Peter Rühmkorf: Aufwachen und Wiederfinden

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Peter Rühmkorf: Aufwachen und Wiederfinden

Rühmkorf-Aufwachen und Wiederfinden

BLEIB ERSCHÜTTERBAR UND WIDERSTEH

Also heut: zum Ersten, Zweiten, Letzten:
Allen Durchgedrehten, Umgehetzten,
was ich, kaum erhoben, wanken seh,
gestern an und morgen abgeschaltet:
Eh dein Kopf zum Totenkopf erkaltet:
Bleib erschütterbar – doch widersteh!

Die uns Erde, Wasser, Luft versauen
– Fortschritt marsch! mit Gas und Gottvertrauen –
Ehe sie dich einvernehmen, eh
du im Strudel bist und schon im Solde,
wartend, daß die Kotze sich vergolde:
Bleib erschütterbar – und widersteh.

Schön, wie sich die Sterblichen berühren –
Knüppel zielen schon auf Hirn und Nieren,
daß der Liebe gleich der Mut vergeh…
Wer geduckt steht, will auch andre biegen.
(Sorgen brauchst du dir nicht selber zuzufügen;
alles, was gefürchtet wird, wird wahr!)
Bleib erschütterbar.
Bleib erschütterbar – doch widersteh.

Widersteht! im Siegen Ungeübte,
zwischen Scylla hier und dort Charybde
schwankt der Wechselkurs der Odyssee…
Finsternis kommt reichlich nachgeflossen;
aber du mit – such sie dir! – Genossen!
teilst das Dunkel, und es teilt sich die Gefahr,

leicht und jäh – – –
Bleib erschütterbar!
Bleib erschütterbar – und widersteh

 

 

 

Das Lyrische Quartett im Lyrik Kabinett München sprach am 24.04.2013 über dieses Buch und ist zu hören ab 0:04:46.

 

„Habe viele Schlachten,

aber nie meine Identität verloren. Wußte vermutlich auch nie so recht, was das eigentlich ist.“
Peter Rühmkorf, geboren 1929, gehört zu den bedeutendsten Schriftstellern unserer Zeit. 1993 erhielt er den Georg-Büchner-Preis.
Seit dem Ende der vierziger Jahre schreibt Rühmkorf Gedichte, in denen er Vulgäres und Feinsinniges, Sinnliches und Metaphysisches, Pathos und Slang ironisch verbindet, wobei er oft parodierend an poetische Formen der Vergangenheit und an Formeln aus Publizistik und Werbung anknüpft. Der Insel-Bücherei-Band bietet einen Querschnitt durch Peter Rühmkorfs vielfältiges lyrisches Œvre: von den ganz frühen Poemen, die zeigen, wie alles mal losging, bis zu den jüngsten Gedichten, in denen Rühmkorfs feines Gespür für sprachliche und stilistische Nuancen noch einmal sichtbar wird.

Insel Verlag, Beiblatt, 2007

„Aufwachen und wiederfinden“

− Neue und alte Gedichte von Peter Rühmkorf. −

Offen gestanden: Dieses Bändchen von Peter Rühmkorf enthält nur zwei Gedichte, die bislang noch nicht in anderen Bänden Rühmkorfs gedruckt wurden. Andererseits aber und noch viel offener gestanden: Ein Buch mit nur zwei neuen Gedichten dieses Meisters ist allemal ein so großes Leseerlebnis und -vergnügen, dass sich nicht viele Bände anderer Autoren damit messen können, selbst wenn sie bis zur letzten Zeile nur zuvor unpubliziertes Material enthalten sollten. „Als ich endlich war / was ich früher einmal hatte werden wollen, / wohl gelitten, gern gelesen, / waren meine besten Zeiten offenbar / schon gewesen. / Und Fortunas Rad / rapide am Abwärtsrollen. / Schlimmes Jahr“: Es gibt nicht viele Dichter hierzulande, die so eine Strophe hinkriegen, so ehrlich und traurig, aber dennoch so frisch und kulinarisch. Diese Vielfalt der Tonfälle, diese überraschenden, leicht angeschrägten, noch nie dagewesenen Reime, dieser ironische, aber nie beschönigende, sondern immer um Wahrhaftigkeit bemühte Blick auf sich selbst! Viel besser geht’s nicht.

Uwe Wittstock, uwe-wittstock.de, 30.6.2007

Politik und Lyrik bei Peter Rühmkorf

I Dr. Jekyll und Mr. Hyde

1. Peter Rühmkorf – Ein politischer Schriftsteller
Peter Rühmkorf ist ohne Zweifel ein „politischer Schriftsteller“. Neben der Produktion literarischer Texte verfolgt er seit der Nachkriegszeit ein politisch-publizistisches Engagement. Dessen Forum wurde vor allem, von 1957 bis 1973, die von Rühmkorf mit gegründete Zeitschrift konkret, die mit ihrer Auflage von bis zu 200.000 Exemplaren neben Enzensbergers Kursbuch das wichtigste publizistische Medium der Protestbewegung der sechziger Jahre wurde. Rühmkorfs politische Artikel der fünfziger Jahre konzentrierten sich auf das öffentliche Klima des „Restauratoriums“ (Rühmkorf) und die Rolle der SPD, vor allem ihre ambivalente Haltung in der Frage der Wiederbewaffnung und die verstärkte Abkehr von radikal demokratischen Positionen nach der verlorenen Bundestagswahl von 1953. Die bundesdeutsche Politik sei integraler Bestandteil einer reaktionären US-Politik, die Presse heruntergekommen zu einem „Reklameunternehmen“ (Rühmkorf) für die Regierung, wirkliche Opposition finde nur außerparlamentarisch statt, etwa in der Paulskirchenbewegung.
Das Dilemma des linken, sozialistischen Aufklärers, der Rühmkorf bis heute geblieben ist, verschärft sich zu Beginn der sechziger Jahre. Der auf die Macht der Aufklärung und die Funktionsfähigkeit der Öffentlichkeit in einer parlamentarischen Demokratie setzende Publizist erfährt den massiven Gegendruck von Presse, Polizei und Staatsanwaltschaft; eine politische Bewegung, die seine Einsichten teilen und in Politik umsetzen könnte, ist nicht in Sicht, Einwirkungsmöglichkeiten auf das Parlament sind damit so gut wie nicht vorhanden. Die bis heute verfolgte parteipolitische Strategie einer Stärkung des linken Flügels der SPD wird, dafür sind die Wahlempfehlungen von 1961 und 1965 ein beredtes Zeugnis, angesichts der Entwicklung der Gesamtpartei fast zum Dezisionismus, und es bleiben zunächst nur „Adhoc-Pamphlete mit punktuell gebündeltem Zorn (Springer! Nach wie vor Friedensfeind und Arbeiterverkäufer Numero Eins!).“ Anti-Springer-Kampagnen bilden einen roten Faden in Rühmkorfs politischem Engagement. Dazu gehört neben dem „Farb-Tendenzfilm schwarz-weiß-rot gegen die BILD-Republik“ (Rühmkorf) von 1964 der von Rühmkorf mit initiierte Springerboykott durch die Gruppe 47 von 1967, der 1980, wiederum auf Betreiben Rühmkorfs, eine bemerkenswert breit unterstützte Neuauflage erfuhr. Die Liste der Themen, die Rühmkorf mit der Studentenbewegung verbanden, ließe sich um einiges verlängern. Für einen kurzen Augenblick schien es so, als sei die Ohnmacht kritischer Öffentlichkeit aufgehoben, als reiche die Solidarität zu einigen grundlegenden Veränderungen oder doch Korrekturen.
Auf das schnelle Ende der Bewegung hat Rühmkorf mit einer Heftigkeit reagiert, die sich nur aus der intensiven persönlichen Identifikation und Enttäuschung erklären läßt. Für den Zerfall sei vor allem die Spaltung in „Selbstdarsteller“ und „Dogmatiker“ verantwortlich, die durch die Aufmerksamkeit der Medien verstärkt worden sei. Später wird dann – eine geradezu abenteuerliche Verzeichnung – die Studentenbewegung mit ihren „antiautoritären“, „flippigen“ Zügen als Ausdruck einer neuen, durch die Entwicklung des Warenverkehrs geforderten „Wegwerf-Mentalität“ der Mittelschicht gedeutet. Die Verbündeten von damals werden im Rückblick zur Speerspitze des Feindes. Die Urteile lassen sich auf eine Formel bringen: Nicht die Verhältnisse sind schuld, sondern die Akteure. Rühmkorf spricht nicht von der Ohnmacht der Solidarität angesichts der Stabilität und Kritikimmunität der Verhältnisse, nicht davon, daß auch die Verabschiedung der Notstandsgesetze ein schwerer Schlag für die Veränderungshoffnungen war.
Rühmkorfs Enttäuschung wurde verstärkt durch den Reinfall, den er mit seinen drei entschieden einer politischen Aufklärungsdramaturgie verpflichteten Theaterstücken sowie mit der Unterstützung von Röhls konkret-Nachfolger dasda erlebte.
Nach diesen Erfahrungen gab es in den siebziger Jahren einen deutlichen, wenn auch nicht vollständigen Rückzug von der politisch-publizistischen Arbeit. Mit der Friedensbewegung der achtziger Jahre scheint dann wieder ein entschiedeneres Engagement einzusetzen, etwa im Rahmen von PAND international (Performers and Artists for Nuclear Disarmament), als deren Vertreter Rühmkorf 1985 unter dem Titel „Bleib erschütterbar und widersteh“ eine Rede über Fragen der Abrüstung gehalten hat.

2. Politische Lyrik?
„Politische“ Gedichte im engeren Sinne – Tendenzlyrik, operative Lyrik, auf den politischen Tageskampf bezogene Gedichte – scheinen, liest man die programmatischen poetologischen Essays und vergleicht sie mit der überwältigenden Mehrzahl der Gedichte, außerhalb der Möglichkeiten und des Interesses von Rühmkorf zu liegen. Die Festlegung auf das hochartifizielle, politikferne Gedicht ließe sich erklären vor allem aus der literarischen Sozialisation, schlechten Erfahrungen beim Publikum mit der anfänglichen „Tendenzpoesie“ und natürlich der Tatsache, daß es lange Jahre keine Massenbewegung gab, auf die hin eine Poetologie des politischen Gedichts hätte entworfen werden können. Angesichts des publizistischen Engagements bleibt es aber erstaunlich, daß Rühmkorf seine Lyrik auch zur Zeit der Protestbewegung aus der Politik heraushält, während Autoren wie Süverkrüp, Degenhardt, Hüsch oder Biermann Lyrik, Musik und Politik auf der Basis einer dezidierten politischen Parteinahme verbinden. Selbst mit den Titeln „Zeitgedicht“ oder „öffentliches Gedicht“ möchte man im Falle Rühmkorfs zögern, weil in seiner Lyrik die Artistik und die Reflexion der literarischen Tradition wie der eigenen Subjektivität so dominant sind. Zwar hat Rühmkorf 1967 Frieds politische Lyrik ein bahnbrechendes Beispiel „für einen modernen nachbrechtischen Typus des Aufklärungsgedichts“ genannt. Für seine eigene Lyrik blieb das aber folgenlos. Rühmkorf hat in diesen Jahren kaum Gedichte geschrieben und die politische Aufklärung lieber mit dem Theater verbunden.
Lyrik und politisches Engagement decken sich also nicht, und bis heute konstatiert Rühmkorf eine „gewisse Unvereinbarkeit von Dichtung und Wahrheit, von poetischer Verklärungslust und schriftstellerischem Aufklärungsdrang“. „Schizografie“ nennt er dieses für einen politischen Schriftsteller überraschende Paradoxon der Unvereinbarkeit zweier Schreibantriebe, des poetischen und des politischen: eine Spaltung in den Aufklärer, Dr. Jekyll, dem neben den politischen Artikeln die (Märchen-)Prosa und das Theater zugeordnet werden, und den Artisten, Mr. Hyde, dessen Domäne die Lyrik ist und der als anarchisch-vitalistischer Hedonist und Anhänger magischer Beschwörungen sich auf seinem Gebiet gegen Dr. Jekyll immer wieder durchsetzt. Beide liegen miteinander im Kampf, deutlich vor allem dann, wenn es zum Schulterschluß zwischen ihnen kommen soll, etwa in der Reaktion auf Christi an Enzensbergers „Literatur und Interesse“ oder in dem Adorno gewidmeten Essay „Einige Aussichten für Lyrik“. Rühmkorf übt hier Kritik an Adornos Vorstellungen von der Autonomie der Kunst, die ihre Authentizität und ihren kritischen Gehalt gerade darin habe, daß sie sich in hermetischer Abgeschlossenheit dem Markt und der Gesellschaft verweigere und sich jedes Scheins von Versöhnung enthalte. Der Lyriker setzt dagegen: „Wo sie (die Poesie) sich ihre Position als schönes Abseits aufschwätzen, wo sie sich blind für autonom verkaufen läßt, da leistet sie bereits Hand- und Spanndienste. Wo sie der Zeit grundsätzlich das Interesse aufkündigt und der Gesellschaft Anteil an der eigenen Diktion bestreitet, da schweigt sie der Gesellschaft nach dem Munde.“
Adorno hat es sich nicht entgehen lassen, in seiner Antwort Rühmkorfs Lyrik als Beispiel für die inkriminierte Autonomie-Ästhetik zu nennen. Nicht zu Unrecht: Rühmkorfs Poetologie ist durchaus zweideutig. „Schizografie“ meint nicht nur eine grundsätzliche Spaltung, sondern zugleich den Versuch, auch in der Kunst einen kritischen Bezug zu Zeit und Gesellschaft zu wahren. Sie zielt aber auch, ebenfalls im Gegenzug zu Adornos „Verweigerungs-Ästhetik“, auf den „Schein von Versöhnung“. Sogar der Adorno ins Stammbuch geschriebene Essay ist daher ambivalent: Am Ende steht die Einsicht, daß „nicht das Zeitgedicht das letzte Wort behält“. Generell gilt: So sehr die Lyrik einerseits auf „Wahrheit“ verpflichtet wird, was allemal das Anzeigen von Widersprüchen bedeutet – letztendlich dominieren Synthese, Balance, Harmonie, Schönheit.
Die Thematisierung der eigenen Subjektivität ist eine weitere zentrale Konstante im lyrischen Werk. Das Gedicht wird zum Ort adäquaten Selbstausdrucks, zu einem notwendigen Gegenbereich zum politischen Engagement. Hier findet seinen Platz, was im politisch-publizistischen Engagement nicht aufgeht, und in Zeiten politischer oder privater Enttäuschungen und Krisen (z.B. 1958 und 1969) zieht Rühmkorf sich verstärkt auf das Schreiben von Gedichten zurück. Die Spannungen zwischen Lyrik und Politik werden dadurch natürlich verstärkt.
Die Thematisierung der eigenen Subjektivität fällt ganz unterschiedlich aus. In den ersten Gedichtbänden stilisiert sich das lyrische Ich häufig zum Narren, Eulenspiegel, „Flügellumpen, Zundelfrieder“ und Grillenfänger, zum  V a g a n t e n, der grundsätzlich unberechenbar ist. Ohne diesen Zug ist Rühmkorfs lyrisches Sprechen nicht zu denken. Mit dem Etikett „kritischer Anarchismus“ sollte man aber vorsichtig sein: Der Aufklärer wird immer wieder zum rücksichtslosen Egomanen, lustvoll abhängig von den eigenen Begierden oder besessen von einer grenzenlosen Freude an der Verspottung, Ironie und der eigenen Nicht-Greifbarkeit. Nicht die Unberechenbarkeit, wohl aber die exzessive rollenlyrische Stilisierung wird in den neueren Gedichten zurückgenommen zugunsten einer unverstellteren Selbstthematisierung. Das Gedicht wird damit deutlicher als früher zu einem Raum, in dem Beschädigungen, Melancholien und Hoffnungen reflektiert werden, privateste Bedenken, aber auch, mitunter gegen den Druck politischer (Selbst-)Disziplinierungsversuche, die Verzweiflung über die eigene Ohnmacht und über die „Genossen“ sowie „die heillose Entfremdung von einerseits politischen Passionen und andrerseits fast asozialen Privatantrieben“. An die Politik rückgekoppelt werden sollen solche lyrische Selbstreflexionen dadurch, daß das Ich sich als „Sozialprodukt“ zu erkennen gibt.
Gleichzeitig wird der lyrischen Selbstthematisierung eine fast schon therapeutische Kraft zugeschrieben. Rühmkorfs Poetik ist nicht verständlich ohne seine Idee der Wiedergewinnung einer zweiten Unschuld durch die (und in der) Kunst, ohne seine Kleistsche Hoffnung, „daß da ein Weg führe über das Bewußtsein zu einer transmechanischen Grazie und einer zweiten Einfalt“. Dieses schon sehr früh vorhandene Theorem wird in den poetologischen Arbeiten der siebziger und achtziger Jahre breiter entfaltet; das Gedicht wird zur „Utopie, wo  s e i n  k a n n  was eigentlich  n i c h t  s e i n  darf, weil das gesellschaftlich zerteilte Unteilbare sich einige befreiende Atemzüge lang gesammelt zu erleben vermag“. De facto bedeutet das eine Abwertung der jeweiligen Inhalte und politischer Wirkungsästhetik. Das Kunstwerk soll dem Leser zunächst und vor allem die eigene Widersprüchlichkeit bewußt und sinnlich erlebbar machen. In der umstrittenen Rede an die „Damen und Herren Studierende der Literaturwissenschaft“ steigert sich der „Horror vor politischer Programmusik“ zur grundsätzlichen Unterscheidung von Lyrik und Politik als zweier konkurrierender Medien: „eines, das den Menschen massenhaft und zum Mengenrabatt bedient, und eines, das das Einzelwesen in seinen einmaligen und widersprüchlichen Zusammenhängen bestätigt“. Solche „Bestätigung“ hat unterschiedliche Nuancen, von der Behauptung der eigenen Individualität und auch Verschrobenheit gegen die Normierung bis hin zur Aufhebung der eigenen Widersprüche im ästhetischen Schein, ermöglicht durch eine spannungsreiche Dialektik zwischen Form und Inhalt.
Hinsichtlich ihrer Form lassen sich die Gedichte fast ausnahmslos in zwei große Gruppen teilen: Die eine ist durch virtuose Reimformen gekennzeichnet, die Rühmkorf beherrscht wie kein zweiter Gegenwartslyriker. In diesen Gedichten überwiegt die Darstellung einer harmonischen Subjektivität, auch wenn die Reime fast immer Spannungsverhältnisse anzeigen. Die andere Gruppe wird gebildet von reimloser Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen. Hier wird der Darstellung von Disharmonien mehr Raum gegeben. Zwar gibt es auch hier den charakteristischen „Münchhausen-Effekt“ – das lyrische Ich reißt „Witze und sich selbst daran wie am eigenen Schopf aus dem Morast heraus“ – , aber der Morast wird kenntlicher, vor allem durch die Arbeit mit gestisch stark aufgeladenen Partikeln, Satzfetzen, Zitaten und dem schnellen Wechsel unterschiedlichster Sprechhaltungen.
Die (zunehmende) Verpflichtung auf das Balance- oder Harmoniemodell ist, zumal wenn sie, wie in den neueren Arbeiten, zunehmend in klassisch-organologischer Metaphorik und unter Berufung auf Goethe entwickelt wird, gerade in der Perspektive „Lyrik und Politik“ nicht unproblematisch. Entwertet der „Münchhausen-Effekt“ nicht das kritische Potential der Gedichte? Kann das Bekenntnis zur eigenen Widersprüchlichkeit, immer wieder und mit Emphase vorgetragen, nicht auch Züge einer vorschnellen und deshalb „falschen“ Versöhnung enthalten? Feiert hier nicht das ungeteilte, sinnstiftende Subjekt· hinterrücks fröhliche Urständ’, auch und gerade wenn es von sich behauptet, nur noch Dividuum, nicht mehr In-dividuum sein zu können?

II Mr. Hyde zwischen Politik und Hochseil
Rühmkorfs oft brillant formulierten und sehr ausführlichen poetologischen Reflexionen dürfen nicht unbesehen auf seine Lyrik übertragen werden. Deshalb sei zunächst auf einige überraschende Aspekte und Texte hingewiesen, die sich der Poetologie nicht so einfach fügen.
Eine deutliche politische Sprache spricht eine Strophe im frühen „Wiegen- oder Aufklärelied“:

Wie es steigt und kopflos kippt,
Nike blind am Raume nippt −
bald fegt uns das Lämpchen aus
Bundeskriegsminister Strauß.

Die dezidiert politischen Verse benennen den Grund für die parodistische Zersetzung des alten „Wiegenliedes“ („Schlaf, Kindchen, schlaf“) und machen es zu einem „Aufklärelied“ in genau jenem Sinne, den Rühmkorf in seiner Poetologie immer weit von sich weist. Er selbst hat zudem dieses Gedicht als Waffe im politischen Tageskampf eingesetzt, als sich Strauß 1980 als Kanzlerkandidat ins Gespräch brachte. Völlig isoliert stehen diese operativen Verse nicht da. Der jüngste Gedichtband enthält unter den sprechenden Titeln „Allein ist nicht genug“ und „Bleib erschütterbar und widersteh“ zwei Adressen an die Oppositionsbewegung gegen Radikalenerlaß, Atomkraftwerke und Umweltzerstörung, Aufrufe, in die Rühmkorf Erfahrungen mit der studentischen Protestbewegung einfließen läßt. Auf ausdrücklichere politische Konkretisierungen können die Texte zugunsten formelhafter Wendungen verzichten: Anders als das „Wiegen- und Aufklärelied“ stehen die neueren Gedichte ihrem Selbstverständnis nach innerhalb einer Oppositionsbewegung.
Von Anfang an finden sich außerdem Gedichte, die soziale und politische Konkretisierungen in einem Maße enthalten, das die Theorie nicht vorsieht, etwa die „Variation auf ,Gesang des Deutschen‘ von Friedrich Hölderlin“, die einsetzt:

Wie der Phönix aus den Scherben, oh Vaterland,
Edelstahl platzt in den Nähten, Fette erholt,
Farben bei lebhaftem Angebot Aufgalopp, Kursgewinn,
Hanomag, hundertprozentige Rheinstahltochter …

In diesen zeitkritischen Gedichten, ähnlich prägnant sind noch „Anode“ und „Hymne“, erscheint ein saturiertes Nachkriegsdeutschland, das sich seiner jüngsten Vergangenheit entledigt und schon wieder aufgerüstet hat. Ihm gegenüber behauptet das als Dichter und Sänger auftretende lyrische Ich mühsam eine kippelige Stellung zwischen Vereinnahmung und Verstummen.
Die Schärfe und Präzision dieser Gedichte, die denen des frühen Enzensberger in nichts nachstehen, finden ihre politische Zuspitzung in der lyrischen Abrechnung mit Herbert Wehner in „A la mode. Für Herbert Wehner“. Der zentrale Vorwurf trifft den „Vater“ des Godesberger Programms, Wehners entscheidende Rolle bei der Veränderung der SPD von der Arbeiterpartei zur „Volkspartei“. Das nicht zuletzt unter dem Eindruck der Wahlniederlagen von 1953 und 1957 erfolgte Bekenntnis zur freien Marktwirtschaft wird als Selbstaufgabe der Partei gewertet: „Promethiden, / ans Eigenheim gefesselt“, und Wehner wird der Vorwurf gemacht, nicht mehr erkennbar zu sein im Licht des Strahlenkanzlers: Adenauers Engagement für die atomare Bewaffnung der Bundeswehr und die Westintegration finde einen willkommenen Verbündeten in Wehner, der 1960 die grundsätzliche Zustimmung der SPD zur NATO- und Europapolitik der Regierung durchsetzte.
In „A la mode“ hat Rühmkorf seine Fähigkeiten zur bissigen Ironie, zur treffsicheren Metapher und zum virtuosen Spiel mit unterschiedlichen Sprechweisen zu einem politischen Gedicht verdichtet. – Eine überzeugende Ausnahme, die zeigt, daß hier, außerhalb der Harmonieästhetik, des „schönen Scheins“ und der Dominanz der eigenen Subjektivität, ein von Rühmkorf ungenutztes Potential liegt. Für seine Lyrik repräsentativ sind nicht solche offen zeitkritisch-politischen Gedichte, sondern eher jene, deren politischer Gehalt vermittelter ist, sich aber immer noch deutlich unterscheidet von der Gesellschaftsferne der Ästhetik Adornos. Dafür sei im folgenden ein Beispiel exemplarisch untersucht.

VOR EINEM ENGLISCHEN GARTEN

United Kingdom, the lovely Midlands,
auch so was Halbgewaltiges wiedermal,
keine Brandung, kein Meer, das Auge immer quergeteilt:
Die Welt als Rasen gedacht lind gegen den Himmel abgesetzt
o b e n  g r a u
u n t e n  g r ü n
also nichts zum Zerschellen, aber gradewegs zum Verrücktwerden –
So faßdichschon Fremder,
deinen kontinentalen Müllsack kannst du überall sonst auskippen.

Sich auf den Boden niederwerfen zum Beispiel
und mit den Fäusten auf die Erde eintrommeln
H i e r  b i n  i c h ! ! !
vollkommen fehl am Platze.
Da kannst du auch gleich deinen Stock ins
Billardtuch rammen und rufen
,Lang lebe Deutschland‘
(oder was sich in Fällen so anbietet)
Wenn der Irrenarzt aus dem Urlaub zurück ist,
wird man dich sanft auf ihn aufmerksam machen.

Nein, hier ist alles schon auf eine unnachahmliche Art am Einnicken.
D e r  L i b e r a l i s m u s ,
auch als Kassenpatient noch in aller Form aufrechterhalten
und, wie sein grünerer Bruder, der Garten,
ein bleibender Pflegefall:
mit Einzelheiten unaufhörlich in Behandlung

aaaaaPaar Trauerulmen hier

aaaaaaaaaadort Kirsche-Birke
aaaaaaaaaaaaaaa(Weiden vom Rand aus reinhängend)

DIE KÖNIGLICHE EICHE

aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaplombiert
Goldregen abtropfend
aaaaaLatschen bloßso
aaaaaaaFlieder in Buchsbaum eingeflochten
aaaaaunauseinanderreißbar nicht aus dem Zusammenhang zu lösen
aaaaaaaaaaund als Zitat in die gute Stube zu stellen
Aber täusch dich da nicht,
das ist von langer und nervöser Hand so vorbereitet
u n d  m i t  S y s t e m  s o !
Das sollst du ewig und für allezeit auf dich einwirken lassen.

Und auch du bist ehrlich schon impotent.
Alles kommt ohne großen Aufwand einfach gar nicht in Frage,
a u c h  d u  n i c h t
und deine überdimensionalen Blockpackungen nicht −
Was erstmal klargelegt sein muß, ist die Basis:
40 tausend acres Grasland zwischen Küste und Küste und Küste,
gegen den Himmel abgesetzt
und die wilderen Dramen Shakespeares
mit ihren Leidenschaftsleichen
und dem ganzen ausweglosen Blut:
Rasen, kurz, ewig, straff, am Boden gehalten, grün,
von Kreidestreifen unterbrochen, deren Gesetz
du nicht erkennst und das du plötzlich überschreitest/überrollst
g e i s t e s a b w e s e n d
wie eine saubergesoffene Branntweinflasche …

Strukturprinzip dieses Gedichts ist die Identifizierung der Landschaft, des Englischen Gartens, mit einer Herrschaftsform, dem Liberalismus. Der Englische Garten ist durch den Schein von „Natur“ gekennzeichnet, der durch das sorgfältige Arrangement der Pflanzen künstlich erzeugt werden soll. Im Druckbild des Gedichts wird die scheinbare Zufälligkeit der Ordnung nachgebildet und sogar beiläufig ausdrücklich benannt („Latschen bloßso“). Gleichzeitigwird das sorgfältig plazierte Zentrum und damit die eigentliche „Unnatur“ aufgedeckt: „D I E  K Ö N I G L I C H E  E I C H E“. Sie ist plombiert, also innen faul, hohl und deshalb mit Beton versiegelt, Metapher für die künstliche Aufrechterhaltung einer überlebten Herrschaftsform, der konstitutionellen Monarchie. Die Einsicht, dies sei „m i t  S y s t e m  s o“, bezieht sich auf die mit dem Garten verbundene und in ihm zum Ausdruck kommende politische Ideologie, den „L i b e r a l i s m u s“.
Tatsächlich liegt ja der Ursprung des Englischen Gartens in einer bürgerlichen Abwehr des als Ausdruck höfisch-absolutistischer Herrschaftsformen verstandenen Französischen Gartens. Die Entstehung der ersten Englischen Gärten zu Beginn des 16. Jahrhunderts fällt zusammen mit der Entfaltung des politischen und ökonomischen Liberalismus. Ideologiegeschichtlich verstand sich der Liberalismus, zumal bei seinen Begründern, Locke und Smith, als Freisetzung von Natur. Smith’ Annahme eines angeborenen Egoismus, anthropologische Basis seiner Ökonomie, findet ihre Entsprechung in Lockes These, die freie Verfügung über das private Eigentum bilde jenes unveräußerliche Naturrecht, aus dem alle anderen Rechte erst hervorgehen. Aus diesem Ansatz folgt konsequent der Anspruch, durch die Freisetzung einer kapitalistischen Tauschgesellschaft eine der Entfaltung der menschlichen Natur adäquate Ordnung zu erzeugen. Die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft zeigte jedoch, daß die „naturwüchsige“, selbsttätige Wirtschaftsregulierung des Marktes, von ihrem theoretischen Begründer Smith in die Metapher von der „unsichtbaren Hand“ gefaßt, auf die sich Rühmkorfs „nervöse Hand“ parodistisch beziehen mag, sich keineswegs zum Allgemeinwohl auswirkte. Der freie Verkehr der Privateigentümer schloß die gleiche Autonomie aller Individuen notwendig aus, die bürgerliche Konkurrenzgesellschaft erwies sich zunächst als Emanzipation der „Bürger“, nicht der Menschen. Die Berufung auf die „Natur“ war dabei die zentrale Argumentationsfigur liberalen Denkens: anthropologisch zur Begründung des Rechts auf Eigentum, ökonomisch zur Befreiung der Sphäre des Warenverkehrs von staatlicher Reglementierung und politisch als Ideologie der Identität von Naturrecht, Naturgesetzlichkeit und Gesetzen einer bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. In diesem Rekurs auf „Natur“, dem die Erzeugung eines ideologischen Scheins von „Naturwüchsigkeit“ und „natürlicher Harmonie“ korrespondierte, liegt die zentrale Gemeinsamkeit zwischen dem ideologischen Gehalt des Liberalismus und des Englischen Gartens. Beide entfalten, so ließe sich pointiert festhalten, subtile Gewalt durch die Aufhebung bisheriger, offener Formen von Gewalt und propagieren dies als Freisetzung der „Natur“.
Das Moment der Zerstörung der mit dem Liberalismus einst emphatisch versprochenen Individualität und Autonomie manifestiert sich im Gedicht in der Begegnung zwischen dem lyrischen Ich und der Landschaft, die als komplexe Metapher für die gesellschaftliche Umwelt des Subjekts gelesen werden darf. Die erste Strophe charakterisiert die Midlands als eine unerbittliche Mischung aus Struktur, Klarheit und Künstlichkeit. Diese natürliche und zugleich artifizielle, widerstandslose, ungegenständliche und – abgesehen von der Horizontlinie – auch grenzenlose Landschaft bietet dem Subjekt keinerlei Orientierung, keine Anhaltspunkte. Diese Natur ist kein Lebensraum für Menschen. Ihre Leere ist ein Vakuum, in dem das lyrische Ich seine auf Reibung, Widerpart und Widerstand angewiesene Identität nicht bewahren kann: „nichts zum Zerschellen, aber gradewegs zum Verrücktwerden“. Versuche emphatischer Selbstbehauptung durch Direktheit, Spontaneität und unverstellten Ausdruck der inneren Natur werden durch scheinbare Nonchalance und indignierte Nichtbeachtung ins Leere gelenkt. Diesen Reaktionen liegt genau jene „sanfte Unerbittlichkeit“ zugrunde, die auch die Naturerfahrung kennzeichnet. Diese Motive werden wieder aufgegriffen in der Landschaftsbeschreibung der letzten Strophe. Shakespeares „Leidenschaftsleichen“ variieren das „Verrücktwerden“: In den „wilderen Dramen“, den späten Tragödien, gibt es aus den ständig sich fortzeugenden Gewaltzusammenhängen kein Entrinnen mehr, zumal wenn, wie im „König Lear“, gut und böse, Schuld und Schicksal, wahr und falsch kaum noch zu unterscheiden sind. In dieser literarisch gestalteten Ausweglosigkeit erkennt sich das lyrische Subjekt der Landschaftserfahrung wieder. Dieser Gedanke und die Technik dichotomischer Landschaftsbeschreibung werden ein letztes Mal variiert in der Beschreibung des Rasens eines Cricket-Spielfeldes. Dabei wird der von Anfang an präsente ironische Tenor des Gedichtes zur Selbstparodie, die sich dann in der Schlußmetaphorik förmlich überschlägt und vollends mit Witz und Albernheit die eben noch beschriebene Übermacht der Verhältnisse durchkreuzt. Auch hier also der „Münchhausen-Effekt“, ein salto vitale, aber verbunden mit politisch fundierter Aufklärung über den „englischen Liberalismus“.
In der Kritik an der ideologischen Indienstnahme der Natur liegt die paradigmatische Bedeutung des Gedichtes „Vor einem englischen Garten“ für Rühmkorfs Lyrik. Zwei weitere, ähnlich markante Gedichte können herangezogen werden, die die literarhistorische Dimension erweitern.
Von der Verführung durch die Natur sprechen auch zwei Strophen des Gedichtes „Über heroische Leidenschaften“:

Wolf im Schäferkostüm, heiterer Wolf,
woher uns zugelaufen?
Henker Lenz ist’s, die grüne Peitsche zur Hand!
Köder hängt er ins rohe Geäst, Blütenrouladen,
(der protegiert jeden Bluff)
daß dein verkniffenes Herz alle Vorsicht fallen läßt:
Frischen Fußes strebst du hügelan,
im Unterliegen der Vorderste,
du singst:
Mit herkömmlichem Jubel ist hier nicht mehr bestehen!

Wirklich, es ist, was vorgeht, anbetungswürdig!
Eine Hecke, die über die eigenen Ufer tritt,
still vor sich hin schäumend;
weitaus aber holt der geflügelte Dornzweig,
dem grünen Plunder zum Gruß −
Toll! dies aufeinander bezogen zu sehen
und in wechselseitiger Verjüngung
wie schon geübt −
daß es noch das entmannte Korn im Kommißbrot bewegt,
unverdientes Gefühl großzieht in des Kriegsknechts Busen
(Der Kerl teilt sein Glas Wasser mit eines andern Geranie!)
Ohne dein Zutun, scheint’s, wandelt die Welt sich.

Die Empfänglichkeit für den falschen Schein der Natur wird in Verbindung gebracht mit der soeben erlebten sexuellen Lust des Sprechenden, als deren scheinbar organisch sich entwickelnde Fortsetzung und Entsprechung, die das schon wieder „verkniffene“ Herz des Poeten offenhalten und ihn verführen soll zum Gesang auf eine sinnreich geordnete Natur.
Daß diese anbetungswürdig erscheint, erinnert an den programmatischen Titel des Bandes Irdisches Vergnügen in g. Angespielt wird auf die Sammlung eines populären Hamburger Vorläufers von Rühmkorf, Barthold Hinrich Brockes’ Irdisches Vergnügen in Gott (1721-48), wobei die Ersetzung Gottes durch das physikalische Symbol für die Fallbeschleunigung die polemisch-parodistische Absicht deutlich macht. Brockes’ religiös-philosophische Naturdichtung verfolgte, was schon die Zeitgenossen erkannten und schätzten, ein apologetisches Interesse. Angesichts der zunehmenden Diskrepanz zwischen rationaler Naturerkenntnis und transzendenter Gottesvorstellung bemühte sich Brockes um ästhetisch-physikoteleologische Gottesbeweise. Die naturwissenschaftliche Deutung der materiellen Welt als machina mundi wird nicht abgewehrt, sondern benutzt, um die Natur als sinnvolle Ordnung zu beschreiben und dies dann als Beweis für die Allmacht, Güte und Vorsehung des Schöpfergottes zu werten.
Gegen diese apologetisch-ideologische Funktion des Lobgesangs auf die schöne Natur arbeitet Rühmkorfs Parodie mit allen Mitteln: mit Übertreibung und Herabsetzung, mit kontrastierendem Sprechen, mit der Rückführung des ideologisch Überhöhten aufs Handgreiflich-Sinnliche und mit der expliziten Aufdeckung des Verborgenen, Ausgeblendeten. Pointiert erinnern „Kommißbrot“ und „Kriegsknecht“ an Wiederbewaffnung und Kriegsgefahr, die im Bild der Natur als Paradigma einer Welt der prästabilierten Harmonie nicht erscheinen. Aus der Gemeinschaft derer, die glauben und suggerieren, Deutschland und die Deutschen hätten sich wie die Natur im Wechsel der Jahreszeiten „gewandelt“, schert das lyrische Ich aus („Kämm dir das dümmliche Laub aus dem Blick, es ist / (…) dein Schädel prämiert“) und kehrt den Vaganten heraus, der Distanz hält zu den Aufforderungen zum Einverständnis. Gegen den „Wolf im Schäferkostüm“, die verführerische Natur, setzt es sich selbst: ein „asthenischer Wolf“, der das „Hohelied des Ungehorsams“ verkündet.
Brockes ist nur einer von vielen naturlyrischen Antipoden Rühmkorfs, aber er ist kein zufälliger Bezugspunkt. Brockes steht am Beginn der „bürgerlichen“ Naturlyrik, als deren wesentliches Charakteristikum sich die Transzendierung der materiellen Welt zur „Natur“ bezeichnen ließe. Rühmkorfs Lyrik, in der der Bezug auf die Natur eine zentrale Rolle spielt, opponiert durchgängig gegen deren Überhöhung mit der Hervorhebung materialistischer und sensualistischer Perspektiven. Die massive Abwehr naturlyrischer Verklärung vor allem in den ersten Gedichtbänden hatte einen aktuellen Grund: die Renaissance der Naturlyrik um 1950, die alle anderen Formen lyrischen Sprechens in den Schatten zu stellen schien. Rühmkorf dürfte einer der ersten Lyriker gewesen sein, die sich mit diesem Phänomen kritisch auseinandergesetzt haben. Im „Lied der Naturlyriker“ verspottet er die zeitgenössische Naturpoesie als „Anmut dürftiger Gebilde: / Kraut und Rüben gleich Gedicht“. Der ästhetischen Dürftigkeit jener Lyrik entspreche die inhaltliche Kontamination aus naturmagischer Beschwörung der wirklichkeitstranszendierenden Kraft einzelner Naturgegenstände, religiöser Erbaulichkeit, Versatzstücken „abendländischen Denkens“, Innerlichkeit des Gemüts und der Existenzialontologie Heideggerscher Provenienz. Unfreiwillige Komik ergebe sich aber vor allem aus der grotesken Unangemessenheit solcher Heilskonzeptionen: „Höchstes Heil im Schreberarten:/ Heu und heute, hiii und hier“. Solche Unangemessenheit hat Rühmkorf verstanden als Kapitulation vor der Zeit und der jüngsten Geschichte, als die lyrische Entsprechung zum gesellschaftlichen „Ohnemich“ der Adenauer-Restauration, als Flucht ins Abseits und Rückzug in eine „kleine heile Welt“.
In den skizzierten literarhistorischen Bezügen wird die aufklärerische Leistung der Naturgedichte Rühmkorfs und seiner Berufung auf die materiellsinnliche Seite der Natur deutlich. In „Vor einem englischen Garten“ verdichtet sich Rühmkorfs Kritik der „bürgerlichen“ Naturlyrik zu einer explizit politischen Lesart des ideologischen Scheins der „schönen Natur“. Das Gedicht repräsentiert einen Glücksfall heute noch möglicher Naturlyrik: ihre Realisierung als „Zeitgedicht“.

Herbert Uerlings, in: TEXT + KRITIK – Peter Rühmkorf Heft 97, edition text + kritik, Januar 1988

Das Erlebnis Rühmkorf

Die Nachricht vom Tode Peter Rühmkorfs kommt nicht ganz unerwartet und dennoch ist man auf sie nicht vorbereitet. Ich habe ihn außerordentlich geschätzt, als Dichter, Essayist und Mensch. Ihn in wenigen Worten würdigen kann man nicht. Seine Texte waren und sind mir ein Maßstab. Peter Rühmkorf war ein Virtuose der Form, des poetischen Bildes und des Gedankens, ein kongenialer Traditionsverwerter und Erinnerer, ein selbstironischer Ich-Umkreiser und politischer Sänger, der stets um den vermeintlich letzten Rest Utopie gerungen hat.
Seine Gedichte sind tiefernst und heitermelancholisch, immer ganz dicht am Leben – und seiner Kehrseite; wer glaubt, sie seien eingängig und leicht, sieht sich bei wiederholter Lektüre getäuscht: von den Gedichten, von sich selbst? Diese wunderbare Schwebe, zwischen den Zeilen, zwischen Gedicht und Leser, und dass man das doch wohl bitte schön Autobiographische dieser Gedichte plötzlich so ganz auf sich selbst bezieht und sich sogleich bei dieser Eitelkeit ertappt, das ist das spezifische Rühmkorf-Erlebnis.

Ein immer wiederkehrender Anfang
Auch als Auftrittskünstler, als Vorlesender ist Peter Rühmkorf zur Höchstform aufgelaufen. Unvergessen ist mir da seine Lesung beim Brecht-Festival in Augsburg vor zwei Jahren: Selbst seine Hits wie „Selbstporträt“ aus dem tollen Band Haltbar bis Ende 1999 oder „Mit den Jahren … Selbst III/88“ aus der Sammlung Einmalig wie wir alle las er so, als hätte er sie gerade erst geschrieben und würde sie zum ersten Mal vortragen.
Wie Einmalig wie wir alle, durch Lesen mittlerweile völlig zerlegt, oder seine Liebesgedichte Außer der Liebe nichts ist mir agar agar – zaurzaurim. Zur Naturgeschichte des Reims und der menschlichen Anklangsnerven ein unentbehrliches Brevier geworden. Peter Rühmkorf schafft es hier, Jahrhunderte umfassend, poetologische Verhältnisse auf engem Raum anschaulich und sinnlich zusammenzudenken wie niemand zuvor. Dieses Buch sollte Schullektüre sein, überhaupt Pflichtlektüre.

Jetzt mitten im Klaren
Kalauer hat Peter Rühmkorf nicht gefürchtet; seine Kalauer haben nämlich den bestehenden Kalauern sofort den Rang abgelaufen. Außerdem ist der Kalauer ein probates poetisches Mittel, da muss man nicht erst Roman Jakobson lesen. Und unter den starken Mitteln, über die Rühmkorf verfügte, ist er nur ein Hilfsmittel, sozusagen ein kleiner poetologischer Angestellter. Robert Gernhardt hat einen seiner Kalauer zum Titel seiner Auswahl der Gedichte des hochgeschätzten Kollegen gemacht: Lethe mit Schuß. Er findet sich in dem vorweggenommenen Abschiedsgedicht „Jetzt mitten im Klaren“, das Peter Rühmkorf sich in der gleichnamigen Sammlung selbst geschrieben hat.
Die letzten drei Strophen dieses Autoepitaphs lauten:

Muß ich etwa allein übern Fluß?
Was mauscheln die stygischen Schilfe?
Herr Charon, zwei Lethe!
eine kleine Übersetzhilfe,
aber Lethe mit Schuß!

Und nicht zu knapp bemessen:
Welt, wie du im Rückblick dich wölbst.
Doch mein Stundenglas,
meine Einweguhr,
meine Smith & Wesson entsichre ich selbst.

Oder was oder wann oder wie?
Nein, lieber jetzt mitten im Klaren.
Und ihr spielt mir nochmal – diese alteda! −
Mistmelodie
von den Leuten, die strudelwärts fahren.

Michael Lentz, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.6.2008

 

 

Hans Edwin Friedrich: Phönix voran!.  Ringvorlesung an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Bernd Erhard Fischer: Peter Rühmkorf in Altona

Peter Rühmkorf-Tagung vom 23. bis zum 26.10.2009: Im Vollbesitz meiner Zweifel – Peter Rühmkorf

 

 

Gespräch I – Walter Höllerer spricht mit Peter Rühmkorf über seine Schulzeit

 

Gespräch II – Das Gespräch dreht sich um Rühmkorfs Studienzeit

 

Gespräch III und Lesung I – Peter Rühmkorf spricht über seine Zeit bei der Zeitschrift Konkret und liest Lyrik

 

Gespräch IV und Lesung II – Walter Höllerer spricht mit Rühmkorf über Politik und Rühmkorf liest Lyrik

 

Gespräch V und Lesung III – Ein Gespräch über Peter Rühmkorf als Poet und Poetologe. Noch einmal liest Rühmkorf Lyrik

 

Lesung und Gespräch VI – Peter Rühmkorf liest Gedichte aus dem Band Kleine Fleckenkunde, dann beantwortet er Fragen aus dem Publikum

Heinz Ludwig Arnold: Meine Gespräche mit Schriftstellern 

 

Zeitzeugen – Thomas Hocke im Gespräch mit Peter Rühmkorf (1993)

 

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Hajo Steinert: Ein Leben in doll
Deutschlandfunk, 24.10.1999

Zum 75. Geburtstag des Autors:

Hanjo Kesting: In meinen Kopf passen viele Widersprüche
Sinn und Form, Heft 1, Januar/Februar 2005

Volker Weidermann: Der Eckensteher
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.9.2004

Zum 10. Todestag des Autors:

Ulrike Sárkány: Zum zehnten Todestag des Poeten Peter Rühmkorf
ndr.de, 7.6.2018

Zum 90. Geburtstag des Autors:

Stiftung Historische Museen Hamburg: Laß leuchten!
shmh.de, 20.7.2019

Julika Pohle: „Wer Lyriks schreibt, ist verrückt“
Die Welt, 21.8.2019

Vera Fengler: Peter Rühmkorf: Der Dichter, die die Welt verändern wollte
Hamburger Abendblatt, 21.8.2019

Volker Stahl: Lästerlustiger Wortakrobat
neues deutschland, 22.8.2019

Hubert Spiegel: Der Wortschnuppenfänger
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.8.2019

Anina Pommerenke: „Laß leuchten!“: Rühmkorf Ausstellung in Altona
NDR, 20.8.2019

Maren Schönfeld: Herausragende Ausstellung über den Lyriker Peter Rühmkorf
Die Auswärtige Presse e.V., 21.8.2019

Thomas Schaefer: Nicht bloß im seligen Erinnern
Badische Zeitung, 26.8.2019

Willi Winkler: Der Dichter als Messie
Süddeutsche Zeitung, 28.8.2019

Paul Jandl: Hanf ist dem Dichter ein nützliches Utensil. Peter Rühmkorf rauchte seine Muse herbei
Neue Zürcher Zeitung, 11.9.2019

 

„Laß leuchten!“ Susanne Fischer über die Rühmkorf-Ausstellung im Schiller-Nationalmuseum.

 

„Laß leuchten!“ Friedrich Forssman über die Rühmkorf-Ausstellung im Schiller-Nationalmuseum.

 

„Laß leuchten!“ Jan Philipp Reemtsma über die Rühmkorf-Ausstellung im Schiller-Nationalmuseum.

 

„Laß leuchten!“ Ein Sonntag für Peter Rühmkorf in Marbach. Lesung und Gespräch mit Jan Wagner.

 

„Jazz & Lyrik“ – Ein Fest mit Peter Rühmkorfs Freunden

 

Fakten und Vermutungen zum AutorKLGIMDb +
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Nachrufe auf Peter Rühmkorf: Spiegel ✝ Die Welt ✝ FAZ 1 + 2 ✝
literaturkritik.de 1 + 2 ✝ Die tageszeitung ✝ Die Zeit ✝
Badische Zeitung ✝ Haus der Literatur  Tagung ✝ Stufe ✝

 

Bild von Juliane Duda mit den Texten von Fritz Schönborn aus seiner Deutschen Dichterflora. Hier „Rühmkorfzahn“.

 

Bild von Juliane Duda mit den Zeichnungen von Klaus Ensikat und den Texten von Fritz J. Raddatz aus seinem Bestiarium der deutschen Literatur. Hier „Rühmkorf, der“.

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Peter Rühmkorf

 

Film über Peter RühmkorfBleib erschütterbar und widersteh. 1/2

 

Film über Peter RühmkorfBleib erschütterbar und widersteh. 2/2

1 Antwort : Peter Rühmkorf: Aufwachen und Wiederfinden”

  1. Hans-Michael Bauer sagt:

    Für PR in traurig-froher Erinnerung

    Ohren auf!

    Als ich noch noch nächtens Druckerschwärze soff
    Und Jamben schlürfte
    Metaphern neben PORNOBILDERN blühten
    Auf der Toilette im Studentenwerk
    die Sehnsucht seufzte

    Als Frauen mich noch mit
    Und wir uns in der Laube nahmen
    Am hellen Nachmittag
    Dann Hand in Hand zurück zum Marktplatz
    Der Parolen
    Und später immer wieder sahen
    Dann nicht mehr

    Da sperrten Reime mir die Augen Ohren auf

    Sein Plaudern im Playboy hingepinnt
    Oder in Konkret
    Ein abgedroschen armes Ding von Wort
    In neuer schicker Phrase

    Der rote Frack
    Second hand
    Voll Kampfer, Schnaps und Zigaretten
    Dunst von damals
    Auch Bühnenfarbe,
    Kreideärmel von der Tafel
    In Hörsaal sechs.

    Die Ohren Augen auf
    Und wieder zu

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