Rainer Maria Rilkes Gedicht „Liebes-Lied“

RAINER MARIA RILKE

Liebes-Lied

Wie soll ich meine Seele halten, daß
sie nicht an deine rührt? Wie soll ich sie
hinheben über dich zu andern Dingen?
Ach gerne möcht ich sie bei irgendwas
Verlorenem im Dunkel unterbringen
an einer fremden stillen Stelle, die
nicht weiterschwingt, wenn deine Tiefen schwingen.
Doch alles, was uns anrührt, dich und mich,
nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich,
der aus zwei Saiten eine Stimme zieht.
Auf welches Instrument sind wir gespannt?
Und welcher Spieler hat uns in der Hand?
O süßes Lied.

1907

 

Konnotation

Mitte März 1907 weilt Rainer Maria Rilke (1875–1926) auf Capri und entwirft Verse von einem schönen und doch bedrohlichen Gleichklang zweier durch Liebe verbundener Seelen. So auch in diesem berühmten „Liebes-Lied“, das in den Neuen Gedichten von 1907 zu finden ist. Aber was ist das für ein Verhältnis zwischen dem Ich und der Geliebten? In der Intimität des Liebesgeständnisses, im Bekenntnis zur absoluten Vertrautheit von Ich und Du schwingt noch etwas anderes mit: Ein Unbehagen an dieser Nähe. Denn das Ich träumt davon, die Seele „hinzuheben“ zu „anderen Dingen“.
Die Sehnsucht des Ich nach „irgendwas Verlorenem im Dunkel“ ist fast schon ein Dementi jener Absolutheit der Liebe, der sich die beiden Seelen verbunden fühlen. Rilke-Exegeten haben dieses Gedicht daher im Hinblick auf sein späteres Geständnis aus dem Jahr 1921 gelesen: Denn seine Lebensklage galt da der „Angst vor dem Geliebtwerden“.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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