Michael Krüger: „Hellwach gehe ich schlafen“

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Michael Krüger: „Hellwach gehe ich schlafen“

Krüger-„Hellwach gehe ich schlafen“

NACHRUFE

Er schrieb die Geschichte
des Schattens, den Gott
auf die Bücher warf.

Er starb
an unstillbarem Deutungshunger.
Bloßes Leben
machte ihn nicht satt.

Er hatte sich
als Nachfolger durchschaut.
Das ließ ihn
nie wieder los.

Keiner Schule angehört,
keine Schule gemacht.
Immer geschrieben.

Zu lange schrieb er
an einer Melodie des Scheiterns.
Als sie gesungen wurde,
legte er Hand an sich selbst.

Gut lebte er
von den Ideen der anderen.
Bundesverdienstkreuz,
Festschrift, Doktor h.c.
Als er unsere Verzweiflung plagiierte,
war es mit unsrer Geduld vorbei.

Metaphern waren für ihn
unsichere Kantonisten.
Gut gekleidet, aber ohne Biß.
Kein Staat mit zu machen.

 

 

 

Hellwach gehe ich schlafen

präsentiert eine Auswahl von hundert Gedichten aus vier Jahrzehnten.
Seit vierzig Jahren veröffentlicht Michael Krüger, den die Welt als Verleger, Herausgeber, Rezensent und als Autor kennt, Gedichtbände: mit großen und kleinen, lang- und kurzzeiligen und auch sonst sehr unterschiedlichen Gedichten. Vielerlei Beobachtungen und Erfahrungen, Fragen und Überlegungen, Wörter und Sachen fließen ein in seine Gedichte – lauter empfindliche Kunstgebilde, die angesichts der Fülle einen klaren Kopf behalten. Nicht um Vereinfachung, Botschaft, virtuose Überrumpelung geht es in Michael Krügers Gedichten, sondern stets um ein Offenhalten: Wortmeldung in Sprachräumen, Konstellationen der Gegenwärtigkeit.

Suhrkamp Verlag, Klappentext, 2016

 

Krügers Augenblick dauert 40 Jahre

Mühelos – das ist der erste Eindruck. 100 Gedichte, mühelos zu lesen, beiläufig ein Autorenleben begleitend, in dem noch vieles andere Platz hatte, Romane zum Beispiel und die Leitung eines Verlags. Der leichte Ton suggeriert eine leichte Geburt: beim Frühstück vielleicht ein paar Stichworte, abends, bei Musik oder im sommerlichen Garten, der Feinschliff. Selten geht der Atem schneller, doch reagiert er in sensiblen Amplituden auf den üblen Zustand der Welt. Ein Freundlicher spricht, der ein geglücktes Leben führt. Keine existenziellen Krisen also, wenn auch Trauer; wenig Zorn, eher Melancholie und eine sympathische Bescheidenheit:

Zu viele Fragen
für den durchsichtigen Schatten, den mein Leben wirft.

Die Themen liefert ein Alltag, der nicht alltäglich ist: Besuche bei berühmten Schriftstellern, Reiseeindrücke, Beschwörungen der Weltliteratur, Bilderschau im Museum. Geschützte Bereiche, nachvollziehbare Erfahrungen. Und, im Zentrum, die Natur, wie sie sich stadtnah zeigt.
Vier Jahrzehnte umspannt diese Auswahl, auf einen nachdenklichen Grundton gestimmt und offen für Schönheit im klaren Bewusstsein der Gefährdung. Anfangs dominieren noch Absichten, auf deren Pathos inzwischen das Moos wächst. Manche Texte lassen die Harmlosigkeit vergangener Dezennien auferstehen:

Alles ist ruhig. Es ist nichts passiert.
Die Gefühle sind unscheinbarer geworden, wie erwartet, der Haß
hat sich verwandelt in Neid

nein, so ist es nicht mehr, und man staunt, dass es 1976 so gewesen sein soll, als das Gedicht mit dem Titel „Wie es so geht“ in Krügers Debüt Reginapoly stand.
Seitdem hat der Dichter mehr als ein Dutzend Gedichtbände veröffentlicht. 1986 erschien eine kleine Auswahl mit dem Titel Welt unter Glas im gelben Klassikerhain der Reclam-Hefte, 2001 das erste Best-of, 2008 das zweite, jetzt also das dritte. Thematisch statt chronologisch geordnet, wirken die Texte wie aus einem einzigen, 40-jährigen Augenblick heraus gesprochen. Ohne Unterstützung durch ein Zeitraster, unbegleitet von Nachwort oder Würdigung, müssen sie für sich selbst sorgen. Das ihnen geneigte Herz schlägt wohl am nachdrücklichsten in der Generation des Autors. Sie hat inzwischen gelernt, auch das Heitere und Hübsche, den Seufzer und den Eigensinn zu schätzen. Mein Krüger-Lieblingsgedicht ist „Besuch in Amsterdam“, ein herrliches Stadtporträt, das man ausdrucken und mit sich tragen kann in der Hoffnung, bald wieder dort zu sein. Für sein Fehlen im Buch entschädigt ein titelloses Gelegenheitsgedicht, fünf kurze Verse über das Kaninchen. Sie ließen mich stocken.

Gisela Trahms, Die Welt, 19.11.2016

Wie und wann sterben die Vögel?

– Berührungswunder – gesammelte Gedichte von Michael Krüger: Hellwach gehe ich schlafen. –

Glaub den Befürchtungen, die schon dein Frühstück beschatten: Es wird für dich auch am heutigen Abend keine ausgeglichene Bilanz geben. Willst wichtig werden und bleibst Wicht. Willst unwichtig bleiben, musst aber irgendwie fest auftreten. Deshalb ist auch heute, wie fast jeden Tag!, wie Michael Krüger schreibt, wieder „einer der Tage, an denen du sich selbst überzeugen musst“. Gewiss, du erlebst ein wenig Liebe, ein Momentum Gerechtigkeit, ein Bröckchen Erfolg oder wenigstens Anerkennung, ein bisschen Frieden, ein Quäntchen Gesinnung, „ein Bündel jämmerlicher Theorien, / damit das Gespräch mit den Toten / nicht abreißt. Aber es langt nicht. / Also zurück zu den Träumen“. Ja, spätestens am Abend weißt du: Nur Träume halten, was der Alltag nicht wirklich versprechen kann.
Der wunderbar menschenliebende Dichter Michael Krüger ist ein Botschafter dieser Träume, er ist ein heiterer wie melancholischer Rückkehrer zu den törichten, trotzigen Fantasien, die dem Leben erst Seele einhauchen. In einem seiner Gedichte vor Jahren beschwor er jene Einfalt, bei der „die großen Aufklärer in meinem Buch / ihre Bärte ablegen und zu Misanthropen werden, / die das Licht von Glühwürmchen erhoffen.“ Nicht Morgenrot, nicht Erkenntnis glühen, nicht andere Erleuchtungen, nein: die Glühwürmchen!
Hellwach gehe ich schlafen heißt der Sammelband mit hundert Gedichten Krügers, herausgegeben von Hans-Ulrich Müller-Schwefe. Diese Lyrik sucht Aussichtspunkte auf, zu Wasser, zu Lande, in der Luft; sie erblühen zwischen den Entfernungen und im Ortswechsel, etwa am Tegernsee oder in einem Dorfkino, in Hotels oder in den Schweizer Bergen; sie platzieren sich auf regennasser Straße oder in einer Vorortkneipe; andere Verse rufen Dichtern, Tieren, wechseln den Stimmungen nach. Es gibt monologische Reden (ein Spezialgenre bei Krüger), und wenn man einen Lieblingsort dieses Dichters ausmachen möchte, so ist es der Grenzpunkt zwischen Drinnen und Draußen, zwischen feststehender und beweglicher Welt.
Dieser Lyriker beschwört leidenschaftlich gern Natur, er tut es mit der Schmerzantenne des Städters, der geduldig und geschickt den Regeln einer aufgebrachten, pulsierenden Welt folgt, sich aber zugleich jene Blickweite des Romantikers bewahrt, die das Wunderbare und Schöne des Daseins erfasst. Freilich als das ewig von uns Versäumte, als das fortwährend von uns Verletzte. Das durch die Zeiten schimmert wie ein Rätsel, das inzwischen nur eines fürchtet: vom Menschen gelöst zu werden. Dichtung als Frage danach, „wie der Wunsch / auf die Welt kommt, der unbewohnte / reine Wunsch, der sich nicht füttern / lässt mit der Idee vom wahren Leben.“
Es gibt bei Krüger niemals jenen landläufigen Überschwang, der die Wirklichkeit einfach macht – in dem er sie in jene Ordnung presst, die der Größe des eigenen Denkvermögens entspricht. Diesem Autor öffnen sich zu jeder Gelegenheit flimmernde Schattenreiche des Ungefähren, der heilsamen wie zugleich aufstörenden Ernüchterung; denn niemand verfügt, wenn er ehrlich sich selbst gegenüber ist, über einen festen Rahmen für seine Welt-Bilder. Diese hundert Gedichte offenbaren, dass viele unserer Gewichtigkeiten keinen wirklichen Schwer-Mut und viele Träume kein Gesicht füreinander haben, und: dass unsere Unaufhaltsamkeit meist nur auf Rückzügen Charme und Charakter besitzt.

Mein Ich nennt die Neigung,
sich aufzulösen, einen Sieg.

Nicht begehrend greift dieser Band nach der Welt, er bleibt ehrend. Und was Krüger in Ehren hält, das ist jenes Einverständnis mit einer Unvollkommenheit, die zur Voraussetzung für jedes Schönheitsempfinden wird. Gier verhindert Ästhetik, Kunst aber bewahrt die Würde alles Existierenden. Der Dichter lässt die Dinge nicht sein, er lässt ihnen ihr – Sein. In keiner Zeile verleugnet er seine Entzündbarkeit für den Widerspruch, der die Welt erhält – und verbraucht. Jener berühmte Traum, der in allen Dingen singt und lebt – Krüger erzählt ihn, auf Heimwegen, die nicht nach Hause führen. Er ist auf Antwortsuche auf die tatsächlich geheimnisvolle Frage:

Wer weiß, wie und wann die Vögel sterben?

Krüger feiert Abschiede ohne jeden Zynismus. Er weiß, dass von den Wörtern, die aufgerufen sind, die Existenz zu verdeutlichen, nur immer das schwächere Wort sich hervortut und loslegt. Indes: Das Innere alles Angsprochenen bleibt dunkel. Poesie immerhin gestattet der Leistungszeit nicht, der Traumzeit den Etat zu kürzen – Sprache als Kontrastmittel, das durch das Unaussprechliche fließt. Kultur ist Reichtum an Problemen, Spiel ist Reichtum an Widerstandskraft. So preist der Autor die Unbenutzbarkeit empfindender Menschen für ideologische Regelwerke, er singt dort, wo wir in den Netzen der Festlegungen und Fremdbestimmungen zappeln, den kühlenden, belebenden Wind. Der herumwirbelt, um alles zu mischen: das Eigene und das Fremde, die Sekunde und das Jahrhundert, das Gesicht und die Maske, die Biografie und die Geschichte, das Schöne und den schäbigen Rest, aus dem unser Leben auch besteht.
Moralische Bemerkungen sind nur in Zeiten etwas wert, in denen man sich über seinesgleichen noch verwundern kann. Dies kann nur aus Augen heraus geschehen, die nicht von früh bis spät auf Fertigkeiten gerichtet sind. Michael Krügers Werk ist Verwunderung – ganz so, wie es der Titel des Buches erzählt. Alles Erfahrene wird mit diesen Gedichten wieder einschmelzbar – zu Sehnsucht. Alles Ausgesprochene wird wieder einschweigbar – zu zweifelfrohem Denken. Unsicherheit und Gewissheit berühren sich mit ihren jeweils sehr offenen Enden.

Immer wird der Wunsch bleiben,
nicht wissen zu wollen, wann uns
das Unglück erreicht, das nicht
im Kalender steht.

Hans-Dieter Schütt, neues deutschland, 21.1.2017

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Martin A. Hainz: „Von allen Vögeln widme dich dem Spatzen zuerst“
fixpoetry.com, 8.12.2016

Martin Lüdke: Lüdkes liederliche Liste
faustkultur.de, 23.12.2016

 

 

 

 

 

Welche Poeme haben das Leben und Schreiben von Karl Mickel und Volker Braun in der DDR und Michael Krüger in der BRD geprägt? Darüber diskutierten die drei Lyriker und Essayisten 1993.

 

 

 

Das Werk: Michael Krüger am 14.6.2004 im Literarischen Colloquium Berlin

 

 

 

Frank Wierke: Verabredungen mit einem Dichter – Michael Krüger

 

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Gregor Dotzauer: Das unbändige Leben der Agaven
Der Tagesspiegel, 9.12.2013

Volker Isfort: Er wird noch gebraucht
Abendzeitung München, 8.12.2013

Thomas Steinfeld: Herr K. tritt ab
Süddeutsche Zeitung, 9.12.2013

Charles Simic: Der Regenmantelmann
Neue Zürcher Zeitung, 9.12.2013

Norbert Gstrein: Der leere Raum
Neue Zürcher Zeitung, 9.12.2013

Cees Nooteboom: Der andere Atem
Neue Zürcher Zeitung, 9.12.2013

Peter von Matt: Der Freund auf der Kommandobrücke
Neue Zürcher Zeitung, 9.12.2013

Hans-Dieter Schütt: Warum fallen Sterne nicht herab
neues deutschland, 9.12.2013

Mara Delius: Nach draußen, hinein ins Buch
Die Welt, 9.12.2013

Jenny Schon: Hundert Schritte

 

 

Zum 75. Geburtstag des Autors:

Britta Schultejans: Michael Krüger wird 75
Abendzeitung, 7.12.2018

Georg Reuchlein: Michael Krüger (75)
BuchMarkt, 9.12.2018

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Gerrit Bartels Interview mit Michael Krüger: „Gott ist ein Melancholiker“
Der Tagesspiegel, 7.12.2023

Willi Winkler Interview mit Michael Krüger: „Ich habe mich der Literatur höflich genähert“
Süddeutsche Zeitung, 7.12.2023

Arno Widmann: Der virtuose Gesang und der Schrei
Frankfurter Rundschau, 9.12.2023

Andrea Köhler: Kaum einer hat so viele Literaturnobelpreisträger in seinem Verlag versammelt wie Michael Krüger
Neue Zürcher Zeitung, 8.12.2023

Hannes Hintermeier: Schwimmer im Meer der Gedichte
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.12.2023

Hans-Dieter Schütt: Wie kommen Sterne an den Himmel?
nd, 8.12.2023

Leander Berger: Lesen als Lebensmittel
Badische Zeitung, 9.12.2023

Quh: Freund der Ziegen
quh-berg.de, 9.12.2023

Martin Schult: „Danke“
Börsenblatt, 8.12.2023

 

 

 

Volker Weidermann: Küsse, Nasenküsse, Ringkämpfe. Abschiedsfest für Michael Krüger.

Ein Abend für Michael Krüger. Michael Krüger ist eine Legende des Literaturbetriebs. Am 16.1.2014 sprach er in der Literaturwerkstatt Berlin mit Harald Hartung über seine Arbeit als Verleger, Herausgeber, Autor und Übersetzer.

 

 

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Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Michael Krüger

 

Michael KrügerLebenselixier Literatur im Gespräch mit Norbert Bischofberger, SRF 22.9.2013.

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