Theo Breuer: Aus dem Hinterland

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Theo Breuer: Aus dem Hinterland

Breuer-Aus dem Hinterland

EINLADUNG

Wie gerne hätte ich Sie dazu eingeladen,
mit mir gemeinsam dieses Gedicht
durch eine Baumallee zu betreten:
sonnendurchwoben im warmen Licht
eines Nachmittags Ende September.
Ein stiller Weiher zur rechten – wie es sich für
einen Park gehört – darauf zwei leuchtende Schwäne.
Aber jetzt stehe ich nur in einem fremden
Zimmer mit ausgeschaltetem Fernseher,
einem halb ausgetrunkenen Glas Johannisbeersaft
auf dem runden Tisch, ein gletschergrüner Bonbonrest
klebt im Aschenbcher, zwei Sessel, ein Sofa,
ein sechsarmiger Lüster, nikotingelb die Tapeten.
Wenn ich an meine frühen Gedichte denke,
in die ich durch eingetretene Türen gestürmt bin
und die ich grußlos wieder verließ,
empfinde ich nichts und verstehe,
daß Sie mir den Platz zugewiesen haben,
an dem Sie mich zwar nicht suchen, aber was
mich betrifft, jedenfalls nicht finden würden.
Es gibt auch zwei Türen in diesem Gedicht:
die eine lasse ich zu; wenn man die andere
öffnet, ich weiß es, steht da ein Bett, ein Nachtschränkchen,
in einem Wasserglas grinst ein Gebiß,
und eine Brille liegt auf dem Fensterbrett.
Ich frage mich, wo bleiben nur die Menschen
in diesem Gedicht, wo bleibt die Katze, bleibt der Hund,
warum gibt es hier nur mich?
Warum muß ich hier bleiben einen Monat lang
ohne Post, nicht ein einziges Mal läutet das Telefon?
Warum verspüre ich keinen Hunger,
warum plagt mich kein Durst, warum ist hinter
dem Vorhang kein Fenster, warum ist es nicht hell
und wieso wird es nicht dunkel?
In einem solchen Gedicht rinnt Sand aus dem Radio.
Kein Schlaf, keine Träume, kein Wachsein,
kein Ich und kein Du.
Diese Welt sucht Zuflucht in einem schwarzen Schuh.
Dieser Schuh liegt hinter dem Sofa in Ihrem living room,
Ihrem Lebenszimmer, ja, ganz recht, dort lag er schon immer

Michael Arenz

 

 

 

Vorwort

Lesen Sie!
Immerzu nur lesen, das Verständnis kommt von selbst.

Paul Celan

Immer wieder überwältigen mich Poesieattacken. Ich bestelle wie besessen Lyrikbücher per E-Mail, ersteigere längst vergriffene Bände bei ebay und rase am nächsten Tag ins Antiquariat bzw. zur Buchhandlung, um vermeintliche Lücken zu schließen. „Lieber Poesie- als Panikattacken“, meint meine Frau schulterzuckend – und rollt die Augen. „Auf einer meiner ersten Expeditionen im Internet-Dschungel bin ich unversehens auf Sie gestoßen. Da ist er also versteckt, der Lyroholic aus Sistig!“, schreibt die Pulheimer Poetin Christa Wißkirchen mir − öffentlich! − ins Gästebuch der Homepage. (Ja, lachen Sie ruhig, aber bitte nur ein bißchen.)
Weshalb schreibe ich das zu Beginn? Damit Sie keinen systematischen Überblick, sondern einen persönlichen und ganz und gar subjektiven Streifzug durch die Welt der Lyrik erwarten. [Einen solchen erhalten Sie – und zwar von den Anfängen bis in die Gegenwart – in einem vollkommen anders gearteten Buch über Lyrik, das ein wesentlicher Bestandteil einer erkenntnisorientierten Auseinandersetzung mit deutschsprachiger Lyrik ist: Franz- Josef Holznagel, Hans-Georg Kemper, Hermann Korte, Matthias Meyer, Ralf Schnell und Bernhard Sorg vermitteln in ihrer Geschichte der deutschen Lyrik (760 Seiten, Hardcover, Lesebändchen; Reclam, Stuttgart 2004) die breitgefächerte Poesie im deutschen Sprachraum von den Anfängen im Mittelalter bis zum Ende des 20. Jahrhunderts.] Wenn eine Poesieattacke mich packt und sich ein neuer Gedichtbücherberg aufzutürmen beginnt, bemühe ich mich notgedrungen, aber von unstillbarem Lyrikhunger besessen, diesen lesend und schreibend abzutragen. Weder lechze ich nach tiefschürfenden Theorien, noch lauere ich auf einschlägige Entwicklungen – ich lasse mich ganz einfach von jeder Art dionysischer Dichtung, leidenschaftlicher Lyrik, pointierter Poesie ködern und stelle dabei gern das einzelne Gedicht, das einzelne Buch, den einzelnen Autor in den Mittelpunkt meines Interesses. Aus dem Hinterland. Lyrik nach 2000 versteht sich als Nachfolger von Ohne Punkt & Komma. Lyrik in den 90er Jahren (Wolkenstein, Köln 1999). Auf den folgenden Seiten stelle ich, unmittelbar an dieses Buch anschließend, in erster Linie Autoren, Bücher, Verlage und Zeitschriften vor, die seit 1999 in der deutschsprachigen Lyrikwelt (und darüber hinaus) meine Aufmerksamkeit erregt haben. Dabei spielt weder der Jahrhunderttausendwechsel eine Rolle, noch, ob es sich um eine junge, „aufstrebende“ Autorin handelt oder einen Schriftsteller, der zwar schon längst tot, dessen Stimme aber weiterhin berauschend ist. Ob Erstauflage oder Neuauflage ist von viel weniger Interesse als Begeisterung und Wißbegier. Gleiches gilt für Entstehungsort bzw. Nationalität der Autoren: Dichtung kennt keine Grenzen, und woher sie kommt, ist unerheblich, aber ankommen muß sie − und wie! Vermeintliche Schwerpunkte sind − von drei Ausnahmen abgesehen − in Wahrheit keine: Ob ich ein Buch „nur“ bibliographiere, mit einem Gedichtbeispiel vorstelle oder (ausführlich) kommentiere, das hängt zum einen vom jeweiligen Kapitel, nicht selten aber auch von den Begleiterscheinungen, Umständen und Zufällen im Zusammenhang mit dem gelesenen Buch ab. Am liebsten hätte ich über jeden Autor, jedes Buch, jedes Gedicht, jeden Verlag und jede Zeitschrift wenigstens zehn Zeilen verloren, um zu dokumentieren, daß ich daran glaube, daß jede Stimme, die sich auf wahrhaftige Art und Weise mit Poesie befaßt, ihre Rolle spielt in einem Mikrokosmos, der mich Tag für Tag neu fasziniert:

Die Dichtung wird von allen gemacht! (Lautréamont)

Sie finden in diesem Buch – mit freundlicher Unterstützung von Inhaltsverzeichnis und Register – ein aus unzähligen Teilchen und Teilen zusammengesetztes Mosaik [Ein solches erwartet Sie − und zwar buchstäblich und farbenprächtig − in Herta Müllers Gedichtband Die blassen Herren mit den Mokkatassen (Hanser, München und Wien 2005): Gedichte Wort für Wort mit der Schere geschnitten. Herta Müllers Collagenpoesie ist wahrhaft einmalig, originell und schön, und die mehrdeutig angelegten Botschaften stimmen mich nachdenklich. Die blassen Herren mit den Mokkatassen ist ein außergewöhnliches Teilchen im deutschsprachigen Lyrikmosaik nach 2000, dessen surreales Gefunkel Herrn Schwitters beim Kaffeetrinken vielleicht vor Neid erblassen lassen würde.] von der Welt der Lyrik nach 2000, wie ich sie aus der Abgelegenheit eines an der Peripherie gelegenen mittelgebirgischen Dorfes sehe. [Raoul Schrotts poetische, poetologische und oft weit darüber hinaus gehende Erkenntnisse, Kreationen und Visionen haben im Gegensatz dazu eine kosmopolitische Bandbreite von globalem Ausmaß. Ich lese die Bücher dieses naturgemäß kontrovers diskutierten Dichters mit größtem Interesse. Es ist gerade die total eigenwillige und hemmungslos selbstbewußte Art und Weise, mit der Schrott mir in Die Erfindung der Poesie (Eichborn, Frankfurt am Main 1997) die Poesie entlegenster Orte und fernster Zeiten nahebringt, die ich neben seinen bildstarken Gedichten so schätze. In Handbuch der Wolkenputzerei. Gesammelte Essays (Hanser, München und Wien 2005) schreibt der hochgebildete Autor in bekannt anregender, pointierter Art über alles, was im Zusammenhang steht mit seiner poetisch-polyglotten Existenz. Ich hebe − pars pro toto − den Essay über Hans Carl Artmann „Der König ist tot! − Es lebe der König!“ hervor. Dieser Text beispielsweise schließt eine Lücke, die Aus dem Hinterland hinterläßt. Handbuch der Wolkenputzerei ist das phantastische Buch eines irren Typs, der es liebt, Wirklichkeiten neu zu erfinden, der sich metaphorisch Masken aufsetzt und rasant die Rollen wechselt. Lesen!] Ich habe die seit 1999 verstreut erschienenen Artikel und Aufsätze gesammelt und (zum Teil stark) überarbeitet sowie aus aktuellen Anlässen hervorheben möchte ich Thomas Klings Tod am 1. April 2005, Rolf Dieter Brinkmanns 30. Todestag am 23. April 2005 sowie Axel Kutschs 60. Geburtstag am 16. Mai 2005 – zahlreiche neue geschrieben und zu diesem Buch kombiniert, das ich am liebsten als eine Art textsortenignorierendes Langgedicht gelesen wissen möchte – quer und kreuz oder sukzessive. Aber das ist ja nun allein Ihre Sache.

Theo Breuer, Vorwort

 

„Ein erstklassiger Flickenteppich

… den ich mir allerdings mit großer Freude in meinem Lyrikzimmer auslege“: Theo Breuers umfassende Darstellung zur zeitgenössischen deutschen und europäischen Lyrik. −

Aus dem Hinterland heißt das Buch, weil sein Verfasser Theo Breuer weitab der Metropolen in einem Eifeldorf wohnt und von dort aus enthusiastisch und kenntnisreich wie kein zweiter das deutschsprachige Lyrikgeschehen verfolgt. Es heißt auch so, weil Lyrik im Vergleich zu den glamourösen und kommerziell erfolgreichen Bestsellern stets „aus dem Hinterland“ der Literatur- und Verlagsszene kommt. Was aber auch bedeutet, dass sie so nachhaltig wirken kann, wie vielleicht der Biobauer „aus dem Hinterland“ seine Felder bestellt.
Aus dem Hinterland trägt den Untertitel Lyrik nach 2000 und kann bereits nach Durchsicht des Registers als die umfassendste Publikation zu diesem Thema zumindest im deutschsprachigen Raum gelten. Wobei das Buch durchaus auch Dichter aus anderen Literaturen behandelt, sofern zwischen 2000 und 2005 deutsche Übersetzungen ihrer Werke publiziert wurden. Denn Breuers Kriterien sind nicht die des Germanisten – der er seiner Ausbildung nach ist –, sondern die des bedingungslosen Lyrikfans, ja -fanatikers („In den letzten 10 Jahren ist mein Hunger auf Gedichte oft derart unerträglich gewesen, daß mir nichts anderes übrigblieb, als immer wieder von morgens bis abends Lyrik zu lesen. Das führte bis zum Höchstverzehr von acht Lyrikbänden an einem einzigen Tag.“).
Was der bekennende Bibliomane über seine subjektiven Lesegewohnheiten und -vorlieben erzählt, muss man nicht in aller Ausführlichkeit nachvollziehen – die vielen in voller Länge zitierten Gedichte erlauben einem meist ein eigenes Urteil. Unbestritten bleibt unter dem Strich der Eindruck, dass Theo Breuer praktisch alle Neuerscheinungen der letzten Jahre aus den wichtigen Lyrikverlagen gelesen hat und darüber hinaus eine hochinteressante, hunderte von Titeln umfassende Auswahl der Produktionen aus dem Hinterland kleinster und noch kleinerer Independent- und Wohnzimmerverlage. Genau dies unterscheidet Aus dem Hinterland von anderen vergleichbaren Publikationen: Der Band würdigt jene Zonen am Rande und außerhalb des Literaturbetriebs, die den Humus jener fruchtbaren Lyrikszene bildet, die bereits in Anthologien wie lyrik.log und Lyrik von jetzt dokumentiert wurde. Die gute Übersicht über versteckte Szenen und Nischen, die man so umfassend derzeit vermutlich nirgends anders findet, sollte für jeden Lyrikinteressierten die Ausgabe für dieses Buch rechtfertigen.
Denn weil es enorm zeitaufwändig ist, all diesen Spuren im Hinterland der Lyrik zu folgen, ist Aus dem Hinterland für den an neuen Entdeckungen interessierten Lyrikleser eine unschätzbar wertvolle Schatzkarte – die man übrigens keineswegs von vorn bis hinten zu lesen braucht. Schon beim Querlesen und Zappen mithilfe des Registers bleibt man ständig an Namen, Texten und Titeln hängen, die eine größere Bestellung in der Buchhandlung rechtfertigen. Ich selbst verdanke bereits Breuers Band Ohne Punkt und Komma. Lyrik in den 90er Jahren (1999) die Entdeckung einer so interessanten und mir vorher vollkommen unbekannten Lyrikerin wie Jennifer Poehler; deshalb vertraue ich mich gerne den mäandernden Fährten und Abwegen dieses unausschöpflichen Ziegels an. Die vielen vollständig zitierten Gedichte und das nach Personen, Verlagen und Zeitschriften differenzierte Register machen es leicht, dieses Buch nicht nur als Lese-Buch, sondern als Enzyklopädie unendlicher Verweise zu benutzen.
Nicht nur die physischen Proportionen von Aus dem Hinterland erinnern an die deutsche Ausgabe von Tausend Plateaus – man muss Theo Breuers hundertjährigen Almanach auch so lesen wie den rhizomatischen Klassiker von Deleuze/Guattari: In einem Buch gibt es nichts zu verstehen, sondern die Teile zu finden, mit denen man etwas anfangen kann, sprich: die Gedichte und Gedichtbücher, mit denen Theo Breuers Lesetagebuch „Rhizom macht“.

Gerald Fiebig, satt.org

Der Lyrik eine Lanze brechen

Da sage noch einer, die Lyrik sei tot. Auf über 500 Seiten präsentiert Theo Breuer, fundierter Lyrikkenner aus der Eifel, sozusagen ein modernes Museum der Poesie. Aufgegliedert in mehrere Kapitel entblättert sich vor den Augen des staunenden Lesers eine ungeheure Vielfalt der Worte, der Bücher, der Autoren. Nicht (nur) die ganz großen Namen haben in diesem Museum Hausrecht, auch die „Mittelklasse“ und die Vagabunden dürfen nicht nur anklopfen, sondern bekommen sogar ihr eigenes Plätzchen angeboten. Es ist jedoch nicht nur die Quantität, die so überrascht, vor allem die Art, wie Theo Breuer seines Lieblingslektüre, die Lyrik, anbietet, sucht ihresgleichen. Man merkt zumindest auf jeder Seite, dass es dem Autor Spaß macht, in den Büchern zu blättern, die oft hieroglyphengleichen Bedeutungen zu entziffern, die Büchern zu ordnen, aufzubewahren. Ob Bücher, Verlage, Zeitschriften, Autoren: das dicke Buch zeigt deutlich, dass die deutsche Lyriklandschaft blüht. Und es ist gut zu wissen, dass es Leute gibt, die diese Landschaft hegen und pflegen. Theo Breuer, selbst Autor feinsinniger und auch experimenteller Lyrikbände, darf man ruhig das Prädikat „Lyrikpfleger“ verleihen. Mit dem Buch Aus dem Hinterland hat er dem Gedicht einen guten Dienst erwiesen.

latong, amazon.de, 30.11.2005

Aus dem Hinterland der Lyrikrezeption –

Von der Wahrnehmung des Nebensächlichen

− Die Megazentren Berlin, Frankfurt, Hamburg und München sind nicht die alleinigen Nervenzentren des deutschsprachigen Lyrikschaffens. Gute Gedichte entstehen auch in der Provinz und werden überwiegend außerhalb der renommierten Großverlage veröffentlicht. In Theo Breuers Buch Aus dem Hinterland – Lyrik nach 2000 finden Sie eine ungeheure Anzahl an Namen, Lyriktiteln und Verlagen, von denen Sie bislang weder gehört noch gelesen haben dürften. −

Dem Hinterland (zog ich während einer TV-Dokumentation über den D-Day die literarische Parallele) kommt aus strategischen Gründen oft eine größere Bedeutung zu als großstädtische Literaturschaffende diesem bisweilen zutrauen. Es ist zwar regelmäßig eher Nebenschauplatz als Agglomerationszentrum bahnbrechender Entwicklung, aber dennoch für das Gedeihen und Gelingen des großen Ganzen unentbehrlich. Hier verlaufen die Nervenbahnen ohne deren Existenz oder Funktion letztlich auch die Aktivität der Nervenenden lahmt. Dass das „Hinterland“ (nicht zu verwechseln mit „Hinterwald“) mindestens als Bereicherung des Kulturbetriebs, vielleicht sogar als dessen Basis angesehen werden muss, merken manche erst, wenn es nicht mehr oder nicht mehr störungsfrei aktiv ist und notwendige Veränderungen zur Gesundung der Verhältnisse sich vielleicht erst in Jahren positiv auswirken.
Es macht Sinn, die Bedürfnisse und Aktivitäten des Hinterlandes nicht aus den Augen zu verlieren, statt in diesem nur Provinzialität und Entwicklungsnotstand zu vermuten. Gute zeitgenössische Literatur entsteht eben nicht nur in den großen Ballungszentren oder gar ausschließlich in der Metropole Berlin. Von letzterem zumindest wollte ein in einem angesehenen Großverlag verantwortlich Tätiger einen Autorenkollegen vor kurzem allen Ernstes überzeugen (siehe Aus dem Hinterland, Seite 379). Man kann für Literatur, Verlag und Hinterland nur hoffen, dass diese größenwahnsinnige Einschätzung nicht stellvertretend für den Geist des ganzen Hauses oder die Gesamtheit der den Markt beherrschenden Großverlage ist.

Ehrenvolle, aber unprofitable Sparte
Einer, der selbst aus dem Hinterland kommt und der es sich zur Lebensaufgabe macht, unermüdlich literarische Nebenschauplätze in den Mittelpunkt der öffentlichen Wahrnehmung zu rücken, ist Theo Breuer. Sein besonderes Augenmerk gilt der Lyrik, die unter anderem auch deshalb zur literarischen Nebensache wurde, weil man an und mit ihr (von wenigen Ausnahmen abgesehen) nicht genug verdient. In Zeiten des sich zunehmend verdichtenden Wettbewerbs, in denen auch renommierte Verlagshäuser mehr gemanagt als idealistisch geführt werden, ist die Lyrik zu einer ehrenvollen aber unprofitablen Sparte abgesunken, die am Prinzip Gewinnmaximierung scheitert, an dem jede einzelne Publikation gemessen wird. Das Ehrenamt, nicht nur sich selbst sondern mit eventuell unrentablen Projekten generös vor allem der literarischen Kultur zu dienen, wollen sich auch gut situierte Verlagshäuser heute kaum mehr leisten. Dies gilt mit besonderer Gewichtung für die Lyrik. Hier wird der Großteil der jährlichen Produktion aus ernstzunehmenden Verlagen (laut Theo Breuer etwa 2.000 bis 3.000 Titel) von kleinen und mittleren Unternehmen getragen, in denen häufig noch Verlegerpersönlichkeiten verantwortlich handeln, die Bücher (Gedichtbände) aus purem Idealismus am Rande der Wirtschaftlichkeit verlegen. So auch in der Edition YE des Lesers, Dichters und Verlegers Theo Breuer. Besonders in den vergangenen sechs Jahren wurde er in der Lyrikwelt durch sein Buch Ohne Punkt & Komma – Lyrik in den 90er Jahren (Wolkenstein Verlag), die von ihm edierte Lyrikzeitschrift Faltblatt und viele engagierte poetologische Essays zum Inbegriff des lyrikbesessenen Lesomanen, der Lyrik nicht nur fordert sondern auch lebt und selbstlos und nachhaltig fördert.

Lyrik(er)leben
In der lyrischen Reihe seiner Edition YE ist nun eine von ihm selbst verfasste fulminante Monographie erschienen, die die erste Hälfte des laufenden Lyrikjahrzehnts beleuchtet. Dies mit einer Leidenschaft, Liberalität und Liebe fürs Detail, die im Lyrikbetrieb ihresgleichen sucht. Axel Kutsch nennt Aus dem Hinterland „ein schier unerschöpfliches Mammut-Mosaik“, Jürgen Kross sieht in dem Werk „eine gewaltige Arbeit“, Dieter P. Meier-Lenz schätzt es als „Fundgrube“ und selbst Karl Otto Conrady lernt in dem 520 Seiten umfassenden Kompendium noch „vieles kennen, was man so nicht im Blick hatte“. Laut Christoph Leisten ein Liebesdienst an der Lyrik wie es ihn bislang in dieser betörend authentischen Textart noch nicht gegeben hat.
Die Superlative sind berechtigt. Besonders die von Leisten hervorgehobene Authentizität ist zweifelsohne eine der besonderen Stärken des Buches. Breuers konsequente Subjektivität mag auf Leser, die nicht mehr kennen als die oft hölzernen lyriktheoretischen Betrachtungen schreibender Germanisten, zunächst seltsam und unorthodox erscheinen. Seine enthusiastische Schreibweise ist in der Lyrik bislang jedenfalls einzigartig und ein wohl vielversprechender Weg, die Lyrikrezeption wieder mehr in die Breite zu führen. Breuers Texte machen Lust auf Gedichte, weil sie das Leseerlebnis „Lyrik“ nicht akademisch (v)erklärend oder theoretisierend abarbeiten, sondern pralle Fülle aus der täglichen Lektüre und der leidenschaftlichen Kommunikation mit Gleichgesinnten schöpfen. Die im Verlauf des Buches von Breuer immer wieder betonte Subjektivität seiner Überlegungen, basierend freilich auf jahrzehntelanger Lese- und Lyrikerfahrung, ist der Schlüssel zu einer kraftvollen Eindringlichkeit, die den Leser in ein bisweilen rauschhaftes Lyrik(er)leben entführt. Über allem steht die Absicht, auf die ungeheure Vielfalt der zeitgenössischen Lyrik aufmerksam zu machen und die immer wieder geäußerte Empfehlung, diese zu lesen, lesen, lesen…

Multi-Dimensionalität
Aus dem Hinterland ist ein Buch mit vielen Dimensionen nach dessen Lektüre niemand mehr behaupten kann, die Lyrik nach 2000 entstehe bei Stubenhockern in muffigen Räumen mit geschlossenen Fenstern und sie sei weder mitreißend noch aufregend. Theo Breuer beweist das Gegenteil. Man muss sich allerdings etwas Mühe machen, um sie auch abseits der vom Feuilleton nur gelegentlich wahrgenommenen Produktion einiger weniger kanonisierter Verlage aufzuspüren. Breuers Buch ist hierbei von großem Wert: Nachschlagewerk (1.470 verzeichnete Personen, 230 Verlage, 50 Zeitschriften), Anthologie (über 600 zitierte Gedichte), Essay (Autoren- und Verlagsporträts), Lexikon (mit umfangreicher Bibliographierung und teilweiser Kommentierung von mehr als 1.000 Lyriktiteln) und Zitatenschatz in einem. Es setzt sich zum Teil aus in den vergangenen Jahren verstreut veröffentlichten und stark überarbeiteten Aufsätzen zusammen und liest sich wie ein spannender Roman oder ein gutes Langgedicht und ist vor allem eins: eine großartige Werbung für die Lyrik! Die unglaubliche Informationsfülle schließt selbst bei Lyrikkennern viele vorhandene Lücken. Besonders an Weiterentwicklung interessierte Einsteiger aber dürften an dem Buch viel Freude haben, weil sie durch dessen Lektüre eine Menge dazulernen und ganz nebenbei zum Insider werden, wenn sie am gelebten Beispiel Breuers unendlich viel über die Lyrik und deren kleine und große Zusammenhänge erfahren. 
Selbst bei Lektüre eines Gedichtbandes pro Tag, was unbestritten viel ist und über das Lesepensum der meisten Menschen hinausgeht, die sich lesend und schreibend mit Lyrik befassen, würde es mindestens fünf Jahre dauern, um sich das einzuverleiben, was Theo Breuer an Lektüre für „Aus dem Hinterland“ bewältigt hat. Und auch diese Menge stellt letztlich nur einen kleinen Ausschnitt aller in diesem Zeitraum publizierten Lyriktitel dar. Das Beispiel macht anschaulich wie reichhaltig, ja unermesslich die Lyrikproduktion (trotz Lesermangel) auch heute noch ist und dass auch manischen Viellesern zwangsläufig manches verborgen bleibt. Für Theo Breuer ist jeder Tag ein „Tag des Buches“. Aus dem Hinterland lädt ein, daran teilzuhaben.

Andreas Noga, titel-magazin.de, 22.1.2006

Aus dem Armenhaus der Dichtkunst

Die Lyriker, das sind die Armen und Ärmsten unter den Dichtern, weil sie für ihre Gedichte nichts bekommen, weder Lob noch Geld. Auf der gehobenen Verlagsebene gibt es kein Mitleid, man handelt nach der Maxime: Was keinen Profit bringt, ist uninteressant! Die großen Verlage wägen knallhart ab, ob sich da etwas verdienen lässt oder nicht. Bei Lyrikangeboten wird kaum noch geantwortet. Ich kann mir vorstellen, dass ein Verlagslektor beim Wort „Lyrik“ sein Gesicht zu einer indignierten Grimasse verzieht, denn Gedichte können auch als Epidemie auftreten.

Andererseits gibt es Verleger, die nicht davor zurückschrecken, für eine Anthologieseite vom Autor 40,- Euro zu verlangen. Das ist seit Jahren schon eine Umkehrung aller Usancen, die bisher im Lyrikhandel üblich waren. Ein Markt der Eitelkeiten hat sich ausgebreitet, in dem Verleger die Not und den Geltungsdrang der armen Dichter ausnutzen, um an dieser menschlichen Schwäche zu verdienen. Oder sie lassen sich durch sogenannte „Druckkostenzuschüsse“ das Buch vom Autor finanzieren. Direkt peinlich wird es für den Lyriker, vom Verleger sogar noch ein Honorar zu fordern.
Hinzu kommt eine eklatante Ignoranz und Arroganz einiger großer Zeitungen, die ihr früher ziemlich reichhaltiges Feuilleton in „Kulturseiten“ umgetauft haben. Was auch immer das heißen mag: Sie bringen jetzt Pop und Rapp und Hipp-Hopp und Pipapo als „kulturelle“ Bereicherung in ihr Programm mit ein, kultivieren somit oberflächliche Event-Informationen. „Literatur“ wird dort kleingeschrieben, „Lyrik“ ist ein Schimpfwort geworden.
Nur Gedichtbände aus großen Verlagshäusern werden besprochen, weil diese Verlage potent genug sind, auch eine Anzeige zu schalten. So expandiert ein profitorientiertes Interessenkonsortium, das Karin Struck einmal „Feuilleton-Mafia“ genannt hat, und verhindert vielfach freien Zugang zu den Medien.
Das führt zu einer subjektiven Auslese, zur Degeneration der sogenannten freien Marktwirtschaft, wobei Renommee-Autoren bevorzugt werden. Dazwischen gibt es wenig Spielraum für Newcomer, mögen sie noch so gut oder bahnbrechend sein.
Beim Rundfunk ist es kaum besser, wo Kultursendungen meist in die Mitternachtsstunden verbannt wurden. Das kulturelle Leben stagniert dank der Scheuklappenmentalität der Verlagsmanager und Programmgestalter.

Nur im Untergrund der Literatur, in kleinen Zeitschriften erfährt man wirklich, was an der Basis passiert. Hier herrscht ein Markt ohne Profit und ohne raubtierkapitalistische Züge. Es ist das „Hinterland“, die dritte Welt der Literatur, die nur in Ausnahmefällen von Kulturbehörden Entwicklungshilfe erhält. Aber hier im Hinterland und Untergrund gibt es noch Idealismus. Begeisterung für das Genre und Mäzenatentum im Gegensatz zur marktorientierten Mehrwertstrategie der großen Verlage.
Die Bücher, die hier alternativ herausgebracht werden, entstehen oft nur durch Selbstausbeutung, 24-Stunden-Arbeitstage und Verzicht auf Profit.
Deshalb nennt Theo Breuer sein neues Buch sachgerecht Aus dem Hinterland. Lyrik nach 2000. Die Vollständigkeit dieses 520-Seiten-Kompendiums ist überwältigend, es ist ein komplexes Nachschlagewerk und Lexikon für die vernachlässigte Lyrik in unserer Republik.
Im Inneren findet man u.a. unzählige Autoren mit Gedichtbeispielen, Kurzessays zu wichtigen Themen und Problemen sowie Kurzbesprechungen vieler Bücher, Biografien, Charakterisierung vieler großer und kleiner Verlage, Rezensionen über wichtige Anthologien und umfangreiche Register.
Kurz gesagt: Ein Eldorado ebenso für Anfänger wie für alte Hasen, oder die es durch dieses Buch erst noch werden wollen. Breuer widmet sich intensiv schon seit Jahren diesem Genre und hatte bereits 1999 im Verlag Landpresse ein umfangreiches Florilegium der Lyrikszene der 90er Jahre unter dem Titel Ohne Punkt und Komma herausgebracht. Er ediert selbst Gedichtbände und Zeitschriften in seinem Verlag Edition YE.

Er geht in seinem Buch mit Fairness an die einzelnen Autoren und an ihre Veröffentlichungen der letzten Jahre heran, stellt meist ein Gedicht mit vor und interpretiert die Intentionen des Lyrikers. Seine Objektivität erlaubt es ihm, Dichter verschiedener Kategorien lesenswert nebeneinander zu charakterisieren. Gleichzeitig sieht er auch, dass manches Buch „ein Verbrechen an den Bäumen“ ist, weil es überhaupt gedruckt wurde.
Es gibt kritische Stellungnahmen, die seine Beurteilungskategorien erkennbar werden lassen: behutsames Einfühlungsvermögen, aber auch Gespür für Null-Talente. So gelingt ihm ein Nachschlagewerk, das es bisher in dieser Vielfalt und Komplexität noch nicht gab.
Im Personenregister tauchen über 1.600 Typen der Lyrikszene auf, wie „Antiquare, Autoren, Ball- und Buchkünstler, Chaoten, Charismatiker, Denker, Deuter, Dichter, Drucker, Essayisten, Fragensteller, Herausgeber, Idealisten, Ideologen, Journalisten, Künstler, Lyrikerinnen, Metaphoriker, Neodada, Neoklassizisten, Originale, Philosophen, Postboten, Quengler, Redakteure, Schauspieler, Schwätzer, Theoretiker, Übersetzer, Verleger, Waghälse, Xylographen, Ybermenschen, und weitere Zeitgenossen.“
Fast 70 Zeitschriften sind erwähnt oder zitiert, und 250 Verlage werden genannt. Der Arbeitsaufwand Theo Breuers ist enorm, das Ergebnis durchschlagend! Hatten wir nicht eben von Selbstausbeutung gesprochen?

Dieter P. Meier-Lenz, die horen, Heft 226, 2. Quartal 2007

 

Fakten und Vermutungen zum Autor und Buch + Würdigung

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