SCHÜLER

Frühling

Wir wollen wie der Mondenschein
Die stille Frühlingsnacht durchwachen,
Wir wollen wie zwei Kinder sein.
Du hüllst mich in dein Leben ein
Und lehrst mich so wie du zu lachen.

Ich sehnte mich nach Mutterlieb
Und Vaterwort und Frühlingsspielen,
Den Fluch, der mich durchs Leben trieb,
Begann ich, da er bei mir blieb,
Wie einen treuen Freund zu lieben.

Nun blühn die Bäume seidenfein
Und Liebe duftet von den Zweigen.
Du mußt mir Mutter und Vater sein
Und Frühlingsspiel und Schätzelein
Und ganz mein eigen.

1902

aus: Else Lasker-Schüler: Gedichte 1902–1943. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1996

 

Konnotation

An der Mythisierung ihres poetischen Werks hat die deutsch-jüdische Dichterin Else Lasker-Schüler (1869–1945) nach Kräften mitgearbeitet. So behauptete sie wenig glaubhaft, dass sie die Gedichte ihres ersten Buches Styx (1902) als 15- bis 17jährige geschrieben habe: „Ich hatte damals meine Ursprache… wiedergefunden, noch aus der Zeit Sauls, des Königlichen Wildjuden herstammend. Ich verstehe sie heute noch zu sprechen, die Sprache, die ich wahrscheinlich im Traume einatmete.“
In ihrem frühen Liebesgedicht gestattet sich die junge Lasker-Schüler noch einen fast naiv-verträumten Zugriff auf die Liebe als Utopie, in der Sinnlichkeit, Sehnsucht, Naturzeichen und Jahreszeiten kongruent sind. „Ihre besondere Note“, so ein Rezensent des Styx-Bandes, „erlangt sie, wenn sie zeitweilig alle Ängste von sich abschüttelt und ihre Sehnsucht und die Erfüllung dieser Sehnsucht in überirdisch zarten Traumvisionen ausspricht und vorwegnimmt.“ Aber schon hier ist der traumatisierende „Fluch“ benannt, der ihr Leben prägen sollte: der frühe Verlust der Mutter und der „Mutterlieb“, den die Geliebten nie kompensieren konnten.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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