Paul-Henri Campbell: Zu Alfonsina Stornis Gedicht „Der Blick“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Alfonsina Stornis Gedicht „Der Blick“ aus Alfonsina Storni: Ultrafantasía. –

 

 

 

 

ALFONSINA STORNI

Unter der Last der Jahre werden die feinen Leute
morgen zusehen, wie ich vorübergehe,
aber unter dunklem Tuch und müder Haut
glimmt das alte Feuer noch ein wenig auf.
Ich werde sie fragen hören, wer die denn sei,
die da vorübergehe. Und eine Stimme wird erwidern:
„Ach, in guten Jahren schrieb sie
Gedichte. Lang ist’s her, sehr lang.“
Ich aber werde weißes Haar haben,
helle Augen, um den Mund
eine große Gelassenheit, und mein Lächeln
wird, wenn ich das höre, nicht erlöschen.
Langsam werde ich weitergehen,
mit meinem Blick in ihre Augen sehen,
mein Blick wird ganz in die Tiefe dringen,
und einer in der Menge wird verstehen.

 

„Dieser Band

schließt die Werkausgabe von Alfonsina Storni in der Edition Maulhelden ab“, notiert Hildegard E. Keller nach fünf voluminösen Bänden, die das Werk einer 1938 in Argentinien verstorbenen Frau zugänglich machen. Was ist da nur los in Helvetien, ist man einen Moment lang versucht zu fragen? Während in Deutschland silberbärtige Herren das barocke Wunderkind Sibylla Schwarz (1621–1638) in schmalen Bändchen edieren, legen alpenländische Rebellinnen Gesamtwerke auf den Tisch. Man denke hierbei etwa auch an die Herausgeberschaft der Literatur von Marina Zwetajewa (1892–1941) durch Ilma Rakusa. Und da ist sie wieder, die ganze Spannweite jener Frage: Wen oder was meint „feministische Literatur“? Restitution am Kanon? Ein Nachtrag? Aus der Vorzeit hervoredierte „weibliche Positionen“ wie Sappho oder Sibylla Schwarz? Oder doch lieber Poesie, wie diese hier, die wie eine Säge durchs Herz geht. Alfonsina Storni – deren Werk aus journalistischen Beiträgen, Theaterstücken, Episteln und Erzählungen besteht – ist ein wahrer Mensch, keine Frau, die sich erst bewähren oder erweisen muss. Sie braucht nur die Evidenz ihrer Worte, um sich auszudrücken. In einem anderen Gedicht, das wie eine Prosaminiatur anmutet und den Titel „Kodak“ trägt, als sei es von der Wehmut beim Betrachten alter schwarzweißer Bilder inspiriert, heißt es: „Auto. Von meinem Sitz aus konnte ich nur den oberen Teil deines Rückens sehen, die mächtigen Schultern, vom grauen Anzug gezähmt, den braungebrannten urwüchsigen Hals, den nass-glänzenden Kopf und dein Profil, so perfekt wie mit großen Axthieben geschnitten. Plötzlich griffen agile Hände mit Stärke und Bestimmtheit nach dem Lenkrad. Und die Maschine gehorchte dir lautlos und fügsam wie mein Herz.“ Literatur, die aus der Entscheidungsmacht und Selbstbehauptung der Moderne geboren ist, die sowohl das Visionäre, die Sehnsucht nach der Sehnsucht, das Anmaßende, das Gloriose, das Geniale als auch das Paradoxe und Lächerliche ihrer Protagonistinnen zeigt und zelebriert. Wer sich auf diese handverlesenen Gedichte von Alfonsina Storni (*1892) einlässt, entdeckt nicht nur den lustvollen Ausbruch aus dem müden Fin de Siècle, er findet die komplizierte Lebens- und Sprachgeschichte am Frontier von Argentinien wieder, die italienischen Einflüsse auf das Spanische, die rauen Figuren, die zwischen Schauspielhaus und Dschungel changieren. Was hätte wohl Elizabeth Bishop auf Besuch aus Brasilien über diese gebürtige Schweizerin gesagt? Wäre ihr die heimliche Korrespondenz im Temperament einer Sylvia Plath, Gabriela Mistral, Clarice Lispector oder Alfonsina Storni in den Sinn gekommen?

Paul-Henri Campbell, Volltext, Heft 1, 2023

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