Heinrich Heines Gedicht „Stoßseufzer“

HEINRICH HEINE

Stoßseufzer

Unbequemer neuer Glauben!
Wenn sie uns den Herrgott rauben,
Hat das Fluchen auch ein End’ –
Himmel-Herrgott-Sakrament!

Wir entbehren leicht das Beten,
Doch das Fluchen ist vonnöten,
Wenn man gegen Feinde rennt –
Himmel-Herrgott-Sakrament!

Nicht zum Lieben, nein, zum Hassen
Sollt ihr uns den Herrgott lassen,
Weil man sonst nicht fluchen könnt –
Himmel-Herrgott-Sakrament!

um 1835

 

Konnotation

„Man bringt die Sakramente einem sterbenden Gott“: So hat Heinrich Heine (1797–1856) bereits in seinem Werk Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1834/35) die prekäre Lage des Christentums nach den Erkenntnissen der Aufklärung und der Vernunft-Philosophie Immanuel Kants charakterisiert. In manchen seiner Gedichte gefällt sich Heine in ironischen Kommentaren zu dieser Situation, in der die Glaubensfundamente erschüttert sind.
Wenn Gott im Bewusstsein der aufgeklärten Gesellschaft zur Leerstelle geworden ist, so spottet Heine in diesem Gedicht aus dem Nachlass, dann entfällt auch die Möglichkeit zum empörten Fluch. Die blasphemische Pointe, dass der „Herrgott“ noch zum Hassen, respektive zum Fluchen in Gottes Namen gebraucht werde, haben ihm die Zeitgenossen nie verziehen. Im Dezember 1835 werden die Werke des „Jungen Deutschland“, zu dem auch Heine gehört, wegen blasphemischer Tendenz durch den Bundestag in Frankfurt verboten.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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