Günter Grass’ Gedicht „Nächtliches Stadion“

GÜNTER GRASS

Nächtliches Stadion

Langsam ging der Fußball am Himmel auf.
Nun sah man, dass die Tribüne besetzt war.
Einsam stand der Dichter im Tor,
doch der Schiedsrichter pfiff: Abseits.

1955

aus: Günter Grass: Lyrische Beute, Steidl Verlag, Göttingen 2004

 

Konnotation

Ein Jahr nach dem „Wunder von Bern“ hatte der junge, damals noch dem Surrealismus verpflichtete Lyriker Günter Grass den Einfall, eine klassische Fußball-Szene metaphorisch umzudeuten. Im Tor steht bei ihm nicht mehr der klassische Torwart, sondern der Dichter, der in seiner „Einsamkeit“ durch den Pfiff des Schiedsrichters in seiner „Abseitigkeit“ offenbar bestätigt wird.
Der Triumph des WM-Siegs 1954 hatte in der Bundesrepublik das Wiedererwachen des nationalen Selbstbewusstseins stimuliert. Der 1927 geborene Grass dekonstruiert 1955 in seinem Gedicht diesen neuen Mythos der nationalen Identität, indem er den Fußball als wundersam-poetisches Objekt und seltsam individualistischen Akt schildert. Im „nächtlichen Stadion“, über dem der Fußball wie der Mond „aufgeht“, scheint der „einsame Dichter“ der einzige Akteur zu sein. Die Szenerie wirkt eigentümlich menschenleer, trotz der besetzten Tribüne. Mit den alten Fußball-Legenden ist dieses Geschehen jedenfalls nicht in Übereinstimmung zu bringen.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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