Renato P. Arlati: An E.

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Renato P. Arlati: An E.

Arlati-An E.

FÜR K.

Ein unbeschreiblich helles Licht im Fenster.
Ein Blinder schaut herein.
Der dumpfe Schritt, so dass mich jemand suchte…
Was will er denn in dieser Abgesondertheit?
Er weiss nicht von den tiefen, tiefen Wunden
und seine Traurigkeit ist nicht so gross wie ich.
Er tastet sich…
Im Innern
aaaaaist nur Dunkelheit
aaaaaaaaaaim Fenster.
Sag mir die Zeit, sagt er und will mich rufen,
ich weiss so sehr nicht, wo ich bin.

 

 

 

Es ist still geworden um Renato P. Arlati

Es ist still geworden um einen Autor, der mit seinen kleinen, leisen Prosastücken nie zu den Lauten im Land gehört hat – wohl aber zu jenen, deren Stimme weit trägt, weit in die großen Räume der Poesie, in denen jede noch so kleine Bewegung, in denen selbst Schweigen Bedeutung hat. Arlati ist ein Meister dieser stillen Bedeutung, ein Künstler der wenigen Worte und der großen Räume, die sich in ihnen öffnen. Viele seiner Gedichte wurden über die Jahre verstreut in der „Neuen Zürcher Zeitung“ veröffentlicht. Mit „An E.“ liegen sie nun alle, auch die noch unveröffentlichten und nach seiner Erkrankung geschriebenen, in einem Buch gesammelt vor. „An E.“, „An C.“, „An R.“ – so sind viele dieser Gedichte überschrieben – und für uns, die Freunde Arlatis.

Urs Engeler Editor, Ankündigung, 2005

 

Arlatis Vermächtnis

Kurz vor Erscheinen des Gedichtbands „An E.“ ist Renato P. Arlati im Alter von 69 Jahren in Baden gestorben. Der Band, der alle Gedichte Arlatis versammelt, wurde so zu seinem Vermächtnis. Mit seinen kleinen, zuweilen experimentellen Prosastücken hatte er sich einen Namen gemacht, seine Gedichte aber wurden über die Jahre verstreut in der „NZZ“ veröffentlicht. Nun liegen sie gesammelt und mit unveröffentlichten Gedichten ergänzt vor. Einen Grossteil des Bandes nehmen Liebes- und Sehnsuchtsgedichte ein. Innenräume werden ausgelotet, denn: „Wenn ich das Fenster öffne, / höre ich, / dass draussen Dinge geschehen, von denen ich keine Ahnung habe.“ Wie in der Prosa setzt Arlati in seinen Gedichten auf Reduktion, setzt auf Gewicht und Wirkung jedes einzelnen Wortes, getragen von einem melancholischen, nie aber weinerlichen Grundton.

Markus Bundi, Aargauer Zeitung, 9.6.2005

Vom Rand der Sprache her

− Zum Tod des Dichters Renato P. Arlati. −

Blicke in Spiegel, die sich zwischen zwei Wimpernschlägen zu verflüchtigen scheinen; ein Buch, dessen Lektüre auf ein anderes verweist, eines, dessen Seiten unbedruckt sind; verhallende Schritte in Gängen, gefolgt von einem Schrei, der wie von ferne her dem eigenen Innern entweicht; Türen, die zu immer neuen Türen führen in Räume, wo sich Aussen und Innen seltsam verschränken – und schliesslich einer, der in einem solchen Raum an einem Tisch sitzt, der etwas, sei es auch nur ein einziges Wort, auf ein leeres Blatt zu schreiben versucht, dem dies nicht gelingt, der es deshalb durchstreicht, das Blatt zusammenfaltet und in die Tasche steckt.
Aber kann man Ungeschriebenes durchstreichen, es einstecken, um es als unvertane Möglichkeit nötigenfalls wieder hervorzuziehen? Renato P. Arlati konnte das, und er tat es, so paradox dies klingt, schreibend. In diesem Zögern, mit Sprache das Mögliche zu stören oder gar zu verwirken, gehörte er zu jenen immer seltener werdenden Schriftstellern, die man Poeten oder Dichter nennt. Arlati, dessen meist schmale Prosa- und Erzählbände mit ihren geheimnisvollen Titeln in den achtziger Jahren im Suhrkamp-Verlag, später im Rauhreif-Verlag erschienen, war ein Flaneur im schmerzhaft Unbestimmten, aber keineswegs weltverloren, dazu waren seine Schuhe zu gut besohlt, hatte sein Hut eine zu starke Krempe und sind seine Sätze zu fest auf Wirklichkeit bedacht. Auch wenn sich diese Wirklichkeit meist gerade in den Umwegen, Umleitungen und Sackgassen, die zu ihr hinführen wollen, zeigt.
Sein Sprechen ist eines vom Rand der Dinge, vom Rand der Sprache her, von dorther, wo sich beide dem Nichts vor der Schöpfung zuwenden. Oder müsste man sagen: von dorther, wo sie dieses Nichts mit tagträumerischer Sicherheit als ihre eigene Färbung aus sich hervorschimmern lassen? Wie würde es gewesen sein, wie hätte es werden können, wie wäre es, wenn? Bei Arlati kann ein kurzes Stehenbleiben in einem Treppenhaus zu einem Mysterium werden, in dem sich Zeiten und Orte durchkreuzen, der Stehende sich schon als Schreibender, der Schreibende sich noch als aufrecht Ausharrender sieht – ein ständiges Antizipieren und Zurücknehmen von Sinn, das seinen Ausgang vom blinden, noch unbesetzten Fleck der Dinge nimmt. Sein Werk: ein permanentes Entgleiten, das zur ephemeren Erscheinung im poetischen Augenblick führt. Vielleicht hat man gerade deshalb, wie er es in dem Text „Ohne Gesicht“ beschreibt, beim Lesen immer auch ein wenig das Gefühl, das eigne Gesicht zu verlieren, es abbröckeln und in einem Satzspiegel verschwinden zu sehen – zurück in jenes Buch, dessen Seiten unbedruckt sind. – Renato P. Arlati ist, wie bereits gemeldet, nach langer Krankheit am 30. März, am Tag nach seinem 69. Geburtstag, in Ennetbaden gestorben.

Andreas Langenbacher, Neue Zürcher Zeitung, 5.4.2005

Unerlöste Erscheinung

− Zur Wiederentdeckung des Schweizer Dichters Renato P. Arlati. −

„Jeder Mensch ist ein Abgrund“, so hat uns Büchners Woyzeck belehrt, „es schwindelt einem, wenn man hinabsieht.“ Es sind solche Schwindelanfälle eines in tiefe Unsicherheit gestürzten Ichs, von denen die schattenhaften Helden des Dichters Renato P. Arlati heimgesucht werden. Das Terrain des Alltags ist ihnen eine unheimliche Welt. Während einer gewöhnlichen Zugfahrt, beim Betreten eines Restaurants, bei einer zufälligen Begegnung auf der Strasse, vor allem beim absichtslosen Blick in den Spiegel können sich Falltüren ins Bodenlose öffnen. Es genügt eine kleine, surreale Störung der Alltags-Koordinaten und die Grenzen zwischen Realität und Traum, zwischen Alltags-Empirie und Halluzination beginnen sich aufzulösen. Das Ich wird sich selbst zum grössten Rätsel und bewegt sich auf der Schwelle von Selbstverlust und Ich-Diffusion.
Der 1936 in Zürich als Sohn italienischer Eltern geborene Renato Pasquale Arlati hatte als Graphiker und Fachlehrer für Zeichnen gearbeitet, bevor er sich aufs Schreiben verlegte. Mit Theaterstücken, an denen er sich seit 1958 versuchte, blieb er erfolglos. Aber bereits in seinen ersten Erzählungen – 1977 unter dem Titel „Und spür’ ich im Aufstehn im Gras eine Wendung“ im Sauerländer Verlag erschienen – wollte man einen Nachfahren Becketts und Kafkas erkennen. Sein Freund und Kollege Franz Böni öffnete ihm die Türen zum Suhrkamp Verlag, in dem Arlati von 1980 bis 1986 vier Prosabücher publizierte. Dem deutschen Publikum stellte Böni seinen Freund Arlati 1982 in der „Zeit“ als einen „Dichter der Stille“ vor. Diese Zuschreibung prägte seither die Arlati-Rezeption, wobei die Abgründigkeit seiner Prosa nicht immer in den Blick geriet.
Die tiefe Beunruhigung von Arlatis Helden, die bei ihrer sisyphushaften Arbeit der Wahrnehmung und Selbstvergewisserung immer wieder scheitern, überträgt sich auf den Leser. Der Mann im Spiegel, der Mann vor der eigenen Haustür erscheinen bei Arlati stets als „wesenlos“. Das Phantasmatische der eigenen Erscheinung, das Flüchtige und Ungreifbare der Ich-Identität treibt diese Gestalten immer tiefer ins Unglück.
Bereits in Arlatis erstem Prosaband widerfährt einem der Protagonisten eine schockhafte Selbstbegegnung: beim Betreten eines Lokals sieht der Ich-Erzähler sich selbst an einem Tisch sitzen. Später, in seinem umfangreichsten Prosabuch „Des Mündels Tag- und Nachtgeschichte“ (1986), schildert der Erzähler in fünfzig Textsegmenten den Aufgang und Verlauf einer psychosomatischen Krankheit. In einer zentralen Passage ist hier die Rede davon, dass die Ich-Figur die Gliedmassen einer Puppe im Garten liegen sieht und in dieser Zerstückelung sich selbst wiedererkennt. Dieses Motiv der disiecti membra poetæ taucht auch in dem späten Roman „Liebe Lea“ (1995) wieder auf. Der vor der Schreibmaschine sitzende Schriftsteller empfindet hier die eigenen Arme als fremde Objekte, abgetrennt vom eigenen Leib. Mit seinem Insistieren auf der Selbst- und Welt-Entfremdung seiner Helden passte Arlati irgendwann nicht mehr (wie auch sein Freund Franz Böni) in das Literaturverständnis der Suhrkamp-Kultur. Seine letzten Bücher erschienen im Rauhreif Verlag, bevor er 1998 einen Schlaganfall erlitt, der ihn fast verstummen liess.
Der geplante Gedichtband „In dunkler Verneigung“ konnte nicht mehr erscheinen. Dafür hat nun der Lyrik-Verleger Urs Engeler die Gedichte Arlatis gesammelt und in das wunderbare Buch, das kurz nach dem Tod des Autors im April 2005 erschienen ist, auch jene anrührenden späten Notate eingefügt, die Arlati nach seinem Schlaganfall verfasst hat. Bei oberflächlicher Lektüre mag man sich wundern, dass hier die historisch sehr strapazierten Basisvokabeln romantischer Naturpoesie aufgerufen werden: Sterne, Blätter, Herbst, Mond, Nachthimmel, Wolken und Schnee. Aber Arlati ist nicht an romantischer Stimmungspoesie gelegen. Er tarnt sich nur mit dem Gestus des Naiven, er lenkt wie beiläufig in kargen Versen den Blick auf unscheinbare Dinge und Wahrnehmungszustände, um dann jäh in diesem Gewöhnlichen auf den horror vacui zu stossen.
Auch in den Gedichten tauchen seine Elementarmotive auf: der blinde Spiegel, der kein Ebenbild des Schauenden zurückwirft, nur die Frage nach der Wirklichkeit des Ichs; oder der Nachthimmel, an dem keine Sterne zu finden sind, sondern nur „die Gestalt / die das Ungeheure ist“. Oder aber die Schattenhaftigkeit des Ichs, die Selbstwahrnehmung als „unerlöste Erscheinung“. Die Gedichte Renato P. Arlatis nähern sich in zarten Erkenntnisbewegungen den in den Alltag eingeschlossenen Mysterien.
„Ich will noch retten/ was mein Eignes ist!“, heisst es beschwörend im Gedicht „Anima“. Es macht das Verstörende dieser Gedichte aus, dass wir nicht sicher sein können, ob die Rettung dieses „Eignen“ gelingt.

Michael Braun, Schweizer Monatshefte, 06/07, 2005

Aus wachsender Ferne

− Renato P. Arlatis lyrisches Gesamtwerk. −

Wer Renato P. Arlatis in den achtziger Jahren bei Suhrkamp und später im Raureif-Verlag erschienene Prosabände kennt, wird mit seinen nun erstmals gesammelt herausgegebenen Gedichten nichts grundlegend Neues, aber doch einen etwas anderen Arlati entdecken. Leider erst postum, denn Renato P. Arlati ist nach längerer Krankheit kurz vor dem Erscheinen dieses kleinen Gedichtbandes im März dieses Jahres gestorben. Zeigte sich seine Kurzprosa oft lyrisch hermetisch und auf engstem Raum labyrinthisch, erweisen sich seine Gedichte – einige wurden erstmals in dieser Zeitung publiziert – als erstaunlich prosaisch und offen. Sie sind raffiniert und lapidar zugleich, allesamt Stenogramme, Notate, Stimmungsbilder aus dem Innersten einer äusserst ungesicherten Existenz. Als Gucklöcher bieten sie so den nachgelieferten, etwas leichteren Zugang zu einem schmalen, nun abgeschlossenen, aber immer noch unterschätzten Werk. Man könnte dieses typisch schweizerisch nennen, wenn man damit das welterweiternde Fremdwerden auf kleinstem Raum versteht.
Ob Gesicht, Spiegel, Blatt, Schatten, Kerze, Fenster oder Schnee: Die dargestellte Dingwelt in Arlatis Gedichten ist immer Medium eines sie in sanfter Trance erblickenden und sich in ihr selbst befragenden Menschen – Materialisation und Reflex seiner ungesicherten Wahrnehmungsform. Der Radius dieser Gedichte ist klein, ihre Motive zählbar, und doch findet sich in ihrem permanenten Rochieren, Auftauchen und Verschwinden so viel Fremde, Befremden ein, dass sie durchsichtig werden auf das Ungefähre, Ferne, das Nichts. Aber vor allem auf eine existenzielle Angst, die ihnen das zweite, dritte, n-te Gesicht verleiht. Denn das Angeschaute, ob Ding, Mensch oder Tier, blickt immer auf unverwandt verunsichernde Art und Weise zurück. Wenn Arlati das Wort „Frühling“ niederschreibt, kann das nur auf einer „schneebedeckten Wiese“ geschehen, in den fallenden Blättern ist „die Maske des Sommers, / das Gesicht aller Jahreszeiten“ zu sehen, die Spiegel beginnen erst im Dunkeln zu blitzen, und der Käfer in der Hand des Wanderers blickt ins Angesicht eines furchterregend schönen Gottes.
Wie im Mondlicht die Dinge eine quecksilbrig harte und zugleich diffus changierende Kontur annehmen, von der einen in die andere Gestalt wechseln, somit der Einbildungskraft doppelt ausgeliefert scheinen, erweist sich Arlatis Welt als somnambul und luzide zugleich. Eine nächtlich phosphoreszierende Welt, Wachtraum und Traumerwachen, die sich nur in ganz wenigen Augenblicken versöhnlich entspannt: „Nun lass ich den Schnee fallen: So wie im Innern / meine Seele nachgedacht hat in der Nacht.“
„Die Angst lässt uns schweben“, schrieb Martin Heidegger, „weil sie das Nichts offenbart und weil sie das Seiende im Ganzen zum Entgleiten bringt.“ Arlatis kleine lyrische Levitationen bieten immer wieder Momentaufnahmen einer solchen beängstigend sinnlichen „Metaphysik des Schwebens“, einer gegenständlichen Bodenlosigkeit gleitender, entgleitender Bezugspunkte, einer sich verschränkenden inneren und äusseren Welt. Und zuletzt eines poetischen Entschwebens ins Gedicht. Dorthin, wo auf kleinstem Raum und in den nächsten und nebensächlichsten Dingen „die Ferne wächst und wächst“. Mitten ins Herz der Worte hinein.

Andreas Langenbacher, Neue Zürcher Zeitung, 24.12.2005

Renato P. Arlatis Vermächtnis

„Doch ich darf auf keinen Fall … mir etwas einbilden, auf keinen Fall.“ Derart beschwört das Mündel im 1986 erschienenen Prosaband Des Mündels Tag- und Nachtgeschichte sich selbst. Die Beschwörung soll gegen die Angst und gegen das Verrücktsein helfen. In der Lyrik, die Renato P. Arlati neben seiner unergründlichen Prosa verfasst hat, hat dieser Satz erstaunlichen Nachhall gefunden. Die insgesamt 71 Gedichte, die der im März 2005 in Baden verstorbene Dichter hinterlässt, demonstrieren eine geradezu prosaische Offenheit, in der Arlati eine kleine Zahl von lyrischen Motiven vielfältig variiert: die Jahreszeiten, Bäume, das Schweigen, das Gesicht eines manchmal namentlich genannten Du, das wie im Titelgedicht direkt angesprochen ist. Eine melancholische Grundstimmung charakterisiert diese Variationen. Wo das Ich nicht einmal sich selbst gehört, wo die „Angst im Fenster“ ruft und das Sterben nahe scheint, findet sich Rettung nur schwer. Der Dichter bildet sich da nichts ein. Allein die Hoffnung gibt er dennoch nicht ganz preis. Im angesprochenen Du, in der „Anima“, mag er sie vielleicht finden. Nicht im Schreiben liegts, sondern im Entsagen, das Arlati mit minimalem Aufwand beschwört. „Du träumst von vielen weissen Blättern, / die ich nie beschrieben … / So / flattern meine Gedanken nirgendshin …“
Arlati hat vieler dieser Gedichte über die Jahre verstreut in der NZZ publiziert. Mit der unveröffentlichten Lyrik zusammen finden sie sich nun zur Gesamtheit vereinigt.

Michael Buselmeier, Der Bund, 10.1.2006

Zu Renato Arlati

Verfehlt! – Was an einem literarischen Kunstwerk „falsch“ – nicht bloss gefälscht – sein kann, ist im Unterschied zu wissenschaftlichen oder technischen Fehlleistungen oftmals schwer auszumachen. Autoren berufen sich gern auf ihre Narrenfreiheit, nicht nur in politischer oder ideologischer Hinsicht, nicht nur in ihrem sozialen Verhalten, sondern auch, und das macht die Sache um so komplizierter, in künstlerischen Dingen.
Dazu kommt, dass für manche Kunst- beziehungsweise Literaturströmungen der Normbruch, mithin die bewusste und gewollte Verfehlung dessen, was lange Zeit als richtig, womöglich auch als richtungsweisend galt, zum Programm gehört – Entkanonisierung als Innovationsprinzip. Solche Art von Falschheit beziehungsweise von Fehlern lässt sich in aller Regel problemlos erkennen, da sie im jeweiligen Werkzusammenhang entweder implizit angedeutet oder explizit gerechtfertigt und auf ein vormals „Richtiges“, vielleicht gar als Regel Gefordertes bezogen wird, das nun als „falsch“ zu gelten hat und dem „Andern“, „Neuen“ weichen soll.
So gegensätzliche Autoren wie Robert Walser und Antonin Artaud (vom späten Hölderlin zu schweigen) verdanken ihren literarischen Rang diversen „Fehlleistungen“, die ihnen, mit grosser Verzögerung zwar, als besondere Qualitäten ihres Personalstils gut geschrieben wurden. Ein Sonderfall – typisch gerade für die französische literarische Kultur – dürfte der Dichter Francis Ponge gewesen sein, der den Kunstfehler als eine grundsätzlich produktive Fehlleistung, ja sogar als etwas „Göttliches“ zu rechtfertigen suchte und ihn, in welcher Form auch immer, gegen jeglichen Perfektionismus, gegen jede stilistische Brillanz herbeiwünschte als den Garanten „stetiger Unfertigkeit“.
Nicht der gewollte, auch nicht der zufällig sich einstellende Fehler ist hier nun das Problem; problematisch ist vielmehr der ungewollt und unerkannt unterlaufende Fehler, der den künstlerischen Voraussetzungen des Werks – beispielsweise einer realistischen Erzählung, eines absurden Dramas, eines konkreten Gedichts – widerspricht und damit auch dessen Autor in Schwierigkeiten bringt als einen, der offenbar nicht weiss, was er macht, wenn er schreibt. Von diesem desavouierenden Vorwurf bleiben allenfalls der „naive“, der „primitive“, auch der „geisteskranke“ Autor ausgenommen, deren „Fehler“ ja keineswegs als störend empfunden, sondern als konstituierende Elemente ihres Personalstils akzeptiert werden.
Mitunter fällt es schwer, beabsichtigte und unterlaufene Fehler auseinander zu halten, entsprechend schwer dann auch, einen dichterischen Text als gelungen oder misslungen einzustufen, abgesehen davon, dass missgelungene Texte durchaus gelungene Passagen enthalten können – oder umgekehrt. Ob ein Text gelungen oder misslungen sei, ist allerdings nicht allein anhand der „Fehler“ auszumachen, die der Autor bewusst oder unbewusst hat stehen lassen. – Von Renato Arlati, dem unlängst verstorbenen Schweizer Lyriker und Erzähler, gibt es ein titelloses, vom 20. November 1998 datiertes Gedicht „Für Ruth“, das diese Problematik sichtbar macht; es lautet wie folgt:

Dein Haar deckt mein Gesicht
Wenn ich erwache.
Ich schaue hilfesuchend
Auf das Fenster hin.
Dann steh’ ich auf
Und geh’ zu Dir.

Dieser kleine Text, der eine idyllische Horrorszene vergegenwärtigt, ist „fehlerhaft“ in mehrfacher Hinsicht. Lexikalisch falsch ist der Gebrauch von „decken“ im ersten Vers; „decken“ lässt sich allenfalls ein Tisch oder, in nochmals anderer Bedeutung, eine Stute, eine Rassehündin, nicht jedoch ein Gesicht richtig wäre hier „bedecken“, weniger passend (aber doch zumindest korrekt) das Verb „zudecken“. Dass jemand „hilfesuchend“ auf etwas „hinschaut“, kann nur von einem aussenstehenden Beobachter festgestellt werden, nicht aber vom schauenden Subjekt selbst. Stilistisch eher ungeschickt ist die Wiederholung „Auf das Fenster“ und „steh’ ich auf“ in zwei aufeinander folgenden Versen, ohne dass es dafür einen erkennbaren, etwa klanglich bedingten Grund gäbe. Fragt sich auch, warum auf jenes Fenster „hingeschaut“ werden muss, wo doch eigentlich ein Blick dorthin genügen würde („ich seh zum Fenster“ – ohne hin).
Überhaupt ist die hier dargebotene Szenerie in ihrem zeit-räumlichen Zusammenhang fehlerhaft konstruiert. Wenn „dein Haar“ in der Früh „mein Gesicht“ bedeckt, wie könnte ich gleichzeitig – und warum „hilfesuchend“? – „auf das Fenster hin“ schauen, und wie könnte ich dann „zu Dir“ gehen, vermutlich also zu Ruth, die doch ganz in der Nähe sein muss und deren Haar eben noch „mein Gesicht“ bedeckte.
Auch wenn mithin manches in diesen wenigen Zeilen falsch oder verfehlt ist – soll deshalb das Gedicht insgesamt als verfehlt gelten? Logische, psychologische, sogar philologische Ungereimtheiten sind aus der Dichtung nicht grundsätzlich auszuschliessen, sie müssen aber legitimiert und eingelöst sein durch die im Text implizit mitgegebene und aus ihm zu erschliessende Poetik. Im vorliegenden Fall kann die auf verschiedenen Ebenen sich auswirkende Fehlerhaftigkeit poetologisch nicht erklärt, schon gar nicht gerechtfertigt werden, etwa durch einen surrealistischen oder parodistischen Ansatz. Zu fragen wäre allenfalls, ob und inwieweit hier ein naiver Dichter am Werk sei, zu fragen dann aber auch, ob die Naivität als authentisch gelten kann oder nicht doch künstlerisch intendiert ist.
Ein starkes Gedicht ist Arlatis Text „Für Ruth“ sicherlich nicht, und es ist wohl auch nicht eins jener Gedichte, die bei aller Fehlerhaftigkeit ihre künstlerische Richtigkeit haben oder die gerade aus ihrer „Fehlerhaftigkeit“ (hier in Anführungsstrichen) ihre Qualität gewinnen – wofür beliebig viele Beispiele anderer Autoren anzuführen wären. Bei Arlati stellt sich, wie mir scheint, diese „falsche Richtigkeit“ auch nicht andeutungsweise ein. Das vorliegende Gedicht lässt weder das Können noch das Wollen des Dichters erkennen. Ist es als Gelegenheits-, als Verständigungstext zu lesen? Wie wäre dann aber die – verfehlte? – Anrede an eine Person zu begreifen, die zugleich ganz nah und ganz fern ist; so nah, dass ihre Gegenwart als Bedrängnis, ihre Abwesenheit als Mangel empfunden wird?

Felix Philipp Ingold, manuskripte, Heft 174, 2006

 

Fakten und Vermutungen zum Autor
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Keystone-SDA

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00