Ingeborg Bachmanns Gedicht „Lieder auf der Flucht (II)“

INGEBORG BACHMANN

Lieder auf der Flucht (II)

Ich aber liege allein
im Eisverhau voller Wunden.

Es hat mir der Schnee
noch nicht die Augen verbunden.

Die Toten, an mich gepreßt,
schweigen in allen Zungen.

Niemand liebt mich und hat
für mich eine Lampe geschwungen!

1956

aus: Ingeborg Bachmann: Lieder auf der Flucht (II). Werke, Band 1. Piper Verlag, München 1978

 

Konnotation

Für das einsame Ich dieses Gedichts, das in völlige Abgeschiedenheit zurückgestoßen worden ist, gibt es nur noch einen Ort: ein lichtloses Nachtlager in furchtbarer Kälte, ein kosmischer „Eisverhau“, in dem nur noch das Schweigen der Toten hörbar ist. Das sich ungeliebt fühlende Ich, das nur noch das Schweigen der Welt vernimmt – das ist der Ausgangspunkt für viele jener „Lieder auf der Flucht“, die Ingeborg Bachmann (1926–1973) im Band Anrufung des Großen Bären (1956) als Zyklus veröffentlicht hat.
Motivisch knüpft das Gedicht an ein Liebespoem der antiken Dichterin Sappho an, die etwa 600 Jahre v. Chr. gelebt und geschrieben haben soll. Die unerhörte Liebe und ihr schmerzhafter Verlust, der Verlust auch von hoffnungsstiftenden Lichtsignalen – das ist ein Leitmotiv bei Sappho wie bei Ingeborg Bachmann. Für die Verlassenheit des leidenden Ich stehen hier beklemmende Kälte-Metaphern und das verstörend-paradoxale Bild der Toten, die „in allen Zungen schweigen“.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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