Ingeborg Bachmanns Gedicht „Strömung“

INGEBORG BACHMANN

Strömung

So weit im Leben und so nah am Tod,
daß ich mit niemand darum rechten kann,
reiß ich mir von der Erde meinen Teil;

dem stillen Ozean stoß ich den grünen Keil
mitten ins Herz und schwemm mich selber an.

Zinnvögel steigen auf und Zimtgeruch!
Mit meinem Mörder Zeit bin ich allein.
In Rausch und Bläue puppen wir uns ein.

1957

aus: Ingeborg Bachmann: Werke. Band 1: Gedichte. Piper Verlag, München 1978

 

Konnotation

Von 1953 bis 1965 profitierte die sehr verletzliche Dichterin Ingeborg Bachmann (1926–1973) von der künstlerischen Arbeitsgemeinschaft mit dem Komponisten Hans Werner Henze (Jg. 1926). Henze erschloss ihr nicht nur die mediterrane Landschaft der Insel Ischia und die Metropole Rom, sondern öffnete ihr den Zugang zur Musik. Nach dem Erscheinen des Gedichtbands Anrufung des Großen Bären (1956) entstanden 1957 noch einige Italien-Gedichte, bevor die lyrische Produktivität Bachmanns längere Zeit erlosch. Im Umfeld dieser Italien-Dichtung ist auch die „Strömung“ entstanden, ein Text, der von einer Grenzerfahrung spricht.
Obwohl mitten im Leben verankert, ist das lyrische Ich bereits in das Kraftfeld des Todes geraten. Und nur mit fast gewaltsamen Akten der Aneignung und Abgrenzung ist noch eine Selbstbehauptung möglich. Evoziert wird ein Zustand des Ausgesetztseins – das Ich imaginiert sich als Schiffbrüchiger. Der einzige Gesprächspartner ist die todbringende Zeit. Der Schlussvers vergegenwärtigt dann noch einmal Visionen des Schöpferischen.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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