Paul-Henri Campbell: Zu Federico Italianos Gedicht „Mittelmeer“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Federico Italianos Gedicht „Mittelmeer“ aus Federico Italiano: Sieben Arten von Weiß.

 

 

 

 

FEDERICO ITALIANO

Mittelmeer

Hast du jemals einen Bülbül in Tunesien gehört?
Oder die Samtkopf-Grasmücke auf Sardinien?
Erinnerst du dich an den Wiedehopf

im Frühling, an den ligurischen Küsten,
dessen hu-hu-hup
durch die Jalousien drang, den Traum zu weiten?

Und die Dohlen, die blechern plaudern,
wenn die Nacht soeben hereinbricht –
hast du dich je gefragt, warum?

Der Gesang der Nachtigallen, Amseln, Mönchsgrasmücken –
ist er sich wirklich immer gleich
in Magaluf, Jaffa und Algier?

Welche Sprache sprechen die korsischen Möwen,
Pendler mit roten Schnäbeln
zwischen Marbella und Belyounech?

Und wenn der Bienenfresser im Gruissan
auf der Tour Barberousse
dich unterhält mit seinen flüssigen Soli,

verweile, lausche ihm: Sein Gesang
stammt aus unvordenklichen Zeiten
vor allen Türmen – und du kamst gerade erst an.

 

Ich stelle mir eine Bar,

sagen wir, in Belmar/New Jersey vor. Wenn man weit genug über die Krümmung des Atlantiks schauen könnte, sähe man die Pforte zum Mittelmeer. In Belmar jedenfalls sitzt Tony an dem einzigen Tisch mit Tischdecke in der Strandbar. Das ist der Bruder von Ralphy, den du gleich fragen wirst, welchen Dichter du beim Trip nach Wien aufsuchen solltest. Tony lehnt sich zurück und nuschelt: Federico Italiano. Ohne Begründung. Daraufhin du so: Aber wie soll ich wissen, dass er es ist? Jetzt fixiert dich Tonys Blick direkt:

Listen, kid, you’ll know it’s Federico Italiano when you see ’em.

Nehmen wir für einen Augenblick einmal an, dieses Gedicht geriere sich nicht als eine Hommage an Eugenio Montale (1896–1981), wie es der Übersetzer Jan Wagner im Nachwort anmerkt, vielmehr verneige Italiano in seinem Gedicht „Mediterrano“ sich gemeinsam mit Montale vor der perlmutternen Schale des Lichts selbst. Balancieren wir also die gesamte Lektüre einmal auf der vierten Strophe – genauer: – auf dem Vers im Zentrum des Poems: „ist er sich wirklich immer gleich“? Vollzieht sich hier etwa die eigenartige Beobachtung, die Fernand Braudel (1902–1985) in seinem dreibändigen Werk La Méditerranée auf zweieinhalbtausend Seiten durchdachte? Nämlich, dass im Kosmos Mittelmeer sowohl das dürre Hinterland von Tripolis mit den satten Terrassen des Piemonts in geheimer Kommunikation stehen. Dass der Karst entlang dem Adriaeiland Krk mit den Calanque bei Marseille eine tektonische Korrespondenz führt, die unbewusst und wie beiläufig ähnliche Lebenswelten gebiert, die bei allen linguistischen Unterschieden in den Häfen und Fischerdörfern einen ähnlichen – und gänzlich anderen – Charakter hervortreibt. Und gleichzeitig: Dass hier die im Bildprogramm aufgeführten Vogelarten in ihren Migrationen zwischen Nordafrika und Europa ebenso am Band fädeln, also die konkreten Ereignisse und individuellen Lebewesen bilden, die die mediterrane Erfahrung über Natur- und Kulturerscheinung, über Sprach-, Religions- und Nationalgrenzen ausmachen? So sehr dieses Gedicht durch intertextuelle Echos an Tiefe gewinnt, so sehr trägt die Oberflächenstruktur, ihre konkrete Bildsprache, samt ihres ornithologischen Lexikons, dazu bei, dieses eigentümliche Wunder der staunenden Kontemplation seiner Leserschaft zu überantworten. So sehr die Vogelgesänge dieses Gedichts an allen Stationen der Migration, die das Gedicht aufruft, erschallen, bleiben sie immer singulär, sind sie Spezies und Individuum zugleich. Diese „flüssigen Soli“ stammen „aus unvordenklichen Zeiten“, aber sie sind einmalig, versprengt, ausgesetzt und eingebettet zugleich, denn die Leser „lauschen“ nicht ihnen allen, sondern lediglich „ihm“, sie „verweilen“ bei einem einmaligen, unwiederholbaren Augenblick, wo „sein Gesang“ stattfindet und (bei aller Unvordenklichkeit) verklingt. Und da ist sie: die Singularität des Gedichts inmitten der unvordenklichen Konventionen der Rede. Nehmen wir den Gesang als eine Metapher für alles, was sich im Mittelmeer ausdrücklich macht. Nun, wie ist es dann mit dem Gesang, „ist er sich wirklich immer gleich“? Antwort: ja und nein. Braudel benötigte 2.500 Seiten, um bei seiner Analyse der Epoche Philipps II. die Geschichte des Mittelmeers so einzufangen, dass in der Epochenbeschreibung das Wesen der Geschichte deutlich wird, bei der Beschreibung der mediterranen Welt das Wesen der Welt überhaupt erkennbar wird. Federico Italiano macht es in einundzwanzig Versen. Eugenio Montale gibt es obendrauf noch dazu, gratis.

Paul-Henri Campbell, Volltext, Heft 2, 2022

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00