Reinhard Baumgart: Zu Durs Grünbeins Gedicht „Wußten wir?“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Durs Grünbeins Gedicht „Wußten wir?“ aus dem Band Durs Grünbein: Falten und Fallen. –

 

 

 

 

DURS GRÜNBEIN

Wußten wir?

Wußten wir, was den Reigen in Gang hält?
aaaaaDaß Lieben einsamer macht,
Schien erwiesen. Jeder behielt ihn für sich,
aaaaaSeinen Dorn, bis zur Unzeit
Das Blut die Verbände durchschlug. Selten
aaaaaBlieb jemand unverletzt. Eher kroch
Ein Schmerz beim anderen unter. Verlassen
aaaaaZu sein war das größte Übel,
Nichts zu fühlen im Frühling, wie amputiert
aaaaaVor defekten Riesenrädern…
Wie uns der Wind in die Baumkronen hob,
aaaaaAus denen wir fallen sollten,
Glücklich, mit einem langen Himmelsschrei.

 

Ein Himmelsschrei

Schon beim ersten Lesen dieser dreizehn Zeilen fällt ins Auge und erst recht ins Ohr, wie das Gedicht gegen Ende in einer kurzen, mit Punktpunktpunkt angedeuteten Sprech- und Gedankenpause verstummt, um dann in einem jähen Aufschwung neu anzufangen. Eine Zeile lang dauert der, wird schon in der nächsten jäh abgebremst, um in der Schlußzeile noch einmal anzusetzen – alles in allem eine Elevation, die im ungeheuren Gleichmaß und Gleichmut der Grünbeinschen Verskunst wie ein Tabubruch wirkt. Was sich bestätigt, wenn man das Gedicht wieder und wieder liest und das auch im Zusammhang mit dem Zyklus „Variation auf kein Thema“, einer Folge von 39 Gedichten, in der dieses als das drittletzte figuriert.
Bis kurz vor Schluß folgen die Verse dem stoischen Melancholieprogramm, das der ganze Zyklus durchbuchstabiert, getreu den altlateinischen Formeln: taedium vitae, memento mori, nil admirari. Also, sehr frei übersetzt: Alles ist eitel, das Leben durchsichtig auf den Tod, nichts gibt es zu feiern, zu bewundern, zu erhoffen. In diesem dunklen Licht wird hier Liebeserfahrung dekonstruiert, der „Reigen“ ihrer Illusionen, in dem man miteinander auseinandergerät und gegen alle Erwartung „einsamer“ wird, „verlassen“ und fühllos trotz Frühling. Liebe wird entzaubert, paradox entstellt als ein Kommunikationsversuch, der nur zu einem Austausch von Wunden, Schmerzen, Verletzungen führt.
Bis in dieses kühle Lamento mit seinen Wund- und Blut- und Einsamkeitsbildern überraschend zwei Gegenmotive einbrechen: der „Frühling“ und die „Riesenräder“, beide offenbar positiv aufgeladen, wenn auch die Riesenräder „defekt“ scheinen… Wie ein Atemholen wirkt das nun in den Gedichtverlauf notierte kurze Verstummen, aus dem der überraschende Aufschwung sich löst, mit Wind hoch in die Baumkronen, gefolgt zwar von einer Fallbewegung, doch beendet mit einem Himmels- und Glücksschrei. Es dürfte die Erinnerung an eine Riesenradfahrt sein, die diese Aufwärts- und Abwärtsbewegung auslöst und zugleich erinnert an das Glücksrad, das launische Rad der Fortuna, und damit ein Gegenmotiv setzt zum „Reigen“ des Immerwiederundwieder im Gedichtanfang.
Keines der 39 Gedichte des Zyklus aus Dreizehnzeilenblöcken wagt dieses hohe, offene Ende, dieses Jauchzen noch im Fallen. Die meisten enden bitter, resignativ bis sarkastisch, aber alle versuchen in den Schlußzeilen eine Art Fazit. Drei mal dreizehn gleich 39 – auch in diesem Zahlenspiel taucht wieder die Unheilszahl 13 auf. Protestieren diese Gedichte etwa allesamt klammheimlich gegen den Prachtbau des Sonetts, mit seinem vierzehnzeiligen und dazu noch harmonisch in Vier- und Dreizeilenstrophen geordneten Ablauf? Als Folge verwilderter Sonette läßt sich der Grünbeinsehe Zyklus tatsächlich lesen: Er verzichtet auf Reime, auf Strophen, auf ein regelmäßiges Versmaß und steuert doch wie der klassische Vorläufer ein Fazit in den Schlußzeilen an, das alle vorausgegangene Bewegung, die thematische wie die rhythmische, auffängt, in sich zusammenfaßt, stillegt.
Nur dieses eine Ausnahmegedicht, verklingend „mit einem langen Himmelsschrei“, im Largorhythmus langer, heller Vokale, scheint im letzten Moment noch zu brechen mit dem spröden Trostlosigkeitspathos des Zyklus. Doch nichts ist damit zurückgenommen oder aufgehoben von der vorausgegangenen Klagelitanei. Gerade der Widerspruch zwischen Anfang und Ende, zwischen Fragesatz und Himmelsschrei hält das Gedicht in Spannung, in Form, ja formt es zu einem knappen Lebensbild. Das Glück im Riesenrad evoziert Kindheit, das Lamento formuliert die erwachsene, die ausgenüchterte Erfahrung. Denn – wie es in einem anderen Gedicht im Zyklus heißt:

Keiner, der nicht hofft… Und los geht’s
Hinein in den Abend.

Reinhard Baumgart, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Hundert Gedichte des Jahrhunderts, Insel Verlag, 2000

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