Günter Eichs Gedicht „Betrachtet die Fingerspitzen“

GÜNTER EICH

Betrachtet die Fingerspitzen

Betrachtet die Fingerspitzen, ob sie sich schon verfärben!
Eines Tages kommt sie wieder, die ausgerottete Pest.
Der Postbote wirft sie als Brief in den rasselnden Kasten,
als eine Zuteilung von Heringen liegt sie dir im Teller,
die Mutter reicht sie dem Kinde als Brust.
Was tun wir, da niemand mehr lebt von denen,
die mit ihr umzugehen wußten?
Wer mit dem Entsetzlichen gut Freund ist,
kann seinen Besuch in Ruhe erwarten.
Wir richten uns immer wieder auf das Glück ein,
aber es sitzt nicht gern auf unseren Sesseln.
Betrachtet die Fingerspitzen! Wenn sie sich schwarz färben,
ist es zu spät.

vor 1948

aus: Günter Eich: Gesammelte Werke, Band 1: Die Gedichte. Die Maulwürfe. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1991

 

Konnotation

Der 1907 in Lebus, an der heutigen deutsch-polnischen Grenze geborene Günter Eich (gest. 1972) gilt als einer der bedeutendsten Dichter der Nachkriegszeit. Seine herausragende Rolle dürfte im besonderen Umgang mit der Tradition des Naturgedichts liegen: Anders als Dichter wie Elisabeth Langgässer oder Wilhelm Lehmann, die eine stark subjektive, meditative Wesenheit in ihren Naturgedichten auftreten lassen, deutet Eich in seinen Gedichten die Subjektivität imperativisch um, lässt das sprechende Subjekt zum Mahner werden.
In einer Reduktion metrischer und bildgebender Mittel evoziert Eichs Gedicht die Schreckensvision einer Rückkehr der Pest, die stellvertretend für die Angst vor der Zuspitzung des Kalten Krieges gelesen werden darf. Die im Gedicht hervorgehobene Fingerspitze hat dabei buchstäblich eine mahnende Funktion, sie ist nicht bloß Indikator des fortschreitenden, sich der Vollendung nähernden Verfalls. Sie stellt auch die Geste des erhobenen Zeigefingers dar, der vor der Eskalation warnt.

Norbert Lange (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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