Johannes Kühns Gedicht „Es heilt die Zeit“

JOHANNES KÜHN

Es heilt die Zeit

Vergraben bin ich in Scham,
dem roten Grab.
Da rütteln an den Wänden
die Stürme, steh auf!
Die Schnabelhiebe
der Frühlingsfinken
auch habens versucht.

Den Auferstehungston, wo find ich ihn?

Zeit,
deine Zähne,
die beißen mich frei.
Es wird der Landmann säen,
es wird die Goldschrift des Sommers
die Saaten schön beschreiben,
es wird der Herbst
mit Blätterwänden fallen,
dann vielleicht,
dann vielleicht werd ich frei.

1980er Jahre

aus: Johannes Kühn: Ich Winkelgast. Carl Hanser Verlag, München 1989

 

Konnotation

Sein täglicher Trost ist noch immer die Poesie, seine größte Tugend die Demut, sein Sehnsuchtsort „der Sitz unter Bäumen“. In drei Gedichten pro Tag, die er sich als strenges Pensum auferlegt hat, durchwandert der 1934 geborene Dichter Johannes Kühn die Fluren und Wege seines saarländischen Weltwinkels und widmet sich seiner schönsten Aufgabe: die Erkundung eines Kosmos leuchtender Naturdinge.
Sein Studium der Natur hat Johannes Kühn hier mit einem bekannten theologischen Motiv der Erlösungshoffnung unterlegt: Denn in der Mittelachse des Gedichts ist die Rede von einem österlichen „Auferstehungston“. Es sind Naturphänomene, die Frühlingsstürme, die Schnabelhiebe der Frühlingsfinken, die diesen verheißungsvollen „Auferstehungston“ zu vermelden scheinen. Das Ich tritt – ähnlich wie dereinst Jesus Christus in der biblischen Erzählung – aus einem „roten Grab“.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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