Nicolas Borns Gedicht „Einzelheit damals“

NICOLAS BORN

Einzelheit damals

Hauptsächlich Glas ging in Trümmer.
Regional, sagen wir mal, war gar nicht viel los
von den Ahnungen abgesehen
den Nachrichten unter der Hand
wenn Eheringe über den Fotos von Vermißten
zu kreisen begannen.
aaaKriegsreste (Erkennungsmarken)
schepperten auf der Reichsbahn.
Auf solche Weise kehrte Onkel Norbert zurück
metallen, einer aus Stückzahl 100
Inhalt einer ARI-Kartusche
gefunden zwischen den Gleisen der Straßenbahn
bei Sturm.
In den toten Wagen lagen Splitter herum
seltsame Formen im Seegras
die Sitze waren zerfetzt.
Die Kurbel ließ eine halbe Drehung zu
– wir waren glücklich.

Man hat sich Russland riesig vorzustellen,
ausgesprochen endlos.

1966

aus: Nicolas Born: Gedichte. Hrsg. v. Katharina Born. Wallstein Verlag, Göttingen 2004

 

Konnotation

Die Gedichte sollen roh sein, nicht geglättet“, verlangte Nicolas Born (1937–1979) im Klappentext zu seinem lyrischen Debütbuch Marktlage (1967), das „die rohe, unartifizielle Formulierung“, das „direkte“ Benennen zum Ideal erhob. So wird auch die Erinnerung des Autors an seine Kriegskindheit nicht metaphorisch überhöht oder reflexiv kommentiert, sondern in der Manier eines nüchternen Protokolls abgefasst. Das 1966 erstmals publizierte Gedicht spricht nicht von den großen historischen Zusammenhängen, sondern beschränkt sich auf das Sammeln von „Einzelheiten“.
Das lyrische Subjekt des Gedichts scheint den Schrecken des Krieges in den ersten Versen beschwichtigen zu wollen. Die Mitteilung, dass im Inferno täglicher Bombenangriffe „gar nicht viel los“ gewesen sein soll, irritiert. Aber durch das Berichten der Details – etwa des zufälligen Auffindens von Erkennungsmarken toter Soldaten – wird das Grauen präsenter als durch moralische Belehrungen. So entpuppt sich die Erinnerung an das unbeschwerte Kinderspiel („wir waren glücklich“) im Kontext des Gedichts als blanker Sarkasmus.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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