Reinhard Baumgart: Zu Bertolt Brechts Gedicht „Lied der Mutter über den Heldentod des Feiglings Wessowtschikow“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Bertolt Brechts Gedicht „Lied der Mutter über den Heldentod des Feiglings Wessowtschikow“ aus Bertolt Brecht: Gesammelte Werke in 8 Bänden. Supplementband 2. Gedichte aus dem Nachaß. –

 

 

 

 

BERTOLT BRECHT

Lied der Mutter über den Heldentod des Feiglings Wessowtschikow

Wie also war er?
Wie immer er war
Als er zur Wand ging
Konnte er sterben.
Und er verglich nicht jene mit anderen
Und auch nicht sich mit anderen, sondern
Schickte sich an, bedroht, sich schnell zu verwandeln in
Unbedrohbaren Staub. Und alles
Was noch geschah, vollzog er wie
Abgemachtes, als erfülle er
Einen Vertrag. Und ausgelöscht waren
Ihm im Innern die Wünsche. Jegliche Bewegung
Untersagte er sich streng. Sein Inneres
Schrumpfte ein und verschwand. Wie ein leeres Blatt
Entging er allem
Außer der Beschreibung.

 

Ein leeres Blatt

Das soll ein Lied sein? Bestenfalls die ersten vier Zeilen könnte man sich schlicht gesungen vorstellen, doch nur als Einleitung, Überleitung zu einem Lied. Was aber dann folgt, dunkel, trocken und doch hymnisch, bricht mit aller Lied-Konvention, auch durch seinen kräftig und doch für ein erstes Hinhören kaum deutlich hingemurmelten Inhalt. Da hilft nur ein Rückblick auf die Überschrift, die klarmacht: Ein zum Sterben Verurteilter, ein Untergehender nimmt vor seinem Tod schon seine Auslöschung vorweg. Wer Brechts Leben und Schreiben etwas genauer kennt, wird nun auch eine Datierung wagen: um 1930. In dieser seiner finstersten und entschlossensten Zeit, zwischen „Fatzer-Fragment, Die Maßnahme und Die heilige Johanna der Schlachthöfe, muß er gemeint und sicher auch gehofft haben, eine deutsche Revolution stünde wie das reinigende Weltgericht unmittelbar bevor.
Das soll ein Gedicht sein? Auch das darf nach einem ersten Lesen erstaunt und befremdet gefragt werden. Zum „Lied“ jedenfalls ist der Text tatsächlich erst durch die Zufügung der ersten vier Zeilen und einer Überschrift befördert worden. In dieser hier abgedruckten Gestalt fand er sich in Eislers Nachlaß unter den Kompositionsvorlagen für Die Mutter, und so erschien er zum ersten Mal 1982 in den Gedichten aus dem Nachlaß. Doch in einem Brechtschen Notizheft aus dem Jahr 1931 beginnt der emphatische Wortlaut, in brüchiger Bleistiftschrift hingeworfen, erst jäh mit der fünften Zeile, und genauso, auch mit den zufälligen Zeilenbrüchen auf der zu schmalen Notizbuchseite, als düster leuchtendes Fragment also, wurde der Text schon einmal, 1960 in der noch von Elisabeth Hauptmann verantworteten achtbändigen Gedichtausgabe, abgedruckt. Dann aber verschwand der Torso, als wäre seine durch Brechts Handschrift doch beglaubigte Echtheit anzuzweifeln, über zwanzig Jahre stillschweigend aus allen Editionen. Als wäre er weder Lied noch Gedicht, als wäre nichts von ihm geblieben als eben „ein leeres Blatt“.
Das mag für öde philologische Daten halten, wer will. Für mich jedenfalls gehört die Editionsgeschichte dieser Zeilen, ihr Auftauchen, Verschwinden und Wiederauftauchen in restaurierter Fassung, unabtrennbar zu ihnen selbst. Es ist, als hätten die Herausgeber den Sog des Gedichts oder Kaum-noch-Gedichts, diese Verwandlung eines Menschen und der Sprache in Staub, Leere, Schweigen, nolens volens nachvollzogen. Auch will es mir nicht gelingen, die Überschrift und das Zeilen-Quartett des Anfangs anders zu lesen als wie etwas ängstlich Dazugeflicktes. Mit dieser vorausgeschickten Ansage versucht Brecht, die klare und doch raunende Mystik seines Untergangs-Gedichts patent ins Epische, Szenische und Dialektische hinüberzuretten. Ein „Feigling“, so begreifen wir nun, wird, an die Wand gestellt, unverhofft noch zum Märtyrer, ja zum „Helden“, indem er sich innerlich abtötet vor seinem Tod.
Der ursprüngliche Entwurf aber erzählt und vollstreckt etwas anderes, Unheimlicheres, wenn auch weniger Konkretes und Praktisches. Da wird nicht nur ein zum Sterben Verurteilter aus seiner Individualität herausgesprochen, sondern mit ihm verwandelt sich auch die Sprache, in der das geschieht, ins Anonyme. Auch sie „vollzieht“, „wie Abgmachtes“, „einen Vertrag“. Um nur ja „unbedrohbar“ zu sein, „ausgelöscht“, wunsch-, bewegungs-, leblos, sich entziehend, nichtssagend „wie ein leeres Blatt“. Aber welcher triumphale Umschwung dann in der allerletzten Zeile, so scheinbar dürr, ja bürokratisch er sich auch verkündet: Nicht einmal das Nichts entgeht – „der Beschreibung“.
Fiat ars pereat mundus? In solchen kryptisch nüchternen Bekenntnissen jedenfalls, in dieser unerwarteten Nähe zu Goethes „Stirb und Werde“ oder Hölderlins „Tod des Empedokles“ verrät Brecht mehr von sich in der radikalsten Krise seines Lebens und Schreibens als in den dialektisch-materialistischen Denkübungen, in die er sich damals so krampfhaft hineinträumte und die seine beflissenen Ausleger so lange für den Generalschlüssel zum Werk gehalten haben.

Reinhard Baumgartaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Dreizehnter Band, Insel Verlag, 1990

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