Michael Braun: Zu Nancy Hüngers Gedicht „Bei Tisch“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Nancy Hüngers Gedicht „Bei Tisch“ aus Nancy Hünger: Ein wenig Musik zum Abschied wäre trotzdem nett. 

 

 

 

 

NANCY HÜNGER

Bei Tisch

Wir lauschen nach innen und
werfen Münzen in den Schacht,
da nichts fällt und nichts klingt.

Wie ausgeräumt wir sind. Wer weiß,
wer spricht? Es war ein anderes Leben,
als wir unsere Zungen im Takt bewegten.

Wir bergen die Jahre vom Grund,
die Fotos erleichtern die Arbeit.
Wir waren schon einmal vorhanden,

nur bleicher, uns schliffen die Farben
von den Wangen. Ich erkenne niemanden
wieder die Gesichter drehen zum Mond

und Sicheln fahren darüber. Die Zeit
weiß nicht weiter, geht unter in uns
drehen die Gestirne. Ist jeder allein.

 

„Ich werfe keine Münzen in den Brunnen, /

ich will nicht wiederkommen“, hat Günter Eich in einer lakonischen „Fußnote zu Rom“ einmal erklärt. Die Hoffnungszeichen des Münzenwurfs in den Fontana di Trevi hatte er damit abgeräumt. In den ergreifenden Einsamkeits-Melodien der Dichterin Nancy Hünger ist nun gar kein Resonanzboden im apostrophierten „Schacht“ mehr da, der einen Widerhall für die fallende Münze bilden könnte. Das Horchen des lyrischen Kollektivsubjekts auf irgendeine Art von Ton ist hier vergeblich; der archimedische Punkt des Gedichts ist ein geräusch- und tonloser Ort, der alles in sich aufnimmt, ohne jedes Echo, ein Ort, an dem jeder Versuch kommunikativen Handelns abprallt. Geht man vom Titel des Gedichts aus, so handelt es sich eigentlich um eine Gesprächssituation „bei Tisch“. Diese Situation ist aber historisch geworden, einem „anderen Leben“ entnommen: „Es war ein anderes Leben, / als wir unsere Zungen im Takt bewegten.“ Diese Zeit einer einstigen Gemeinsamkeit des hier agierenden kollektiven „Wir“ scheint unwiederbringlich vergangen zu sein, in eine Ferne und eine Fremdheit gerückt, zu denen es keine Verbindung mehr gibt. Nancy Hünger, die 1981 in Weimar geborene Dichterin, die seit einiger Zeit in Erfurt lebt, weiß viel von der „Wissenschaft des Abschieds“ (Ossip Mandelstam), in ihren Gedichten tönt eine „ursprüngliche Einsamkeit“ (so etwa im Eröffnungsgedicht ihres Bandes Ein wenig Musik zum Abschied wäre trotzdem nett) , die sich hier als konstitutionelles „Alleinsein“ artikuliert. Das Gedicht spricht von zwei Existenzformen, zwischen denen es keine Brücken mehr gibt. Da ist einerseits das frühere „Vorhandensein“, das aber eher einem „bleichen“, schattenhaften Dasein glich, und die jetzige Einsamkeit, in der es nur noch möglich ist, auf dem tonlosen „Grund“ des Existierens Bilanz zu ziehen.

Michael Braun, Volltext, Heft 3, 2020

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