Kurt Tucholskys Gedicht „Absage“

KURT TUCHOLSKY

Absage

Noch einmal? Ich dächte, wir hätten jetzt Frieden?
Über Gesetze wird friedlich entschieden…
aaaEin Straßensturm auf ein Parlament
aaaist kein Argument.

Diese Matrosen sind keine Matrosen.
Dazwischen Schwärme von Arbeitslosen.
aaaKämpfer. Banausen. Neugierige. Mob.
aaaNun aber stop –!

Das Parlament ist ein Spiegel des Landes.
Da sitzen Vertreter jeden Standes.
aaaWill euch die Politik verdrießen –:
aaaWählen! Nicht schießen!

Eine Gasse der Freiheit – nicht eine Gosse!
Rückt ab von jenem Lärmmachertrosse!
aaaWir brauchen Ruhezeit. So wird das nie
aaaeine Demokratie –!

1920

 

Konnotation

Erbitterte Kritiker haben Kurt Tucholsky (1890–1935), den intellektuell beweglichsten Publizisten und Schriftsteller der Zwischenkriegszeit, einen „Totengräber der Weimarer Republik“ (Golo Mann) genannt. Eine groteske Fehleinschätzung. Eher sollte man staunen über die Widersprüchlichkeit eines Autors, der als Mitglied der USPD reaktionäre Tendenzen der Weimarer Demokratie bekämpfte, aber gleichzeitig in liberalen Blättern den Parlamentarismus energisch verteidigte.
Als Tucholsky dieses Gedicht im Januar 1920 im Ulk, der satirischen Wochenbeilage des Berliner Tageblatts veröffentlichte, hatte die junge Demokratie, die ihre Macht fatalerweise auf reaktionäre „Freikorps“ stützte, ihre ersten Gegen-Revolutionen schon hinter sich. Es ist nicht klar, inwieweit Tucholsky hier die Positionen seines dichterischen Ich unterstützt, oder ob er nur die argumentativen Klischees der Republik-Verteidiger zitiert. Besonders die zweite Strophe verweist auf die grobschlächtige Polemik der politischen Rechten, die in den linken Revolutionären nur „Mob“ erkennen wollen.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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