Paul-Henri Campbell: Zu Anna Grivas Gedicht „Die Gaben des Schlafes“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Anna Grivas Gedicht „Die Gaben des Schlafes“ aus Anna Griva: Glaub den Wörtern nicht. Sieh hin

 

 

 

 

ANNA GRIVA

Die Gaben des Schlafes

Ich höre die Tür knarren
ein fernes Quietschen
wie die Stimmen in meinen Träumen.

Die Muttergottes an der Wand
hat ihre Hand ausgestreckt
und nach der Zeitung gegriffen,
liest sie schweigend,
und dann und wann sieht sie mich an.
Ihre Augen werden groß,
um mir zu zeigen, wie sehr ihr an mir liegt.

Meine Augen dagegen sind klein
und werden leider noch kleiner,
wenn ich allein schlafe,
sind nur da
damit sie morgens das Erwachen
beobachten können.

Weiter drinnen bin ich noch Schlaf,
ich speise mit den Gestorbenen,
die zurückkehren, um stolz zu sein
auf meine Fortschritte im Leben.
Und immer gehen sie glücklich davon,
weil ich ein Träumer bleibe,
so wie ich sie spielerisch zurückhole
bei jeder Gelegenheit.

 

Der Dichter Georg Lillis

notiert einmal in der Athener Kulturzeitschrift Anagnostis, Anna Griva schreibe über antiken Stoff hinaus:

Die Mythen sind in Vergessenheit getaucht. Grivas Welt bedarf keiner Helden.

Es gibt keinen Schutz im Kanon, keine Zuflucht bei tradierten Größen. Eine sich ihrer Verlegenheit bewusste Poesie suche jenseits von Egoismus und Stolz nach dem, was die Welt übersinnlich, aber auch klein und zerbrechlich erscheinen lasse.

Sie beginnt wieder die Welt um uns zu respektieren.

Ihr Anfang ist der Respekt, nicht einfach als ethische Haltung, sondern als ästhetisches Projekt. Was die 1985 in Athen geborene Anna Griva zum Ausdruck bringt, scheint mir tiefer und wesentlich anders als eine Pose zu sein, wie sie in pseudosouveränen Absagen an die Tradition vorkommt. Während es bei Dichtern wie Durs Grünbein sicher nicht an Bildungskulissen fehlt, mangelt es doch oft an der Exzellenz. Hier aber ist keine Ikonoklastin am Werk, Anna Grivas Duktus operandi besagt: Respektiere deine Welt, liebkose sie im Wort. So lässt sie anderswo einen entzauberten Achilles auftreten:

Doch ich suche nichts,
meine Gebete sind versiegt,
meine Mutter habe ich vergessen
wie die Welt da oben.
Ich betrachte nur das Wasser.

Und hier in den Gaben des Schlafes entwirft Anna Griva eine Vision der Zuversicht, denn selbst die „Gestorbenen“, die im Schlaf „zurückkehren“ sind stolz und glücklich, weil die Schlafende für die Entschlafenen „ein Träumer“ bleibt. Was immer in der zuvor erwähnten „Zeitung“ auch stehen mag, im Träumen liegt die Kraft, es zu überstehen und darüber hinaus zu schreiben.

Paul-Henri Campbell, Volltext, Heft 3, 2019

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