Richard Pietraß: Poesiealbum 82

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Richard Pietraß: Poesiealbum 82

Pietraß/Rehfeldt-Poesiealbum 82

ANAMNESE

Geboren unterm Hungertuch lernte ich früh
aaaaaaaden Mund aufzureißen
Schief gewickelt lag ich beizeiten
aaaaaaaauf der Ebene zwischen Gebirge und
aaaaaaaSee
Und fand mich ausgeschüttet
aaaaaaanoch vor dem Baden
Gesalbt mit Taufreden
aaaaaaaverbrannte ich mir das Fell
Die Stöcke in knöchernen Zeigefingern
aaaaaaazerbrach ich mit bohrenden Fragen
Männliche Neugier
aaaaaaazog mir fremde Brüste vor die eigene
Da begriff ich
aaaaaaaauf Anhieb die Binsen der Bücher
Gepackt vom Grau
aaaaaaader Theorie entlief ich ins Leben
Da stand ich
aaaaaaaohne Worte
Da fand ich
aaaaaaastammelnd
aaaaaaaunterm rostenden Scheffel mein Licht

 

 

 

Richard Pietraß

Schon die erste kleine Sammlung von Gedichten dieses Autors, dessen Name künftig ohne Zweifel öfter genannt werden wird, weist ihn als eine starke, eigenwillige Stimme aus. Richard Pietraß verfügt bereits jetzt über eine erstaunliche Formsicherheit, die vom Spruchgedicht bis zu liedhaften und erzählenden Sprechweisen reicht. Der äußerst bedachte Einsatz des Wortes hat Gedichte zum Ergebnis, deren kräftige oder empfindliche poetische Individualität ein gerütteltes Maß an Wirklichkeit vorführt. Das ist in der Tat ein bemerkenswertes Ereignis: Gedichte, klar wie aufrichtige Gedanken, Gedichte, die nichts besser wissen wollen und zunächst nur von einem einzelnen sprechen, aber gerade so erhalten sie ihre Glaubwürdigkeit, öffnen sie uns die Türen zur Welt. Diese Gedichte sind schön und wichtig.

Aus Marina Zwetajewa: Poesiealbum 81, Verlag Neues Leben, 1974

Gespräch

Bernd Jentzsch: Gedichte entstehen zufällig, auf Veranlassung, dank und trotz, in Übereinstimmung oder als Gegenvorschlag; welche Anlässe lösen bei Ihnen ein Gedicht aus, wie lange arbeiten Sie an ihm?

Richard Pietraß: Das Leben trifft uns, wie uns wahre Kunst betroffen macht. Daraus entstehen Gedichte. Immer gilt es, den Raum des Sagbaren, letztlich Lebbaren, zu erweitern. Dafür sind wir alle verantwortlich.

Jentzsch: Die Entfaltung des Gegenstandes in seiner Variierunq, das Wort, das sich sozusagen selbst überquert, in einem Beispiel der Spaß am typografischen Muster; wie weit vertrauen Sie dem Spielerischen?

Pietraß: Spiel, Variation ermöglichen Auslotung und Entdeckungen: nichts ist unverbesserbar. kein Ding hat weniger als zwei Seiten. So sitze ich auf der Schwelle des Ernstes und treibe gefährliches Spiel mit einem heifien Eisen: dem Wort.

Jentzsch: „Nähe und Entfremdung“ hat Breniano notiert; was bedeutet Ihnen die literarische Tradition?

Pietraß: Es gibt keine traditionslose Kunst, nur kunstlosen Traditionalismus. Während uns nahe Traditionen durch Überfütterung oder schlechte Zubereitung entfremdet werden, bleiben wichtige andere durch Nichtverfügbarkeit wirkungslos; andere erlangen unnötig den Reiz der verbotenen Frucht.

Verlag Neues Leben, Klappentext, 1974

 

Gedichte von Pietraß

„Im Schöpfungsatlas nicht vermerkt / dieser See…“ So beginnt „Nachtrag“, ein Gedicht über die abgesoffene Kalkgrube Rüdersdorf, ein ungemein bezeichnendes Gedicht für den achtundzwanzigjährigen Autor, der, die Realität wohl und genau registrierend, den Blick und das Ohr hat, auch hinter die Dinge zu kommen. Das Gedicht schließt:

Wär ich ein Fisch,
Ging ich der Geschichte auf den Grund:
So schwimm ich mit raschen Zügen drüberhin.
Aber Stimmen hör ich,
Drunten, Lorengequietsch und, leise,
Detonationen.

Es hat sich zweifellos gelohnt, auf diese poetische Begabung, auf die Gedichte des heutigen Forschungsstudenten Richard Pietraß zu warten. Gar nicht laut sind sie, und sie gehen auch nicht mühelos ein wie manche der glatten Verse, die von Zeitungsredaktionen aus falsch verstandener Aktualität mitunter noch bevorzugt abgedruckt werden.
Die Gedichte von Pietraß werden es nicht geradezu leicht haben, denn sie sind behutsam, sie sind leise. Sie sprechen mit gesenkter Stimme von Natur und Liebe, von Landschaft und Menschen unserer Zeit, und sie vergessen die Tradition nicht. Eine leicht melancholische Stimmung liegt über diesen Land- und Stadtrandschaften, doch nicht Resignation entstammend, sondern einer poetischen Trauer über verlorene Welten der Kindheit, des Märchens und der unberührten Natur. Das heißt nicht, daß diese Dichtung „außer der Welt“, außerhalb unserer Welt ist. Pietraß gelingt es, abseits vcm Agitatorischen komplizierte politische Sachverhalte, Probleme unseres Lebens und Zusammenlebens kunstvoll und zugleich ungekünstelt ins Bild zu bringen.
Natürlich hat auch dieses Bändchen schwächere Gedichte; es zeigt zuweilen larmoyante Züge, mit Klischees, mit „Schlafgesicht“ und ,,Nebelhänden“ wird aufgewartet. Aber welcher erste Band hätte schon nur starke Gedichte? Die Mehrzahl der Verse überzeugt, zum Teil wird Vorzügliches präsentiert wie „Am Abend verwandeln“, „Rückzugsgefecht“, „Replik“, „Anamnese“.
Man möchte von diesem Richard Pietraß viel mehr solche Gedichte lesen wie

AN DEN ZWEITEN:

Ich kann sprach die Frau zum Zweiten
den Ersten nicht vergessen
Sein Mund ist noch auf meinem
mein Leib von ihm besessen

Meine Hand ruht noch in seiner
Ich gehe noch seinen Schritt
Und wenn ich zu dir komme
kommt er leise mit

So nun weißt du alles
Ach alles kann ich nicht sagen
Unsichtbar sind die Spuren
die wir ein Leben tragen.

Joachim S. Gumpert, Die Weltbühne, Heft 47, 1974

Die Absage in den achtziger Jahren

1980 bis 1984: Apokalyptik und Verweigerung

(…) Richard Pietraß’ (*1946) Herkunftsspur führt nach Masuren, Umsiedlerkind also, aufgewachsen im Notquartier, das er als soziale Deklassierung empfand. Er bezeichnete sich daher als heimatloses Weltkind, voller Sehnsucht nach einem Schneckenhaus. Doch das Flüchtlingselend hatte ihn früh Respekt gelehrt vor Dürftigem und Bedürftigem, hatte in ihm die Fähigkeit zu Anteilnahme und Mitleid entwickelt. Unscheinbare Menschenschicksale berührten ihn: Im Zeitalter des Massenmords berührt nur noch das Einzelschicksal.1
So war er zum Studium der klinischen Psychologie gekommen, zum Studium seelischer Defekte und Defizite. Das Gedicht war ihm ein Psychofakt und Psychoindiz: Das Leben trifft uns… daraus entstehen Gedichte, jedes Wort ein heißes Eisen. Dem sozialistischen Realismus fühlte er sich entfremdet wegen dessen schlechter Zubereitung. Überfütterung hatte ihm jeglichen Appetit genommen. Er leckte lieber an der verbotenen Frucht: Er las Alberti, Lorca und Enzensberger, er bekannte sich zur Metapher als Spürhund verborgener Wirklichkeiten, sie war ihm Wassertropfen, der die Welt in überraschender Optik spiegelte.
B. Jentzsch richtete ihm 1974 ein Poesiealbum aus: die Verse eines ertappten Vogels, der mit schrillen Schreien den ungeteilten Himmel befliegt. Eine karge Sprache, die sofort auf ein Ziel zuging, die Rede war wichtig, doch jedes Bild auch ein Modell, das Wort Tastende Hand / am Leib der Dinge.
1976 – nach B. Jentzschs Entschluß, im Westen zu bleiben – holte H. Bentzien R. Pietraß als Lyriklektor an den Verlag Neues Leben, und Pietraß setzte Jentzschs Poesiealbum-Werk für kurze Zeit fort. Während die Biermann-Ausbürgerung wichtige DDR-Lyriker außer Landes trieb, holte Pietraß weiter die Texte von Autoren der Weltliteratur ins Land. Dabei war er sich seiner wackligen Position als Lektor wohl bewußt:

Meine Praxis. Ein wackliger Stuhl.
Die Waage. Das kühle Blut.
Das Zünglein mein tauber Geschmack.
Am Haken der griffbereite Hut
.2

1980 dann der Gedichtband Notausgang, was im Kerker DDR nahezu eindeutige Metapher war und Ausgangs-Not mit implizierte:

Ich sitze mit meinem Bleistift
und weiß nicht
durch die Hintertür welchen Gedichts ich diesmal entkomme
3

Und asketisch, spartanisch arbeitete er gegen die Inflation der großen Wörter an, die allzeit aus den Mündern der Politmatadoren quollen und die Zeitungen füllten. Wertungen und Bilanzierungen schlichen sich in Pietraß’ Texte, und er wollte das Schweigen für sich nicht akzeptieren:

Wort des Dichters
Schweigen des Mönchs…

das Wort…

Messer an der Zunge des Sängers
ist es doch größer
als das Schweigen
4

Und er dichtete den Weltriß. Freilich überkamen ihn auch die Skrupel: Was noch schreiben, sprechen, schreien unter scheelen Gewehren:

Darf ich noch schreien     Nach so vielen Schreien?
Ist noch etwas zu sagen?     Nach so viel Blei…
Jedes weitere Schlagwort     Härtet die Harten
5

Und dennoch: schreiben, denn Ich zeige den Druck, der auf euch lastet, mein Lied:

Der Gesang unterm Galgen, der noch errichtet wird.

Und exemplarisch stellte er sich selber an den Pranger:

Seht mich verlorenen Sohn.
Ich hab mit dem Vater gebrochen…
Seht mich verlorenen Sohn
In freier Einzelhaft
6

1982 dann der Band Freiheitsmuseum, dem er als Lesezeichen beifügte:

Die Kunst als ein Reich der Freiheit ist zugleich auch Museum, angefüllt mit unbegrabbaren Hoffnungen… Für unsicheren Lohn beschäftigt es mich als einen Wahrsager und Nachlaßverweser.
Literatur begreife ich als Beitrag zur Selbstbefreiung: des einzelnen und der vielen
.7

Und seinen eigenen Beitrag zur Literatur bezeichnete er als Träume. Träumen und andere Widerfahrungen. Da hatte er als Lektor bereits seinen griffbereiten Hut genommen. Und mit nahezu selbstpeinigender Begier zwängte er sich in Kreuzreime, die er beginnen ließ

Wer schlägt mir den Reifen von der Brust
Streift ab dies eingewachsene Land?
8

Dann wieder Bitterworte, die scheinbar unkontrolliert aus ihm rannen:

Jemand haut mir in die Magengrube. Dann reicht er mir
ein Stück Pflaumenkuchen… Ein dritter redet mit mir Fraktur, daß mir
die Schienbeine schmerzen…
Ein Unbekannter macht sich an meinem Briefkasten zu
schaffen… In der Wohnung Spuren…
Meine Speisen schmecken scharf, neuerdings. Ist das meine
herausgerissene Zunge
9

Oder er verhedderte sich in Sprichwörtern, trieb auch boshaftes Sprachgespiel, oder die Sprache verkrampfte sich, spreizte sich oder versickerte und verstummte. Die Verzweiflung gerann ihm zu Sarkasmus. Er spielte bissiges Wortschach. Spielball nannte er seinen Gedichtband von 1987. W. Chlebnikow und A. Holz hatten ihm Bestätigung geliefert für mancherlei Bitterulk. Zwischendurch immer wieder Flucht ins Schneckenhaus, nachdem er mit dünner Haut die Welt gespürt, und aus ihm drangen schließlich nur noch irritierte und irritierende Wortsignale.
Die Wortsignale eines mit Wort und Zeit Belasteten, der für die DDR-Lyrik vor allem auch wichtig war als Herausgeber und Förderer poetischer Welt- und Gegenstimmen.

(…)

Edwin Kratschmer: Dichter · Diener · Dissidenten. Sündenfall der DDR-Lyrik, Universitätsverlag – Druckhaus Mayer GmbH Jena, 1995

 

HOLUNDER
Für Richard Pietraß

wofür die tinte, fragt man, im geäst
die schwarzen tropfen, die sich unverhofft
zum amselklecks verdichten? welcher text
für welches grundbuch, welches heft?

neben der alten scheune, wo in den beeten
das land versickert, hinterm zaun. der duft
der doldenrispen im april, das bütten-
papier, das er aus seinen tiefen schöpft,

während die wäsche trocknet, an der stange
zu flattern beginnt, die amseln sich in dohlen
verwandeln. welches süße oder strenge
geheimnis, fragt man, wird er mit uns teilen,

wenn wir im herbst ums dunkel der terrinen
versammelt sind, mit unseren blankgeputzten
silberlöffeln, jenen allzureinen
sonntagshemden, schweigsam wie kopisten?

Jan Wagner

 

 

Richard Pietraß Lesung und Gespräch mit Sebastian Kleinschmidt am 27.3.2018 im Haus für Poesie

 

Fakten und Vermutungen zum Poesiealbum + wiederentdeckt +
Interview
50 Jahre 1 + 2 + 3 + 4 + 5 + 6

 

 

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Jan Wagner: Lob des Spreewals
Der Tagesspiegel, 11.6.2016

Stefan Sprenger: Dass der Mensch der Stil sein möge
Sprache im technischen Zeitalter, Heft 218, Juni 2016

Fakten und Vermutungen zum Autor + DAS&D +
Übersetzungen 1 & 2 + KLG 1 & 2
Porträtgalerie:  Galerie Foto Gezett
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Das Pietraß _______ Aus einem Bestiarium Literaricum, aufgefunden im Archiv des Museo Rhinum; übersetzt von Peter Böthig

 

Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Der Pietraß“.

 

Richard Pietraß liest am 4.5.2018 für planetlyrik.de die 3 Gedichte „Hundewiese“, „Klausur“ und „Amok“.

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