Gottfried Benns Gedicht „Hör zu“

GOTTFRIED BENN

Hör zu

Hör zu, so wird der letzte Abend sein,
wo du noch ausgehn kannst: du rauchst die „Juno“,
„Würzburger Hofbräu“ drei, und liest die Uno,
wie sie der „Spiegel“ sieht, du sitzt allein

an kleinem Tisch, an abgeschlossenem Rund
dicht an der Heizung, denn du liebst das Warme.
Um dich das Menschentum und sein Gebarme,
das Ehepaar und der verhasste Hund.

Mehr bist du nicht, kein Haus, kein Hügel dein,
zu träumen in ein sonniges Gelände,
dich schlossen immer ziemlich enge Wände
von der Geburt bis diesen Abend ein.

Mehr warst du nicht, doch Zeus und alle Macht,
das All, die großen Geister, alle Sonnen
sind auch für dich geschehn, durch dich geronnen,
mehr warst du nicht, beendet wie begonnen –
der letzte Abend – gute Nacht.

1955/56

aus: Gottfried Benn: Sämtliche Werke, Stuttgarter Ausgabe. In Verb. m. Ilse Benn hrsg. von G. Schuster. Band II. Gedichte 2. Klett-Cotta, Stuttgart 1986

 

Konnotation

Der Kneipentisch in einem Lokal nahe am Bayerischen Platz in Berlin wurde für den späten Gottfried Benn (1886–1956) zur Dichterwerkstatt. „Ich habe abends meistens Durst u. Unruhe u. gehe in eine Kneipe“, vertraute Benn am 15. November 1950 seinem Briefpartner F.W. Oelze an, „da distanziert sich das Leben von mir u. wirft sich als Figuren an die Wände“. Die Bierkneipe als Laboratorium der Worte – da liegt das Bewusstsein der Finalität nahe, die Gewissheit, dass sich der Lebenskreis schließt und man sich entspannt von mancher Unbill des Daseins verabschieden kann.
Ein paar Pils, eine Zigarette und die Spiegel-Lektüre erzeugen eine Behaglichkeit, die poetisch produktiv sein kann. Der einsame Dichter blickt zurück auf seine lebenslange innere Gefangenschaft und die anthropologischen Zwangslagen, in die er sich verstrickt sah. Aber er blickt auch auf „die großen Geister, alle Sonnen“, die durch ihn hindurchgegangen sind – durchaus tröstlich. Die Vorahnung des „letzten Abends“, den dieses erst posthum veröffentlichte Gedicht imaginiert, sollte sich bald bestätigen. Das Gedicht entstand wohl 1955/56. Nach Darmblutungen und einem sehr späten Krebs-Befund starb Benn am 7. Juli 1956.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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