Erich Frieds Gedicht „Ohne Deutung“

ERICH FRIED

Ohne Deutung

Wer Liebe meint
muß nicht Schönheit sagen
Wer Verlieren meint
muß nicht Liebe sagen

Wer Weinen meint
muß nicht sagen Enttäuschung
und wer nicht schlafen kann
nichts von Erweckung

Wer Erinnerung meint
muß keine Gründe angeben
und die Vergangenheit
nicht an die Zukunft abgeben

Wer träumt verschläft seinen Traum
wer wacht bewacht seine Lügen
Die Wahrheit bleibt ungezügelt
noch in den letzten Zügen

1964

aus: Erich Fried: Warngedichte. Carl Hanser Verlag, München 1979

 

Konnotation

Der politisch eingreifenden Dichtung Erich Frieds (1921–1988) hat man nicht ganz zu Unrecht vorgehalten, sich als „Lyrik mit erhobenem Zeigefinger“ zu gerieren. Der Autor selbst hat diese Gefahr der Besserwisserei schon früh erkannt und anlässlich seiner Warngedichte von 1964 erklärt, er wolle jeden belehrenden Gestus im Geiste einer sozialistischen Weltanschauung vermeiden. Die Warngedichte seien sprachempfindliche Reaktionen „beim plötzlichen Erfassen der Zusammenhänge zwischen verschiedenen Zeitungsmeldungen“.
Die großen schweren Wörter der Poesie, die Bekenntnis-Vokabeln „Liebe“ und „Traum“ und die Kategorien „Schönheit“ und „Wahrheit“ werden hier auf ihre Tauglichkeit geprüft, ihr unbedachter Gebrauch wird in Frage gestellt. Die letzte Strophe markiert die Bodenlosigkeit so mancher Selbstlegitimation. „Die Wahrheit“ ist letztlich nicht instrumentalisierbar. Der Titel des Gedichts verweist zudem auf Hölderlins Hymne „Mnemosyne“, wonach das menschliche Dasein seiner Bestimmung und seinem geschichtlichen Wesen entfremdet ist: „Ein Zeichen sind wir, deutungslos“.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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