Peter Waterhouse: Zu Paul Celans Gedicht „Wolfsbohne“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Paul Celans Gedicht „Wolfsbohne“ erschienen in Paul Celan: Die Gedichte aus dem Nachlaß. –

 

 

 

 

PAUL CELAN

Wolfsbohne

aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa… o
Ihr Blüten von Deutschland, o mein Herz wird
Untrügbarer Kristall, an dem
Das Licht sich prüfet, wenn           Deutschland

Hölderlin, „Vom Abgrund nämlich…“

… wie an den Häusern der Juden (zum
Andenken des ruinirten Jerusalems’s), immer
etwas unvollendet gelassen werden
muß

Jean Paul, „Das Kampaner Thal“

Leg den Riegel vor: Es
sind Rosen im Haus.
Es sind
sieben Rosen im Haus.
Es ist
der Siebenleuchter im Haus.
Unser
Kind
weiß es und schläft.

(Weit, in Michailowka, in
der Ukraine, wo
sie mir Vater und Mutter erschlugen: was
blühte dort, was
blüht dort? Welche
Blume, Mutter,
tat dir dort weh
mit ihrem Namen?
Mutter, dir,
die du Wolfsbohne sagtest, nicht:
Lupine.

Gestern
kam einer von ihnen und
tötete dich
zum andern Mal in
meinem Gedicht.
Mutter.
Mutter, wessen
Hand hab ich gedrückt,
da ich mit deinen
Worten ging nach
Deutschland?

In Aussig, sagtest du immer, in
Aussig an
der EIbe,
auf
der Flucht.
Mutter, es wohnten dort
Mörder.

Mutter, ich habe
Briefe geschrieben.
Mutter, es kam keine Antwort.
Mutter, es kam eine Antwort.
Mutter, ich habe
Briefe geschrieben an –
Mutter, sie schreiben Gedichte.
Mutter, sie schrieben sie nicht,
wär das Gedicht nicht, das
ich geschrieben hab, um
deinetwillen, um
deines
Gottes
willen.
Gelobst, sprachst du, sei
der Ewige und
gepriesen, drei-
mal
Amen.

Mutter, sie schweigen.
Mutter, sie dulden es, daß
die Niedertracht mich verleumdet.
Mutter, keiner
fällt den Mördern ins Wort.
Mutter, sie schreiben Gedichte.
O
Mutter, wieviel
fremdester Acker trägt deine Frucht!
Trägt sie und nährt
die da töten!

Mutter, ich
bin verloren.
Mutter, wir
sind verloren.
Mutter, mein Kind, das
dir ähnlich sieht.)

Leg den Riegel vor: Es
sind Rosen im Haus.
Es sind
sieben Rosen im Haus.
Es ist
der Siebenleuchter im Haus.
Unser
Kind
weiß es und schläft.

 

Un, an, Amen, atmen, Deutschland

Wer mit der deutschen Sprache nicht recht vertraut wäre, wer sie darum wie unwissend, sorglos und unsystematisch betrachtete, wer deutsch Geschriebenes also auf nicht deutsche Weise zu lesen versuchte, könnte in Gedichten von Paul Celan entdecken, dass sie solchen Lesern mit einem andersalsdeutschen Deutsch antworteten und mit übersetzerischen Elementen und mit Worten, die nicht gleich Worte sind. Ein solcher Fremdlingsleser könnte Schwierigkeiten mit der Aussprache haben, aber auch erkennen, dass das Gedicht diese Schwierigkeiten auch hat; dass das Gedicht ein Fremdling ist und nicht weiß, welches Wort das richtige ist. Im Gedicht „Wolfsbohne“ (das zur Veröffentlichung bestimmt war und dann nicht mehr zur Veröffentlichung bestimmt war, also auch in dieser Hinsicht seine Unsicherheit hat und angesehen werden könnte als Gedicht im unsystematischen Zustand), im Gedicht „Wolfsbohne“ steht die Übersetzung dieser Blume angegeben: Lupine. Beide Namen sprechen den wölfischen Charakter der Pflanze an, vielleicht den wolfgrauen Pelz der Schoten, der im einen Fall Wolf ist und im anderen lupus. Ist einer der beiden richtig? Sind beide Namen richtig? Sind beide Namen falsch? Wann ist ein Wort richtig, wann ist es falsch? Gibt es richtige Worte? Gibt es falsche Worte?

Welche
Blume, Mutter,
tat dir dort weh
mit ihrem Namen?
Mutter, dir,
die du Wolfsbohne sagtest, nicht:
Lupine.

Der Schmerz, nach dem hier gefragt wird, ist ein anderer als der von einem Dorn verursachte. Nicht die Blume selber tat weh, sondern der Name der Blume. Dieser Schmerz wird von Sprache verursacht. Blumen und Blüten des Gedichts „Wolfsbohne“ sind alle vielleicht Namen und Worte und Sprache. Sprache in diesem Gedicht wird aber nicht angesprochen, um sie zu ,problematisieren‘ oder thematisieren, sondern um eine Sprache zu finden und zu sprechen. Eine unwölfische vielleicht. Wie könnte sie aussehen?
Erster Hinweis: Sie könnte unvollendet aussehen. ,Unvollendet‘ ist das hervorgehobene Wort im zweiten Motto, welches dem Gedicht vorangestellt ist –

… wie an den Häusern der Juden (zum
Andenken des ruinirten Jerusalem’s), immer
etwas unvollendet gelassen werden
muß…

Jean Paul, „Das Kampaner Thal“

Dieses Motto selber ist unvollendet, es endet mit drei Punkten, endet dort also nicht, ist unvollendet. Vor diesem steht das erste Motto, es ist einem Gedicht Friedrich Hölderlins entnommen, das in der Ausgabe Friedrich Hölderlin. Sämtliche Werke und Briefe in Band 1 nicht unter Gedichte rubriziert wird, sondern unter „Entwürfe, größere Fragmente und Skizzen“. Vom Ende des Fragments, das vielleicht kein Ende hat und unvollendet ist, kommt das Motto und enthält einen Satz, der nicht zu Ende geführt ist, indem der mit „wenn“ anfangende Gedanke und Nebensatz fragmentiert abbricht –

aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa… o
Ihr Blüten von Deutschland, o mein Herz wird
Untrügbarer Kristall, an dem
Das Licht sich prüft, wenn          Deutschland

Hölderlin, „Vom Abgrund nämlich…“

Im Kommentar der Ausgabe Sämtliche Werke und Briefe wird der Text des Gedichts als Entwurf klassifiziert.
Entworfen, auch fragmentarisch, jedenfalls auch im wörtlichen Sinn entworfen, geworfen zu, gerichtet an ist folgende Stelle im Gedicht „Wolfsbohne“ –

Mutter, ich habe
Briefe geschrieben.
Mutter, es kam keine Antwort.
Mutter, es kam eine Antwort.
Mutter, ich habe
Briefe geschrieben an –
Mutter, sie schreiben Gedichte.

Die Wendung „geschrieben an“ endet so, ist wie unvollendet, wie eines jener Häuser, an denen immer etwas unvollendet gelassen werden muss.
„An“. Zweiter Hinweis auf die gesuchte Sprache: Sie könnte etwas zu tun haben mit diesem Wort „an“ – und mit getauschten Positionen. Eine An-Sprache. Zugleich eine Unsprache, ein Un- und Andeutsch. Wer das Gedicht liest wie auf der Spur nach anderen, an-deren Spuren, könnte bemerken, dass die Präposition „an“ in einem eigenen Sinnsystem und akustischen Kontext steht. Umgeben ist dieses „an“ nämlich, mehr oder weniger nah, von folgenden Worten –

Mutter, es kam keine Antwort.
Mutter, es kam eine Antwort.

Etwas weiter oben –

In Aussig, sagtest du immer, in
Aussig an
der EIbe,
auf
der Flucht.

Etwas weiter oben –

Mutter, wessen
Hand hab ich gedrückt

Etwas weiter oben –

Gestern
kam einer von ihnen und
tötete dich
zum andern Mal in
meinem Gedicht.

Antwort; Antwort; an; Hand; andern Mal; etwas später im Gedicht erscheint die Formel aus einem jüdischen Gebet: „drei- / mal / Amen.“ Und mit dieser in Verbindung stehen könnte ein Wort aus einer früheren Fassung des Gedichts, Atem: „Auf der Atemspur lebst du, auf / Atemsuche, im / Gedicht.“ Wer aber so unsystematisch liest, und dabei nichtdeutsch liest, wird bemerken, dass in dieser früheren Fassung der „Wolfsbohne“, im zweiten Motto, jenem von Jean Paul, ein paar Winzigkeiten anders sind als im selben Motto der späteren Fassung des Gedichts –

… wie an den Häusern der Juden (zum Andenken
des ruinierten Jerusalems), immer etwas un-
vollendet gelassen werden muß…
Jean Paul, „Das Kampaner Tal“

In der späteren Fassung wird das Präfix „un“ nicht mehr so deutlich angezeigt wie in der früheren. In jener früheren Fassung aber hat es einen besonderen Rang, einen Rang, der dem suchenden „an“ zu vergleichen wäre. Un wie an. Ist das ein Befund? Das „an“ könnte wie ein verschobenes, übersetztes „un“ klingen. Ist das ein Befund? Hier finden Vertauschungen statt. Ist das ein Befund? Durch die Isolierung des Partikels „un“ wird sein semantischer Wert nicht erhöht, sondern im Gegenteil verunsichert; es wird eher etwas Anderes herausgeholt aus der Bedeutung, fast eine andere Sprache. Die Bedeutung wird vielleicht ausgesetzt. Ebenso bei den „Briefen an“. Die leere Stelle ist wie ein, wörtlich, An-deres. Viele Partikel dieser Art stehen freigesetzt im Gedicht: und, in, nach, an, auf, o, das, um, mal und so fort. Fast stehen sie aus dem Deutschen herausgesetzt; übersetzt.

der Un-
verstandne, nur er
versteht die andern.

(aus: „Ricercar“)

Das Gedicht „Wolfsbohne“ ist im sogenannten ,Zeitraum Die Niemandsrose‘ entstanden, so wird es klassifiziert in der Ausgabe „Die Gedichte aus dem Nachlaß“ (noch zu einem späteren Zeitpunkt ist es überarbeitet worden). Sucht man im gleichen Zeitraum unter den nachgelassenen Gedichten ein Beispiel für Vertauschung, Versetzung, Aussetzung, fällt unter vielen das folgende auf –

Für Jakob Kaspar Demus, zum 9. Juni 1960

Lieber Jakob, lieber Kaspar!
Bare Fässer sind nicht faßbar,
Fahre-Bässe fahren sölten,
doch Sankt Pölten bleibt Sankt Pölten.
Frag den Vater, frag die Mutter,
beide wissens von der Butter.
Daher hab ichs und vom Erich,
darum dicht ich jetzt gehörich.
Denn du hast ja heut Geburtstag,
also denk nicht, daß ich ,schnurz‘ sag!
Vielmehr sag ich: Alles Gute
unterm Hute, überm Hute!

Unkel Paol

So privat das Gedicht sein mag, so privat manche seiner Anspielungen sein mögen, so allgemein ist es in seinen Verschiebungen und Missverständnissen – auch in seinen Hinweisen auf die andere Sprache. Der Name des Geburtstagskindes wird so verschoben, auf dem Blatt Papier versetzt platziert, dass zwei neue Personen entspringen, geboren werden (Geburtstag). Durch Deplatzierung gerät „faßbar“ in Verbindung mit „baren Fässern“, diese kommen durch weitere Deplatzierung mit Fahren in Verbindung und das Fahren dann mit der niederösterreichischen Landstadt Sankt Pölten. „Gehöriches Dichten“ nennt der Autor sein Tun, gehörig hier nicht nur im Sinne von kräftig, sondern im wörtlichen Sinn von hören. Die Missverständnisse sind, hört man sie, keine Missverständnisse. Am Ende des Gedichts dann eine Verschiebung, die auf den Status der Sprache verweisen könnte – nämlich dass es sich bei dieser Sprache weniger um Deutsch oder andere Nationen handelt, als vielmehr um eine gehörige Sprache. Als Signatur steht unter dem Gedicht: Unkel Paol. Beide Teile der Unterschrift sind fast wie übersetzt, der erste beinahe ins Englische, der zweite beinahe ins Italienische. Wie wäre der erste Teil der Unterschrift auszusprechen: Unkel, oder englisch uncle (Ankel)? Ist es das „un“ von „unvollendet“, ist es das „an“ von „geschrieben an“?
Auch in „Wolfsbohne“ gibt es Spuren einer anderen Landessprache, jener, die Paul Celans Wohnung umgeben hat, des Französischen. Das erste Motto, aus Friedrich Hölderlins „Vom Abgrund nämlich…“, ist vom Ende eines längeren Gedichts genommen, welches im Zusammenhang der „Wolfsbohne“ in seiner Gesamtheit nur als drei Auslassungspunkte angezeigt wird. Celans Gedicht fängt eigentlich mit Punkten an, mit stummen sprachlichen Zeichen. Geht man zurück zu Hölderlins Gedicht, so findet man darin eine akustische Vertauschung oder Gleichsetzung verschiedener geografischer und sprachlicher Orte: „auf den Gassen der Gärten / In denen wohnen Menschen / In Frankreich / Der Schöpfer (…) Frankfurt aber (…) ist der Nabel dieser Erde“ (und „Allda bin ich / Alles miteinander.“). Ein weiterer Hinweis, kaum sichtbar, auf die französische Sprache ist im zweiten Motto gegeben, im Namen Jean Paul, dem gewählten Namen von Johann Paul Friedrich Richter. Jean Paul oder Jean Pol ausgesprochen? Und wie spricht man Paul Celan aus, Name, der durch die Umstellung der Silbe „an“ gebildet worden ist aus Paul Antschel. Soll man den Namen der deutschen Sprache zuschreiben und ihn Zelan aussprechen; soll man ihn der französischen Sprache zuschreiben und als Selá aussprechen und betonen; oder Rumänisch Tschelan; oder? Paul oder Pol ausgesprochen?
Eine winzige Änderung auch in der Quellenangabe zum zweiten Motto: „Das Kampaner Tal“ aus dem ersten Motto wird korrigiert zu „Das Kampaner Thal“. Ein stummer Laut ist hier gewürdigt worden, das nicht existente „h“ oder doch existente „h“ ist notiert worden.
Das Gedicht „Wolfsbohne“ ist reich an unentscheidbaren Formen, reich an sich gegenseitig in Frage stellenden Formen, vielleicht eine Sprache, die heraus führt aus der Sprache. „Wolfsbohne“ beginnt mit einem Riegelvorlegen und mit dem Schlaf des Kindes. Dann führt es in eine Klammer, in einen wie nebenher gesagten Bereich. Es enthält beide Worte, Lupine und Wolfsbohne, und entscheidet nicht. Oder entscheidet sich vielleicht für das marginalere der beiden Worte? Das Gedicht sagt:

nicht:
Lupine

und sagt dadurch Lupine.

Wessen
Hand hab ich gedrückt,
da ich mit deinen
Worten ging nach
Deutschland?

Das Gedicht spricht die Antwort nicht. Im Gedicht stehen parallel:

Mutter, es kam keine Antwort.
Mutter, es kam eine Antwort.

Die Antwort aber wird nicht gesprochen. „Mutter, ich habe / Briefe geschrieben an –“. In einem schwierigen Konditionalis wird, was „sie“ schreiben, vermengt mit dem vom Ich Geschriebenen:

Mutter, sie schreiben Gedichte.
Mutter, sie schrieben sie nicht,
wär das Gedicht nicht, das
ich geschrieben hab

Und parallelisiert wird „um deinetwillen“ und „um deines Gottes willen“ – aber die zweite Wendung wird auseinander gehalten in vier Zeilen – wie wenn sie in dieser Form etwas Anderes wäre. „Dreimal“ wird in zwei Zeilen geschrieben, so dass es etwas Anderes wird als das einfache Wort. Das zusammenhängende „dreimal Amen“ wird auf drei Zeilen verteilt, womit es verändert wird, sprachlich entkleidet wird.
In den folgenden Strophen ist die sprachliche Gewalt besonders groß –

Mutter, sie schweigen.
Mutter, sie dulden es, daß
die Niedertracht mich verleumdet.
Mutter, keiner
fällt den Mördern ins Wort.
Mutter, sie schreiben Gedichte.
O
Mutter, wieviel
fremdester Acker trägt deine Frucht!
Trägt sie und nährt
die da töten!

Ist es zu hören, dass die Mutter eine Stumme ist, Mutter vielleicht MUTA ist?

Wolfsbohne

aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa… o
Ihr Blüten von Deutschland, o mein Herz wird
Untrügbarer Kristall, an dem
Das Licht sich prüfet, wenn          Deutschland

Hölderlin, „Vom Abgrund nämlich…“

… wie an den Häusern der Juden (zum
Andenken des ruinirten Jerusalems’s), immer
etwas unvollendet gelassen werden
muß

Jean Paul, „Das Kampaner Thal“

Leg den Riegel vor: Es
sind Rosen im Haus.
Es sind
sieben Rosen im Haus.
Es ist
der Siebenleuchter im Haus.
Unser
Kind
weiß es und schläft.

(Weit, in Michailowka, in
der Ukraine, wo
sie mir Vater und Mutter erschlugen: was
blühte dort, was
blüht dort? Welche
Blume, Mutter,
tat dir dort weh
mit ihrem Namen?
Mutter, dir,
die du Wolfsbohne sagtest, nicht:
Lupine.

Gestern
kam einer von ihnen und
tötete dich
zum andern Mal in
meinem Gedicht.
Mutter.
Mutter, wessen
Hand hab ich gedrückt,
da ich mit deinen
Worten ging nach
Deutschland?

In Aussig, sagtest du immer, in
Aussig an
der EIbe,
auf
der Flucht.
Mutter, es wohnten dort
Mörder.

Mutter, ich habe
Briefe geschrieben.
Mutter, es kam keine Antwort.
Mutter, es kam eine Antwort.
Mutter, ich habe
Briefe geschrieben an –
Mutter, sie schreiben Gedichte.
Mutter, sie schrieben sie nicht,
wär das Gedicht nicht, das
ich geschrieben hab, um
deinetwillen, um
deines
Gottes
willen.
Gelobst, sprachst du, sei
der Ewige und
gepriesen, drei-
mal
Amen.

Mutter, sie schweigen.
Mutter, sie dulden es, daß
die Niedertracht mich verleumdet.
Mutter, keiner
fällt den Mördern ins Wort.
Mutter, sie schreiben Gedichte.
O
Mutter, wieviel
fremdester Acker trägt deine Frucht!
Trägt sie und nährt
die da töten!

Mutter, ich
bin verloren.
Mutter, wir
sind verloren.
Mutter, mein Kind, das
dir ähnlich sieht.)

Leg den Riegel vor: Es
sind Rosen im Haus.
Es sind
sieben Rosen im Haus.
Es ist
der Siebenleuchter im Haus.
Unser
Kind
weiß es und schläft.

„An -“; im Gedicht „Rhesus -“ ist bereits im Titel der sprachliche Fortgang, Vorgang nicht entscheidbar, ob rhesus positiv oder rhesus negativ ist, stattdessen steht der Gedankenstrich da. Im Gedicht „Muta“ beginnt die allererste Zeile mit dem Gedankenstrich – nicht nach einem deutschen Wort, nicht nach einem lateinischen Wort, sondern nach einem französischen –

Seul –: zu dreien gesprochen, stummes
Vibrato des Mitlauts.
Seuls.
. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Am Beginn dieses Gedichts gibt es Laute, an denen Celan offensichtlich besonders interessiert ist, Vibratolaute und stumme Laute. So dass in diesem Gedicht das Französische eine Sprache der verborgenen Elemente ist, die ins Deutsche hinein übersetzt werden, um eine andere Sprache im Deutschen zu bilden.
Seul: Vor dem Doppelpunkt steht ein Gedankenstrich. Zeigt er etwas Fehlendes an? Zeigt er das fehlende „s“ der Pluralbildung an? Und die Pluralbildung mit „s“, wie ist sie hörbar? Vibriert das Plural-S stumm mit dem Wort mit, ist es da und zugleich nicht da? Ist das Plural-S das „stumme Vibrato“ des Mitlauts? Und ist das „s“ stumm wie der nach ihm gesetzte Punkt. Dieser stumme Punkt kommt in der nächsten Zeile zur Sprache, nein, nicht zur Sprache. Er erhält die Länge und Dauer einer Verszeile, vielleicht die Dauer eines Atemzugs. Es stehen 19 Punkte da, vielleicht eine bewusste Entscheidung für diese Zahl, denn in einem Typoskript A sind es 4 Punkte. Warum dann 19? Übersetzt man die Zahl 19 in ihre Position im Alphabet, so erhält man den Buchstaben ,s‘, jenen Buchstaben, der im vorigen Vers am Ende des Worts seuls stumm geblieben ist. Das stumme französische „s“ in ein Punktesystem übersetzt, unhörbar hörbar gemacht. Aber gibt es hier noch Anderes, das miteinander mitlautet? Vielleicht werden hier auch zwei Sprachen zu einem Miteinanderlauten gebracht, das Französische und das Deutsche: „Ein Bogen (…) Und // une corde (eine Saite, eine / Fiber) qui / répondrait.“ Ist hier Übersetzung ein Mitlauten? „Souviens- / t’en“ – erinnere dich daran; aber Celan übersetzt es wörtlich als herauf- und herauskommen: „aus der ich / zu kommen / glaubte“.

MUTA

Seul -: zu dreien gesprochen, stummes
Vibrato des Mitlauts.
Seuls.
. . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Ein Bogen, hinauf
ins Vielleicht einer Sprache gespannt,
aus der ich, souviens-
t’en, – aus der ich
zu kommen
glaubte. Und

une corde (eine Saite, eine
Fiber) qui
répondrait.

Peter Waterhouse, aus TEXT+KRITIK. Paul Celan, Heft 53/54, edition text + kritik, November 2002

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