Gotthold Ephraim Lessings Gedicht „An eine kleine Schöne“

GOTTHOLD EPHRAIM LESSING

An eine kleine Schöne

Kleine Schöne, küsse mich.
Kleine Schöne, schämst du dich?
Küsse geben, Küsse nehmen,
Darf dich jetzo nicht beschämen.
Küsse mich noch hundertmal!
Küß’ und merk’ der Küsse Zahl.
Ich will dir, bei meinem Leben!
Alle zehnfach wiedergeben,
Wenn der Kuß kein Scherz mehr ist,
Und du zehn Jahr älter bist.

1753

 

Konnotation

Schon als Schüler in Meißen schreibt Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) seine anakreontischen Lieder, die „nichts als Wein und Liebe, nichts als Freude und Genuß“ enthalten, wie er 1753 in der Vorrede zum „Ersten Teil“ seiner „Schrifften“ anmerkt. Der junge, publizistisch vielseitige Lessing hatte ein Faible für sächsische Frauen und Berliner Zeitungsleser und wählte daher eine poetische Sageweise, die verständlich ist und in der sich Unterhaltsames, Witzig-Pointiertes mit erotischen Motiven mischt. Zu diesen frühen Liedern gehört auch die etwas anzügliche Rühmung der „jungen Schönen“, die man heute mit mischten Gefühlen liest.
In seinem motivverwandten Gedicht „Die Küsse“ hat sich Lessing eine Unbedenklicheitsbescheinigung ausgestellt: „Ein Küsschen, das ein Kind mir schenket, / Das mit den Küssen nur noch spielt / Und bei dem Küssen noch nichts denket, / Das ist ein Kuß, den man nicht fühlt.“ Dass die Küsse der „kleinen Schönen“ in Wirklichkeit heftige Affekte mobilisieren, verrät der Appell des Dichters, das Gefühl der Scham zu vertreiben.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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