Nico Bleutge: klare konturen

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Nico Bleutge: klare konturen

Bleutge-klare konturen

PUNKTIERTER HIMMEL

die streifen der telegraphendrähte über dem skelett
aaaaaaus sandstein
die aufquellenden wolken hinter den hügeln
das einrasten der pupillen. der schräg belichtete
aaaaahorizont

die kühle der keramik an der oberseite der finger, der
aaaaadruck
der härchen gegen die serviettenringe, die perspektive
der übereinander gestapelten erinnerungen

der matte winkel der stufen, die schattige kerbe
eines treppenabgangs, überspannt von grauem draht
der die dächer ausstreicht, die schmaler werdenden veranden

das aufspritzen des reinigungswassers an den rissen des teers
die rostige färbung des efeus, die groben zuckerwürfel
auf den metallhäuten der fregatte im hafen, platte auf platte

fülle ich mit bildern für die zukunft, fülle und fülle
die aus dem bild gebrochene sichel des meeres und den kalk
in den fingerrillen, den sand und diesen blau angelaufenen himmel

 

 

 

Das scheinbar Selbstverständliche,

unsere Wahrnehmung, ist im täglichen Leben durch den Gebrauch gleichsam verschattet. Gedichte öffnen unsere Sinne. Der junge Lyriker Nico Bleutge, ein „konsequenter Augenmensch“ (Katrin Hillgruber), widmet sich in seinen Gedichten dem Sehen, Hören, Betasten, Sprechen, der „Peilung“ der Blicke und dem Körperlichwerden der Worte. In den sechs Zyklen seines ersten Gedichtbandes klare konturen unternimmt er eine Erkundung des Blicks, die unser ganzes Sehfeld umfaßt, Natur, Landschaft – man kann geradezu von einer Neubestimmung des Landschaftsgedichts sprechen –, inmitten des von Menschen Geschaffenen, um dann den Körper, den physischen und den sprachlichen, zu vermessen. Skulptur- und Gemäldeskizzen, die den Raum der Geschichte mit ihrem Rhythmus öffnen, und poetische Momentaufnahmen leiten über zum letzten Kapitel „die verschütteten wege“, das am Beispiel des Neuen Gartens in Potsdam historische Spurenelemente freizulegen versucht. Feinste Spuren, die der Geschichtsverlauf in der Kulturlandschaft und in den Bauten hinterließ, werden von Bleutges Gedichten genau benannt und so erst sichtbar gemacht. Eine Schule des Sehens, Hörens, Erinnerns.

C.H. Beck Verlag, Ankündigung

 

Sonnengeflüster (Nico Bleutge)

Mit dem Band klare konturen hat Nico Bleutge – er ist vom Jahrgang 1972 – im Herbst 2006 seinen lyrischen Erstling vorgelegt, und es gelang ihm damit gleich ein Hype, wie er im weitläufigen Einzugsbereich zeitgenössischer, zumal deutschsprachiger Poesie nur sehr selten eintritt. Zwar konnte Bleutge, laut seinem Klappentext, mit bemerkenswerten Vorschusslorbeeren an den Start gehen, er hatte schon zuvor „zahlreiche Veröffentlichungen“ vorgelegt und „viele Stipendien und Preise“ zugesprochen bekommen. Aber dass ihm sein Début innert kurzer Zeit noch mehr Stipendien und noch mehr Preise einbringen würde, hat wohl weder er selbst noch sein Verlag absehen können.
Zu all den Ehrungen zwischen Vaduz und Berlin kommt der einhellige Zuspruch des Feuilletons, das dem Jungautor inzwischen – unter manch andern Meriten – Qualitäten wie „mikroskopische“ Genauigkeit und eine „hochintelligente“ Poetik, georgianisches „Schönheitsbewusstsein“ oder auch „knisternde“ Brisanz und Scharfsichtigkeit gutgeschrieben hat. Das sind durchaus valable, entschieden positive Etikettierungen, die aber keinerlei kritische Anstrengung erkennen lassen und an Trivialität nicht hinter Bleutges Verlagswerbung zurückstehen.
Dort wird unter anderm festgehalten, der Autor öffne mit seinen Gedichten „unsere Sinne“, er widme sich schreibend „dem Sehen, Hören, Betasten, Sprechen“, unternehme „eine Erkundung des Blicks, die unser ganzes Sehfeld umfasst“, und lege nebst Landschaftslyrik auch „Skulptur- und Gemäldeskizzen“ vor, „die den Raum der Geschichte mit ihrem Rhythmus öffnen“. Zweimal ist hier also von „uns“ die Rede – von „unsern“ Sinnen, von „unserm“ Sehfeld – und zweimal davon, dass Bleutges Dichtung wichtige Bezirke zu „öffnen“ vermögen, die in „unserm“ Leben und in „unsrer“ Geschichte bislang wohl verschlossen waren.
Da wird also offenkundig ein Autor portiert, der auch mal wieder als Autorität seinen Auftritt haben soll; für den die Stunde der wahren Empfindung ein Dauerzustand ist und der „uns“ seine ästhetische Erfahrung dichterisch adäquat zu vermitteln weiss. Ob dieses ausserliterarische Ziel tatsächlich erreicht wird, und mit welchen Mitteln, das wird zu prüfen sein.
Feststeht vorab, dass Bleutges rascher Erfolg (der ihm wohl eher zugefallen ist, als dass er ihn – so – angestrebt hätte) nicht ein literarisches, vielmehr ein literaturpsychologisches und literaturbetriebliches Phänomen ist. Dass Werbung und Kritik, selbst wenn’s um Lyrik geht, das Publikumsinteresse immer zuerst auf die Person des Autors hinführt und auf das, was dieser zu „unsrer“ besseren Einsicht oder auch nur zu „unsrer“ Information zu sagen hat, ist leicht nachvollziehbar, da generell mit einer Leserschaft gerechnet wird, die es vorwiegend auf das „Mitnehmen“ und die „Nutzung“ von Inhalten abgesehen hat.
In solchem Verständnis ist Bleutge dafür belobigt worden, dass es ihm „gelingt, unprätentiös-präzise Lyrik zu verfassen, die gerade durch ihre ungewöhnliche Sichtweise auf Alltägliches dem Leser (also wiederum ,uns‘) den Prozess der Wahrnehmung und des Erfassens von Wirklichkeit um so stärker ins Bewusstsein rückt“. – Was da positiv hervorgehoben wird, hat mit Literatur, hat vollends mit Lyrik nichts zu tun; es impliziert ein Programm, das „uns“ vermittels literarischer Texte die Wahrnehmung und Bewältigung des Alltags erleichtern soll, und wenn solches auf „unprätentiös-präzise“, das heisst: auf allgemein verständliche Weise geschieht, hat der Autor seine Schuldigkeit im Erwartungshorizont des Publikums bereits optimal abgegolten.
Literatur wird bestenfalls geschätzt als eine „ungewöhnliche“ Art, über „gewöhnliche“ Dinge zu berichten – eine Anforderung, die allerdings auch (und oftmals besser) der Essay, die Reportage, das Sachbuch zu erfüllen vermag. Ob und warum es denn überhaupt die Aufgabe der Literatur als Kunst sein soll, „uns“ über die ausserliterarische Wirklichkeit ins Bild zu setzen, bleibt weithin ausseracht, und noch weniger wird danach gefragt, wie sie solches denn überhaupt bewerkstelligt.
Es ist klar, dass Nico Bleutges dichterische Arbeit und Leistung weder an Werbesprüchen noch an unbedarftem Kritikerlob zu messen ist; was zählt, ist einzig das, was er zu lesen gibt, und zu würdigen bleibt nur, ob und wie der Autor seinen eigenen Zielsetzungen zu entsprechen vermag. Diese Zielsetzungen brauchen nicht eigens formuliert zu werden, sie sind im Text – in jedem künstlerischen Text – immer schon implizit mitgegeben.
Bereits durch seine Titelgebung, klare konturen, macht der Autor deutlich, worauf es ihm ankommt, worauf er hinauswill. Konturhafte Klarheit ist ein optisches Kriterium, lässt an zeichnerische, allenfalls an photographische Bildgebung denken, mithin an scharf umrissene Gestalten oder Gegenstände. Solche Gegenstände und Gestalten sollen demnach mit dichterischen Mitteln, also in dem ganz andernsartigen Medium der Sprache wiedergegeben werden.
Das ist allerdings noch bei weitem kein poetologisches Programm; es verweist lediglich darauf, dass – und wie – hier Wirklichkeit repräsentiert werden soll: was da draussen bildhaft vorgegeben und wahrzunehmen ist, wird in den Gedichten, sprachlich umgesetzt, noch einmal vergegenwärtigt. Das entspricht dem traditionellen Verfahren realistischer Darstellung, bei dem der dargestellte Gegenstand Vorrang hat vor dem Darstellungsmaterial und der Darstellungstechnik.
Gegenstand von Bleutges Lyrik sind mehrheitlich Landschaften, darunter viele Seestücke und ausserdem, zum geringeren Teil, Werke bildender Kunst. Die durchgehende, im Buchtitel wie im Text verwendete Kleinschreibung lässt vermuten, dass der Autor nicht nur von der üblichen Orthographie, sondern auch von der automatisierten Wahrnehmung abweichen und „uns“ eben dadurch – Stichwort: „Verfremdung“ – einen „ungewöhnlichen“ Zugang zur Aussenwelt eröffnen möchte.
Durch diese wenigen Prämissen lassen sich die Erwartungen präzisieren, die man in Bezug auf Bleutges Dichtung haben kann beziehungsweise nicht hegen sollte. Nicht die Arbeit an und in der Sprache, nicht das Interesse am Wort und an dessen vielfältiger Formbarkeit und Sinnhaftigkeit sind hier vorrangig, vielmehr geht es um den Einsatz sprachlicher Mittel zur Wiedergabe visueller Eindrücke und ästhetischer Erfahrungen. Das Gedicht steht für etwas, das schon vor seiner Entstehung da war, sich ereignet hat, wahrgenommen wurde und nun, durch das Gedicht selbst und in ihm, festgehalten ist.
Der Gegensatz dazu wäre eine sprachbewusste, sprachbezogene dichterische Redeweise, die ihren Gegenstand nicht bloss darbietet, sondern ihn im Vollzug des Gedichts überhaupt erst hervorbringt. Die Unterscheidung dieser gegensätzlichen Redeweisen impliziert keinerlei Wertung; beide haben ihre Berechtigung, aber von beiden ist zu fordern, dass sie ihren jeweils eigenen Kriterien (im eigentlichen Wortsinn:) entsprechen.
Lesen „wir“ also – es soll ja für „uns“ ein Mehrwert sein – bei Nico Bleutge nach. Der Band klare konturen ist aufgeteilt in sieben Textgruppen, vier davon umfassen jeweils rund ein Dutzend selbständige Gedichte, die übrigen sind knapper proportioniert, der letzte Teil besteht aus einem einzigen, auf einer Seite Platz findenden Gedicht.
Eröffnet wird das Buch durch den strophisch willkürlich segmentierten Text „nachmittag, wechselnde sicht“, das als beispielhaft gelten kann für die Art und Weise, wie der Autor Landschaft oder jedenfalls Landschaftliches vorführt:

über dem strich der mole. Einzelne punkte, das wasser
glimmt gelb auf, wenn die sonne durch die wolken

flüstert, wölbt sich die hand, um das licht
an der iris zu halten, wimpern hängen ins bild

die schiene des lids, auf der die segel nach draussen
rutschen, kiemen, und das ufer bewegt sich

in richtung hafen. Die haare folgen dem wind
der weit ausholt, auf der haut der häuser

treten knorpel hervor und die fensterläden
schnappen nach luft. Als hinge alles am rhythmus

der tropfen, die gegen die steintreppe klatschen
doch der druck in den fingern lässt nach

sie geben das licht frei und nehmen den kopf
mit hinaus zu den booten, die lange schon kleinen

glasigen knochen gleichen, die dünung versteckt sie
zeigt sie her

Das Gedicht baut sich auf aus sechzehn Versen, die reimlos und ohne ein vorgegebenes Metrum je zu Paaren gefügt sind. Die Titelzeile ist integraler Bestandteil des Texts, leitet direkt über zum ersten Vers: „nachmittag, wechselnde sicht | über dem strich der mole…“, eine Zusammengehörigkeit, die lautlich durch die Assonanz von „sicht“ und „strich“ bekräftigt wird. Die Interpunktion bleibt rudimentär und unentschieden, ein Schlusspunkt fehlt, der letzte Vers bricht unvermittelt ab und schafft somit Raum – oder lässt ihn frei – für ein diskret evoziertes Bild: „die dünung versteckt sie | zeigt sie her“. Sie – das sind die Boote, die draussen auf dem Wasser liegen und die dem Blick des Beobachters durch die Dünung bald entzogen, bald freigegeben werden: ein Hin und Her, ein Auf und Ab, bei dem zuletzt (im Gedicht) die Boote nochmals sichtbar werden, um danach (in der Weisse des Papiers) definitiv zu verschwinden.
In den flashartig aufeinander folgenden Strophen werden gleichzeitig ein Wahrnehmungsgegenstand und ein Wahrnehmungsvorgang vergegenwärtigt. Gegenstand der Wahrnehmung sind ein Kai, eine Mole in Hafennähe, es gibt Häuser in nächster Umgebung. Die Situation wird impressionistisch – mithin keineswegs in „klaren Konturen“ – skizziert mit sparsamen Hinweisen auf Realien wie „Ufer“, „Segel“, „Fensterläden“, „Steintreppe“, „Dünung“. Soweit die Wahrnehmungsdaten.
Auf ingeniöse Weise bringt nun Bleutge auch den Wahrnehmenden beziehungsweise die Wahrnehmung selbst ins Spiel, indem er die Ufer- oder Hafenszenerie mit Versatzstücken eines menschlichen Körpers – wohl des Beobachters oder auch der Beobachterin zusammenschneidet. „Kopf“, „Haar“ und „Hand“ (auch „Finger“), „Lid“, „Iris“ und „Wimpern“ werden gewissermassen als Wahrnehmungsinstrumente ausgelegt, ohne dass ein wahrnehmendes Subjekt („ich“, „er“, „sie“, „wir“), welches darüber verfügen könnte, namhaft gemacht würde.
Als Leser erfahre ich nicht, wer da seinen Blick über Hafen und Küste gleiten lässt, ich kann aber anhand von ephemeren Gesten erschliessen, wie der gleichsam herrenlose Körper die visuellen Eindrücke aufnimmt und zur Wahrnehmung verarbeitet. Folgende Haltungen und Gesten, immer wieder unterbrochen durch hereinstürzende Bildfragmente, lösen einander dabei ab: Wenn die Sonne durch die Wolken bricht, hebt sich die gewölbte Hand zum Auge, um es vor dem Licht zu schützen; das nun sichtbar werdende Bild ist verhängt oder wird verwischt durch die Bewegung der Wimpern; dann aber gibt der Lidrand („schiene des lids“) den Blick frei auf die übers Wasser rutschenden Segel; während der Blick den Segeln folgt, scheint das Ufer sich zum Hafen hinzubewegen, und die Haare des Beobachters, der Beobachterin wehen im Wind, der zugleich die Fensterläden an den Häusern aus der Arretierung reisst und zuschlägt; Tropfen sieht man (hört man?) auf eine Treppe klatschen; der Druck in den Fingern, die noch immer an der Schläfe liegen und das Auge abschirmen, lässt nach, so dass mehr Licht ins Bild kommt und der Kopf sich frei zur gelb glimmenden Wasserfläche wenden kann, wo viele kleine Boote von der Dünung gewiegt werden.
Schön und gut. Aber die Tatsache, dass das Gedicht diskursiv nachgeschrieben, gewissermassen auf die Linie gebracht und damit ohne weitem interpretativen Aufwand verständlich gemacht werden kann, spricht eher gegen als für dessen sprachkünstlerische Qualität. Was in Prosa gesagt werden kann, ist keineswegs auf die Umsetzung in Verse angewiesen. Doch eben dies scheint Bleutges Verfahren zu sein – alltägliche Erfahrungen und alltagssprachliche Sätze durch deren poetisierende Verfremdung aufzuwerten, sie gar zu adeln.
Erfahrung wird solchermassen wohl besprochen, das heisst hier: lyrisch in Worte gefasst, nicht jedoch aus der Sprache selbst gewonnen, nicht durch gleichrangige Spracherfahrung beglaubigt. Ein Blick zurück in jenen „nachmittag“ mit seinen wechselnden Sichtverhältnissen mag’s verdeutlichen.
Die Mole wird nicht als solche wahrgenommen, sondern als ein Strich – weil sie wie ein Strich sich abzeichnet, und ebenso die Lichtreflexe auf dem Wasser, die wie „einzelne punkte“ das Wasser zum Glimmen bringen, „wenn die sonne durch die wolken | flüstert“. Die durch die Wolken flüsternde Sonne ist eine gelungene synästhetische Metaphernbildung, die aber im vorliegenden Textzusammenhang störend wirkt, weil sie die visuelle Wahrnehmung, um die es an dieser Stelle geht, akustisch unterläuft und entwertet; denn nicht weil die Sonne flüstert, hebt man die Hand vors Auge, sondern weil sie gleisst oder blendet.
Die Hand schützend vors Auge zu halten, ist eine schlichte, meist spontane Geste – hier wird sie rhetorisch zu einer weihevollen Zeremonie überhöht, bei der die Hand des Geblendeten sich „wölbt“, „um das licht | an der iris zu halten“. Vertrautes, Triviales, Offenkundiges wird vom Autor, nicht nur an dieser Stelle und nicht nur in diesem Gedicht, durch erhabene Inszenierung ins Fremde, Feierliche entrückt. Statt das, was klar und einfach ist, in seiner Einfachheit und Klarheit sprachlich zu konturieren, verunklärt er’s durch diffuse Lyrisierung. Dem Postulat der „klaren Konturen“ läuft auch die organismische und animistische Vereinnahmung der Gegenstandswelt zuwider: „fensterläden schnappen nach luft“, wo schlicht deren Klappern im Wind gemeint ist, und „auf der haut der häuser | treten knorpel hervor“, wo vermutlich bloss der Verputz sich ablöst. Auch konjunktivische und vergleichende Formulierungen („als hinge alles am rhythmus“ oder jene Boote, „die lange schon kleinen | glasigen knochen gleichen“) sind fehl am Platz – wo es um präzise Wahrnehmung gehen sollte, darf nicht mit Analogien operiert werden.
Nico Bleutges durchaus valables Konzept einer neuen poetischen Klarheit wird durch allzu zahlreiche Manierismen und ungewollte Stilbrüche nachhaltig in Frage gestellt. Dennoch ist mit klare konturen ein in mancher Hinsicht beachtenswerter Anfang gemacht. Der Autor sollte sich – der Rat sei gewagt – nicht durch überschwengliche Rezensenten davon abhalten lassen, seine Schreibarbeit kritisch zu reflektieren und sie, dem frühen Erfolg zum Trotz, konsequent voranzutreiben.

Felix Philipp Ingold, manuskripte, Heft 175, 2007

Zwischen Land und Meer

– Abenteuer des Sehens: das famose Debüt des Lyrikers Nico Bleutge. –

Es kommt in unserem ironischen Zeitalter nur noch selten vor, dass sich zeitgenössische Dichtung als Grundlagenkunst versteht. Der in Tübingen lebende Lyriker Nico Bleutge ist in seinem poetischen Debüt dieses Wagnis eingegangen: Seine Gedichte entwickeln eine subtile Wahrnehmungslehre, die am poetischen Einzelfall die Möglichkeiten und Grenzen sinnlicher Anschauung überprüft. Das naive Fürwahrnehmen der Sinneseindrücke wird von dieser Dichtung außer Kraft gesetzt. Das Abenteuer des Sehens beginnt hier mit einem Blick „nur aus den Augenwinkeln“. Diesem Blick wird jedoch ein entscheidendes Attribut zugesprochen: „Verlässlichkeit“.
Was heißt das nun für den Augensinn der Poesie? Was heißt das für die Gedichte des 1972 in München geborenen Autors, der wie kein anderer Lyriker seiner Generation das Abenteuer der Wahrnehmung in seinen Gedichten realisiert? Ein Leitmotiv ist die Grenze von Land und Meer: Seine Gedichte entwerfen Tableaus von Küsten- und Hafenszenerien, beobachten Luftströmungen oder konzentrieren sich auf Spiegelungen des Wassers.
Oft sind es auch Naturstoffe und Pflanzen, die eine eigene Textur bilden und eine Struktur vorgeben: Schilfhalme, Flechten aus Seegras, Fäden aus Tang. Vieles wird in seiner Phänomenalität und sinnlichen Konkretion ganz genau betrachtet: eine Küstenlinie, eine leichte Wellenbewegung auf sich kräuselndem Wasser, ein sanfter Windstoß, der durch Grashalme fährt.
Die Suchbewegungen in den Gedichten verbleiben dabei stets im Vorfeld sinnlicher Gewissheit. Der suchende Blick „steckt das Feld ab“, tastet sich behutsam an die Dinge heran, folgt den Konturen von Naturphänomenen oder technischen Gegenständen. Je kleiner der Sichtausschnitt, desto intensiver die Suchbewegung des Dichters:

kalk
und teilchen aus glas. ein leichter pfad
von der braue ans ohr. gespannter draht
hielt sich die sicht in seinem raum dagegen
rollte es. noch immer kalk. der sich so lang
von einem rand betasten ließ.

Es geht hier nicht um ein besitzergreifendes Sehen, sondern um einen Zustand „entgrenzter Wahrnehmung“, wie Bleutge in einem Essay für die Lyrik-Zeitschrift Zwischen den Zeilen (Heft 24) ausgeführt hat. Schon bei einem seiner ersten öffentlichen Auftritte im November 2001, als er den Berliner Open-Mike-Wettbewerb gewann, verblüffte der Autor, den Tagesspiegel-Leser auch als feinsinnigen Kritiker kennen, mit seiner Wahrnehmungskunst. Den Zyklus „Peilung“, den er damals vortrug, hat er auch in sein Debütbuch klare konturen aufgenommen – und seine Exerzitien der Wahrnehmung mittlerweile noch verfeinert. Das hat ihm in diesem Jahr gleich drei angesehene Preise eingetragen. Mit dem Literaturpreis des Liechtensteiner PEN, dem Berliner Anna-Seghers-Preis und dem Kranichsteiner Förderpreis ist er der erfolgreichste junge Lyriker seit langem.
Wer sich mit Bleutges Texten näher beschäftigt, wird fasziniert sein vom unablässigen Erproben, Revidieren und Neu-Justieren mikroskopischer Feineinstellungen. Das ominöse lyrische Ich, das sich in den Texten vieler seiner Generationskollegen zur naiv-selbstherrlichen Instanz erhebt, tritt in Bleutges Gedichten fast vollständig zurück hinter die Wahrnehmungsinstrumente des Textes selbst. Diese Abwesenheit eines Ich bezahlen die Gedichte aber nicht mit einem Verlust an Beobachtungsschärfe, sondern erzielen damit eine neue Ökonomie der Aufmerksamkeit.
Von seinen filigranen Landschafts- und Naturbeobachtungen hat sich Bleutge mittlerweile vorgearbeitet zu artistischen Gemälde- und Skulpturgedichten, wie etwa in zwei großartigen „charakterkopf“-Studien, die den 49 Köpfen des Barockkünstlers Franz-Xaver Messerschmidt gewidmet sind. In diesem reifen Debütbuch eines Dichters ist ein hellwacher, präzise beobachtender Augen-Mensch bei der Arbeit zu besichtigen, mit einem „feinen etwas unbestimmten strich / der eine möglichkeit mit einer andern möglichkeit“ verknüpft.

Michael Braun, Der Tagesspiegel, 21.12.2006

An der Herzlinie vorbei – präzise und kalte Wahrnehmungen

Nico Bleutge wurde 1972 in München geboren und hat mit dem vorliegenden Band diverse Auszeichnungen erhalten (u.a. den Anna Seghers-Preis). klare konturen ist ein programmatischer Titel. In konsequenter Kleinschreibung, mit wenigen Interpunktionszeichen durchsetzt, entwirft Nico Bleutge optisch wahrgenommene Landschaften, die den einsamen Betrachter mit einbeziehen. Es sind Bildausschnitte, meist in Meeresnähe, denen die Klarheit der unmittelbar sinnlichen Wahrnehmung in der Entwicklung der Gedanken schnell abhanden kommt und sie ins Metaphysische wendet. Daneben werden auch Kunstwerke betrachtet (Edward Hopper, 1882–1967 und Franz Xaver Messerschmidt, 1736–1783). In den sieben Abteilungen (sechs Zyklen und ein Einzelgedicht) steckt der Blick Seh-Felder ab. Naturphänomene, Tiere und Pflanzen oder Gegenstände sickern als Wahrnehmung in den Körper; der Betrachter agiert als Kollektor sinnlicher Eindrücke. Natürlich begnügt sich Nico Bleutge nicht mit der simplen Feststellung, er betätigt sich gleichzeitig als hochintelligenter Kommentator und Kritiker des eigenen Tuns. Der Entgrenzung entgegen kommt der Umstand, dass Nico Bleutge oft Gegenstände in Bewegung beschreibt (z.B. die Krabben in „seehäute, angetrockneter tang“). Die Dinge bleiben fremd und uneinholbar und – scheinbar paradox – je kleiner der Bildausschnitt, desto notwendiger das Revidieren und Justieren der Einstellung. Schön auch, dass man etliche Abteilungen, trotz der Unterteilung in einzelne Gedichte, als Ganzes lesen kann. Ich bin gespannt auf die nächsten Werke dieses verheissungsvollen Dichters.

Heiko Bolick, amazon.de, 18.2.2008

Schade

In Nico Bleutges Gedichten geht es vorwiegend um die Beschreibung von Landschaften am Meer. Immer wieder gelingt es dem Autor auf neue und ästhetische Art und Weise die Gegenstände seiner Betrachtung sprachlich darzustellen. Das gefällt mir als Leser, aber über die Spanne eines kompletten Gedichtbandes hinweg findet mir zu wenig Variation statt. Was mir fehlt, ist eine tiefergehende Interpretation des Gesehenen oder schlichtweg „Welterkenntnis“. Nach dem Lesen des zwanzigsten Textes stellt sich die Frage ein, ob das wirklich alles ist, ob mir der Autor nicht mehr zu sagen hat, mehr bieten kann als einen präzisen, in eine schöne Sprache umgesetzten Blick auf das Meer.

Andreas Hutt, amazon.de, 29.1.2008

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Norbert Lange: Kritik Nico Bleutge: klare konturen
poetenladen.de, 9.1.2006

Matthias Kehle: Nico Bleutge: klare Konturen
carpe librum

Beate Tröger: Kühle Romantik – Über die Lyrik von Nico Bleutge
literaturblatt für Baden-Württemberg, November/Dezember 2014

 

Mit Nico Bleutge One Day – Ein Tag Spurensuche in der Lyrik-Bibliothek

Fakten und Vermutungen zum Autor + KLG + ArchivPIA
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Galerie Foto Gezett +
Dirk Skibas Autorenporträts + Keystone-SDA
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Nico Bleutge liest zum Tag der Poesie und Wein in Ptuj, August 2013.

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