Manuel Förderer: Zu Wolfdietrich Schnurres Gedicht „Beugtest du dich über mich“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Wolfdietrich Schnurres Gedicht „Beugtest du dich über mich“. –

 

 

 

 

WOLFDIETRICH SCHNURRE

Beugtest du dich über mich

Das Gesicht weg die Hand weg
geh geh geh
nimm dein Haar von mir
roll deinen Schatten ein
verreise.
Man hat eingebrochen in deinen Blick
das Lid zertrümmert
in Scherben die SLaubterkeit
keiner der Passanten hat es gemerkt
nur ich der müssige Eckensteher.
Ich kenne mich aus in zerbrochenen Fenstern.
– Geh doch
besser es liebt dich mein Hass
als mein Mitleid beleidigte dich.

 

„Ich bin nicht für Glas vor Kunst“

– Zu einem Gedicht aus Schnurres Nachlass. –1

Die Lyrik besetzt in Schnurres Werk und dabei besonders hinsichtlich dessen Genese eine funktionale Position. Nicht nur, dass Schnurre früh damit beginnt, Gedichte zu schreiben, sie machen um 1945 einen Großteil seiner literarischen Produktion aus – und es sind wiederum Gedichte beziehungsweise es ist ein bestimmter lyrischer Ton, gegen den sich Schnurre spätestens nach seiner kurzen poetologischen Querele mit Walter Kolbenhoff wenden wird.2 Mit der sich anschließenden Verpflichtung auf ein sozialkritisches und engagiertes Schreibprogramm verbindet sich auch eine sprachliche und formale Neuorientierung, die sich gleichfalls in der lyrischen Produktion widerspiegelt. Setzt die im Nachlass im Deutschen Literaturarchiv in Marbach aufbewahrte Sammlung „De profundis“3 zumindest formal den traditionalistischen Weg fort – die Sammlung besteht ausschließlich aus Sonetten –, so fallen Diktion und Ton schon schärfer aus (wofür sich Schnurre in dem „De Profundis“ betitelten programmatischen Auftaktgedicht gleichsam entschuldigt).4 Und mit der auf 1947 datierten Sammlung Dem Nichts so nahe wie dem Tode fern5 bricht Schnurre mit jeder traditionellen Form und schreibt ausschließlich in freien Versen. Freilich: der pathetische Tonfall sowie ein durchaus antiquiertes Vokabular bleiben erhalten. Es wird gleichsam versucht, wie Alexander von Bormann es formuliert hat, auf „poetische Weise gegen die Poesie mobilzumachen.“6
Schnurre wendet sich bereits früh gegen jene Gedichte, die, wie er es 1977 in einem Interview ausdrückte, „den abendländischen Rettungsspuk“ mitmachten und „,das Bleibende‘ [nummerierten].“7 Diese Charakterisierung zielt vor allem auf jene Texte, die in der ebenfalls in Marbach befindlichen Sammlung „Am Wege“ abgelegt und während sowie kurz nach Ende des Krieges entstanden sind.8 In ihnen wirken noch die lyrischen Klanglandschaften neo-romantischer und gemäßigt-moderner Provenienz nach und sie zeigen sich gerade in puncto Naturmotivik als anschlussfähig an die Metaphorik der naturmagischen Schule beziehungsweise der Kolonne-Gruppe (u.a. Wilhelm Lehmann, Oskar Loerke, Günter Eich, Peter Huchel, Oda Schaefer) sowie konservativerer Autoren vom Schlage Ernst Wiecherts.9 Und Schnurres Verweise auf seine lyrische Frühphase haben System: Mit dem Abgesang auf das eigene lyrische Schaffen verbindet sich eine poetologische und ästhetische Neuausrichtung, die zugleich literaturpolitisch wirkt, indem sich der Autor Schnurre im literarischen Feld gegen die ästhetischen Leitsterne seines vergangenen Schaffens wendet. Es ist die Logik des Traditionsbruchs zum Zwecke eigener Traditionsbildung,10 die zum literaturprogrammatischen Kerngeschäft der Jungen Generation und der Gruppe 47 gehören wird.
Einen eigenen lyrischen Ton findet Schnurre erst im Zuge der Arbeiten zum ersten Kassiber-Band,11 die in die Jahre ab 1948 fallen und ebenfalls in verschiedenen Sammlungen in Marbach archiviert sind. In einem „Stadt aus Staub“ betitelten Konvolut, das Schnurre „thematisch und formal“12 den Kassiber-Vorarbeiten zurechnet, findet sich ein Gedicht, das in mehrfacher Hinsicht von den übrigen in dieser Sammlung abgelegten Texten absticht. Das Gedicht, das diesem Aufsatz vorangestellt ist, trägt den Titel „Beugtest dich über mich“ und ist – abseits verschiedener handschriftlicher Korrekturen mit Bleistift und Tinte, die zumindest zwei verschiedene Korrekturphasen kenntlich machen – mit einer handschriftlichen Datierung versehen: „15.IX.51“. Damit liegt das Gedicht nicht nur zeitlich jenseits des Rahmens, den Schnurre für diese Sammlung angibt („1949/1950“), es ist auch auf einem anderen Papier getippt als die übrigen Gedichte. Während die meisten Korrekturen offensichtliche Tippfehler berichtigen,13 ist der semantische Wechsel von „Sauberkeit“ zu „Lauterkeit“ von größerer Bedeutung, akzentuiert er doch ein moralisches Moment. Daneben steht die in der zweiten Zeile vorgenommene Ausstreichung der pathetischen dreifachen Wiederholung der Aufforderung „geh“ zugunsten einer einfachen Nennung als letzte weiterreichende Überarbeitungen durch den Autor.
Dass die Materialität des lyrischen Notats von Bedeutung ist, zeigt sich allerdings noch auf andere Weise: Auf der Rückseite des Typoskripts findet sich nämlich ein weiteres Typoskript. Bei diesem handelt es sich hingegen nicht um ein anderes Gedicht, sondern um einen Auszug aus der 1959 in Das Los unserer Stadt erschienenen Parabel „Das Kloster“.14 Da das Schriftbild der jeweils benutzten Schreibmaschine identisch ist, darf man davon ausgehen, dass Schnurre beide Typoskripte etwa zur gleichen Zeit angefertigt hat – welches jedoch zuerst entstand, lässt sich nicht abschließend klären. Schnurres Arbeiten an seinem „parabolische[n] Hauptwerk“15 reichen bis in die frühen 1950er Jahre zurück,16 ein zeitliches Zusammenfallen dieses Gedichts mit einer frühen Fassung von „Das Kloster“ ist also durchaus denkbar. Abseits dieser werkgeschichtlichen Perspektive gibt es eine motivische, die beide Typoskripte miteinander verbindet – nämlich das Motiv des lidlosen Auges beziehungsweise des zertrümmerten Lids. Dieses Motiv findet sich nicht nur in weiteren Gedichten im lyrischen Nachlass wieder,17 sondern auch in der besagten Parabel. Dort erscheint es als „das lidlose pfeildurchbohrte Auge“ und fungiert dergestalt als „Signum des Lesenden“ der höchsten Klosterinstanz, für die das gesamte Kloster permanent Text produziert.18 Gedicht und Parabel begegnen sich in diesem Motiv, das eine erzwungene Offenheit („man hat eingebrochen in deinen Blick“) versinnbildlicht; stellt man auch „Beugtest dich über mich“ in den Kontext von Textproduktion und -rezeption, so ließe es sich seinerseits als lyrische Figuration eines (unglücklichen) Lektüreaktes begreifen. Es liegen also auch inhaltliche Parallelen vor, die die Annahme stärken, dass Gedicht und Parabel den gleichen Entstehungskontext teilen.
Eine handschriftliche Fassung des Gedichts existiert nicht.

Manuel Förderer, aus Günter Häntzschel, Sven Hanuschek und Ulrike Leuschner (Hrsg.): Wolfdietrich Schnurre, edition text + kritik, 2020

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00