Henning Ahrens’ Gedicht „Brief“

HENNING AHRENS

Brief

Der Flug der Vögel lässt auf Deutung warten.
Das Haus, umblüht von Flieder, schweigt.
Du bist weit fort, und nichts kann mir verraten,
was dich auf welche Wege treibt.

Der Wind frischt auf, als ich nach draußen gehe,
und barfuß auf dem Rasen steh,
der Regen wäscht den Frühling aus den Blüten
von Japankirsche und Forsythie.

Doch ist das Himmelsgrau kein Omen,
der Wolkenbruch ist kein Symbol –
in all dies Sinn zu lügen, ist vergeblich,
ein selbstbetrügerisches Spiel.

Denn nur das Ding zählt, das sich ändert:
Entfaltung, Welken, Innenblitz.
Dein Brief, der heute kam, weicht auf im Regen,
die Tinte tränkt den Gartentisch.

nach 2000

aus: Henning Ahrens: Kein Schlaf in Sicht. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2008

 

Konnotation

Es ist die älteste Geschichte der Poesie, doch wird sie immer wieder neu variiert: Es spricht der Liebesverlierer, der Verlassene, der sich neu zu orientieren sucht, doch alle Zeichen in seiner Lebensumgebung bleiben deutungslos. Weder die Vogelschrift noch alle anderen Naturphänomene kennen auf einen „Sinn“ hin entziffert werden. Was bleibt, ist der Schmerz des Verlassenen, der den Abschiedsbrief der Geliebten im Regen liegen lässt.
Der formal versierte Lyriker und Romanautor Henning Ahrens (geb. 1964) lässt hier die elegischen Töne des Gottfried Benn-Sounds anklingen, ein in jambische Verse gefügtes Szenario des Abschieds, ganz in eine blühende Gartenherrlichkeit getaucht. Die symbolistische Ausdeutung der Naturzeichen wird verweigert, stattdessen benennt Ahrens in der letzten Strophe emphatisch die Kernelemente eines vitalen Lebensprozesses – und seines glückhaften Höhepunktes: „Entfaltung. Welken, Innenblitz.“

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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