Michael Braun: Zu Christian Saalbergs Gedicht „MAN SAGT, dass das wahre Leben abwesend sei. …“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Christian Saalbergs Gedicht „MAN SAGT, dass das wahre Leben abwesend sei. …“ aus Christian Saalberg: In der dritten Minute der Morgenröte.

 

 

 

 

CHRISTIAN SAALBERG

MAN SAGT, dass das wahre Leben abwesend sei.
Sucht es, wo es nicht ist. Ich kenne keinen anderen Ort.

Man sagt, dass Vergessen nur den Göttern gelingt.
Seid still.
Bin nicht gewesen, bin gewesen, bin nicht mehr.
Keine Sorge.

Man sagt, dass nur gelingt, was unvollendet bleibt, verpaßt und fallengelassen.
Ich verstehe schon.

Der September verbrennt die alten Tage.
Aus den Trümmern klaube ich mir vom Himmel das letzte Blau.
Schminke für die Augen, wenn es graut.

 

„Ich habe nicht mehr viel zu sagen“,

verkündete der Dichter Christian Saalberg im Jahr 1991, als er bereits ein Dutzend Gedichtbände veröffentlicht hatte, ohne dass der Literaturbetrieb davon Notiz genommen hätte. Es kam zum Glück anders, die skeptische Prognose wurde falsifiziert, die poetische Einbildungskraft des Autors blühte erst richtig auf. Saalberg schrieb weiter und verfeinerte mit jedem weiteren Buch sein zwischen surrealistischer Bildlichkeit, romantischem Vokabular und religiös gefärbter Tonlage changierendes Werk. In seinen letzten Bänden, vor allem in Vom Leben besiegt (1997) und Offenes Gewässer (2005), wurde er zum Dichter der Vergänglichkeit, der mit traumverlorenen, eindringlichen Melodien das Wunder des Daseins und auch die Begrenzungen der Existenz besang. Bei seinem Tod im Mai 2006 umfasste Saalbergs Werk 23 Bände, die alle nur in kleinen Verlagen und winziger Auflage erschienen waren. Die Wiederentdeckung des lyrischen Solitärs Saalberg ist nun dem Schöffling Verlag zu verdanken, der eine sorgsam komponierte Werkauswahl vorlegt. Das 1999 erstmals publizierte Gedicht nimmt einen Grabspruch der römischen Stoiker in sich auf, der angesichts der Vergänglichkeit für Gelassenheit plädiert:

Non fui. Fui. Non Sum. Non Curo.

Der Text ergreift durch sein emphatisches Sprechen, das er so selbstverständlich handhabt, als sei er unberührt von all den misstrauischen Debatten um Erhabenheit und Feierlichkeit, die in der Lyrik-Debatte der vergangenen Jahrzehnte ausgebrütet wurden.

Michael Braun, Volltext, Heft 3, 2019

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