Ruth Klüger: Zu Ingeborg Bachmanns Gedicht „Was wahr ist“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Ingeborg Bachmanns Gedicht „Was wahr ist“ aus Ingeborg Bachmann: Gesammelte Werke. Band I: Gedichte. –

 

 

 

 

INGEBORG BACHMANN

Was wahr ist

Was wahr ist, streut nicht Sand in deine Augen,
was wahr ist, bitten Schlaf und Tod dir ab
als eingefleischt, von jedem Schmerz beraten,
was wahr ist, rückt den Stein von deinem Grab.

Was wahr ist, so entsunken, so verwaschen
in Keim und Blatt, im faulen Zungenbett
ein Jahr und noch ein Jahr und alle Jahre –
was wahr ist, schafft nicht Zeit, es macht sie wett.

Was wahr ist, zieht der Erde einen Scheitel,
kämmt Traum und Kranz und die Bestellung aus,
es schwillt sein Kamm und voll gerauften Früchten
schlägt es in dich und trinkt dich gänzlich aus.

Was wahr ist, unterbleibt nicht bis zum Raubzug,
bei dem es dir vielleicht ums Ganze geht.
Du bist sein Raub beim Aufbruch deiner Wunden;
nichts überfällt dich, was dich nicht verrät.

Es kommt der Mond mit den vergällten Krügen.
So trink dein Maß. Es sinkt die bittre Nacht.
Der Abschaum flockt den Tauben ins Gefieder,
wird nicht ein Zweig in Sicherheit gebracht.

Du haftest in der Welt, beschwert von Ketten
doch treibt, was wahr ist, Sprünge in die Wand.
Du wachst und siehst im Dunkeln nach dem Rechten
dem unbekannten Ausgang zugewandt.

 

Der unbekannte Ausgang

Wohl der bekannteste Satz von Ingeborg Bachmann lautet:

Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.

Unser Gedicht fordert die Wahrheit, wenn auch mit der grundlegenden Abwandlung von der Abstraktion „Wahrheit“ zu dem Seienden, „was wahr ist“. Doch das Gedicht sagt uns nicht, woraus das Wahre denn besteht, ob Vision, Ideal oder die schlichte Wirklichkeit. Wir erfahren nur, wie es sich offenbart, beziehungsweise was es unterläßt. Es treibt Sprünge in die Wand des Gefängnisses Welt, es streut dir keinen Sand in die Augen. Nach dieser anscheinend klaren Aussage liefert uns der Text jedoch rätselhafte Bilder und geht sprungartig von einem zum anderen über, wobei hier und da ein Lichtblick etwas zu verdeutlichen scheint, der nächste Vers das Halbverstandene aber wieder verwischt. Einigermaßen deutlich sind zunächst die biblischen Anspielungen. Im vierten Vers ist die Wahrheit wie ein Engel der Auferstehung, der den Stein vom Grabe des in Schlaf und Tod befangenen Menschen rückt. In der fünften Strophe erinnern die Tauben, die einen Zweig in Sicherheit bringen sollen, an Noahs Taube, die Kundschafterin am Ende der Sintflut, wobei „der Abschaum“ aus den Wellen der rückgehenden Flut stammen könnte. Das aber höchstens als Doppelbedeutung, denn die vorhergehenden „vergällten Krüge“ lassen eher auf Bierschaum schließen. Ebenso willkürlich oder wortspielerisch zweideutig ist das Wort „Kamm“ in der dritten Strophe. „Was wahr ist“, kämmt die Erde und rauft ihr dabei die „Haare“ aus. Doch als „geschwollener Kamm“ wird daraus eher der Kamm eines aggressiv erregten Hahns. Dann wäre „was wahr ist“ ein Vogel, dessen Schnabel in den Menschen „schlägt“ (Vers 12). Wahr ist, was dich überfällt, in dich einschlägt, dich verrät (also dich verändert?).
Ähnlich passiv erscheint der Mensch in der folgenden vierten Strophe, wo er der „Raub“ des Wahren wird. Das Bild vom ausgetrunkenen Menschen (Strophe 3) erinnert an Verse von Bachmanns Freund Paul Celan:

An den langen Tischen der Zeit
Zechen die Krüge Gottes.
Sie trinken die Augen der Sehenden leer und die Augen der Blinden.

sie führen das Leere zum Mund wie das Volle
und schäumen nicht über wie du oder ich.

Beide Gedichtstellen beunruhigen durch diese angedrohte Passivität.
Im faulen Zungenbett der zweiten Strophe wohnt vermutlich eine Sprach- und Denkfaulheit, die an Lüge grenzt und vor sich hin vegetiert („Ein Jahr und noch ein Jahr…“), während die Wahrheit die Vergänglichkeit besiegt, die Zeit „wettmacht“. Die letzte Strophe mit ihrer scheinbaren Sicherheit, die uns einen Ausweg aus dem Gefängnis verspricht, erinnert an Platons Höhlengleichnis, in dem die Menschen Schatten und Schemen für die Wirklichkeit halten, während das wahre Leben draußen im Sonnenschein stattfindet. Hier wird dem Menschen, der „nach dem Rechten“ sehen soll, wieder eine aktive Rolle zugestanden.
Ein Freund sagt mir:

Ich mag keine Gedichte, die mich an der Nase herumführen.

Tatsächlich scheint die Dichterin es darauf angelegt zu haben, uns zu verunsichern, und reizt uns mit Vorbedacht zum Herumrätseln. Der Sprachduktus tendiert zur Unwiderlegbarkeit, doch die Einzelheiten widerstehen der Deutung. In dieser Gegensätzlichkeit ist, meine ich, die Substanz des Gedichts enthalten. Die einprägsamen Bilder sind obskur in einem Zusammenhang, der uns mit der Hoffnung auf Eindeutigkeit ködert.
Es gibt Gedichte, die nicht entschlüsselt sein wollen, die zwar einen Gedankengang andeuten, ihn aber mit Vorbedacht nicht fortsetzen, sondern den Leser in einem Zustand der unerfüllten Erwartung belassen. Wenn Anfang und Ende uns auf ein didaktisches Gedicht vorbereiteten, so ist die rätselhafte Mitte eher prophetisch. Das Problem wird nicht gelöst, es wird uns nur noch einmal ans Herz gelegt.
„Es steht geschrieben“ und „es ist uns gesagt“ – doch die verschlüsselten Heilsverheißungen bleiben unerforschlich.

Ruth Klügeraus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfundzwanzigster Band, Insel Verlag, 2002

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