Michael Braun: Zu Henning Ziebritzkis Gedicht „Austernfischer“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Henning Ziebritzkis Gedicht „Austernfischer“ aus Henning Ziebritzki: Vogelwerk

 

 

 

 

HENNING ZIEBRITZKI

Austernfischer

Und was hörst du? Ich höre Geräusch, ich höre
eine Stimme, die fragt, was für Geräusche das sind.
Welche? Ich höre Rauschen, ich höre die schrillen
Schreie der Austernfischer. Wie hörst du, daß dieses
Schreien ihre Stimme ist? Ich höre eine Stimme, die sagt,
daß diese Schreie die Schreie des Vogels sind,
der Austernfischer heißt. Was für eine Stimme ist es,
die du hörst? Eine Stimme wie die, die fragt. Und du hörst,
was sie im Rauschen sagt? Sie sagt den Namen,
ich höre die Schreie. So wie du Fragen hörst?
Ja, die Stimme und das Rauschen, die Fragen und den Schrei.

 

„Dem Vogelzug vertraue ich meine Verzweiflung an“:

Mit diesem Vers hat einst Günter Eich eine ganze Motivgeschichte aufgespannt. Bereits die Dichter der Antike erkannten ja im Vogelflug ein Zeichen für die brüchig gewordene Seinsordnung. Nun hat der Dichter Henning Ziebritzki (Jg. 1961) diese Tradition zu einem neuen Höhepunkt geführt. Er hat sein Wissen über die Existenzformen des Menschen, seine Erfahrung von Liebe und Tod, von Zartheit und Gewalt, von Glück und Raserei und nicht zuletzt vom Reichtum der Schöpfung seinem Vogelwerk anvertraut. Und dabei geht es nicht nur um die Luftgeschöpfe selbst, sondern auch um ihren Beobachter, der herausgeschleudert wird aus seiner stabilen Position, außer sich gerät und plötzlich starke Affekte entwickelt. In seine Porträts der Vogelarten hat Ziebritzki immer auch ein Porträt des lyrischen Subjekts eingezeichnet. Es geht nicht nur um Vogelarten in bestimmten Landschaften, sondern auch um die Bewusstseinszustände eines modernen Ich, um eine in Unruhe geratene Subjektivität. Seine Lesungen aus dem Vogelwerk pflegt Ziebritzki mit dem Gedicht „Austernfischer“ zu eröffnen, ein meisterhaftes Gedicht, das konsequent die Position des Sprechenden befragt und in Frage stellt. Die Wahrnehmung des Subjekts, des Beobachters, wird auf den Prüfstand gestellt, sein Hören, sein Versuch des Benennens und Klassifizierens. In dieser (Selbst-)Befragung spricht eine Stimme, die dem Beobachter des Austernfischer-Vogels gehört, und es spricht eine weitere Stimme, die nicht dem Beobachter zuzurechnen ist. Sodass wir vor einer Urszene stehen: Wer spricht, wenn im Gedicht ein Ich zu sprechen anhebt?

Michael Braun, Volltext, Heft 2, 2020

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