Peter Demetz: Zu Kurt Schwitters’ Gedicht „Frühe rundet Regen blau“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Kurt Schwitters’ Gedicht „Frühe rundet Regen blau“ aus Kurt Schwitters: Das literarische Werk. Band I, Lyrik. –

 

 

 

 

KURT SCHWITTERS

Frühe rundet Regen blau

Runde das Grün
Schlafe maies Land
Grüne Tropfen tropfenweise
Leise Tropfen tropfen leise
Runde schlaf Land
Schlafe grüne Tropfenwiese
Grüne Tropfen sanften Lied
Grünen Grüne grün.

 

Unser Zauberer aus Hannover

In diesem Gedicht, das Kurt Schwitters wahrscheinlich im Jahre 1919 geschrieben hat, sind noch viele Erinnerungen an die deutsche Naturpoesie gegenwärtig. Ich könnte mir vorstellen, wie ein traditioneller Poet die Kontur der Hügel, sachten Mairegen und prismatisches Farbenspiel der Frühe in klappernden Volksliedstrophen in Erinnerung ruft.
Merkwürdig, wie dieses kurze Gedicht, ganz Spontaneität und ganz Konstruktion zugleich, Bewahrung spielt: auch dieser Text setzt Klassisch-Romantisches fort, aber auf ironische und sprachkritische Art.
Die ererbte Grammatik schmilzt dahin und bildet im Sprach-Akt des Gedichtes ihre neuen Formen; hier wird mit Wortvorrat und Grammatik experimentiert, um wieder zu entdecken und neu zu nennen, was die alten Formen nicht mehr fassen. Nicht Selbstgenügsamkeit der Sprache, sondern ein auf die Wirklichkeit bezogenes Sprachspiel, um ein Mehr an Bedeutung und Erfahrung zu definieren: eine bewegte Frühlingslandschaft und ein ruheloses lyrisches Ich, in Wünschen, Forderungen, Bitten redend zur Natur, auf daß sie sich vollende und, was ihr Geologie, Wolken und Jahreszeit auferlegten, ganz erfülle. Das lyrische Ich als eines, das die verborgenen Absichten der Natur selbst ausspricht – ganz so, wie einst der romantische Dichter, aus dem Herzen des Universums?
Aber dieses Gedicht lebt aus einer modernen und spartanischen Präzision, die jedes Wort auf seinen etymologischen Bedeutungskern hin prüft, ehe sie es, so oder so, in den Zusammenhang fügt. Vieles, aber durch Weniges (Beispiel der sprachlichen Generationskraft überhaupt): ein vereinzelter Artikel als letzte Spur der traditionellen Grammatik, und sonst Wandlungen, Neuerungen, Transformationen. Das Adjektiv „sanft“ zum Verbum „sanften“ gesteigert; „Mai“ und „Schlaf“ in Qualitäten verwandelt; und das Adjektiv „grün“, im Formenspiel der letzten Zeile, als Nennung der Substanz, der Eigenschaft und der Art und Weise – die „grünste“ Zeile eines Naturgedichtes, die je ein deutscher Autor geschrieben hat.
Das alles steht August Stramm näher als dem Züricher Dada, wird der Literaturhistoriker einwenden, und der Freund der Weltliteratur wird an Stramms komplizierte Beziehungen zu den italienischen Futuristen erinnern, die ja ihre Grammatik ähnlich radikal revidierten, um den physischen und physiologischen Bewegungen des Weltkernes (nichts als pure Energie) auf der Spur zu bleiben. Aber Schwitters, der in manchen Gedichten Stramm imitiert, gefällt sich nicht in Stramms irrationaler Brunst. Weder Schreien noch Stöhnen, sondern Bewegung gezügelt durch die ökonomische Eleganz des Konstruktivisten: die Zeilen eins/zwei, fünf/sechs deutlich abgesetzt von drei/vier, sieben/acht; das Spiel mit dem Gleichklang am Anfang der Verse und, zugleich, die Enttäuschung semantischer Erwartungen (nichts kommt so wieder, wie es sollte); die wunderbare vierte Zeile mit ihrem „Rückgang“, dem aber nichts Mechanisches anhaftet (das Hörbare des ersten und des letzten Wortes ist identisch, nicht aber seine Satzfunktion).
Es gibt Gedichte, die sich dem Diktat der Bedeutung ganz unterordnen, und solche, die sich, alle Bedeutungen opfernd, ganz in Sprache verlieren – aber wie tut man beides zugleich? Kurt Schwitters, unser Zauberer aus Hannover, findet seine Lösungen ohne jede Mühe; wie einer jener Artisten, von denen Rilke in seiner Elegie so skeptisch spricht, hält er viele rotierende Teller auf einem wirbelnden Stab, und keiner zerschellt, und alles ist geglückte Bewegung, heiterste Kunst.

Peter Demetzaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zweiter Band, Insel Verlag, 1977

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00