Tom Schulz: Lichtveränderung

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Tom Schulz: Lichtveränderung

Schulz-Lichtveränderung

LETZTE ATTACKE

Kommt, lasst uns das Feuer nicht bestatten. Nicht den
aaaaaSchnee. Zur Quelle,
an den Ort des Strömens, müssen wir weiter wandern
aaaaa– – –. Sprach und
verschwand. Er hielt in seiner Hand den
aaaaaScheidebecher. Wir sahen dies erst
hinterher. Im Fort- und im Vorbeigehen. Wir waren
aaaaamit ihm Höhlentiere in
mancher Nacht gewesen. Gesäugt von einer Wölfin. Schwermut in den
Bechern. Aus diesem Grund erhob sich seine Stimme. Sprang hinauf.
Er war bald oben angekommen und jubelte und sang und schrie. Und
schwadronierte. Zürnte den Verwaltern. Schüttete Hohn wie angebrannte
Milch über die Akademien. Die sich vor Dünkel spreizten, dass er zur Schere
griff. Ein Loch hinein schnitt. Wir träumten auf den Stränden seiner Stimme
von Barrikaden. Einem Lodern. Bis sich der Whisky in die Bänder fraß. Als
er lebte, sprach er gern von einem dunklen Reich der Poesie. Er wusste, dass
die Bücher Särge voll darin Lebender sind. Eingesperrt in sein Buch, sehen
wir ihn erst hinterher. Im Flur steht Licht. Auch ohne ihn. In den Schuhen
Brandungswasser. Als er lebte, sprach er gern von einer Zeit, die ohne ihn
stattgefunden hatte. Alles findet statt. Ohne ihn. Ohne uns auch. Wir
Übrigen mit genauso zitternder Stimme, wenn die Tür ins Schloss fällt. Alle
unsere Einsamkeiten schreiben sich Kassiber. Wispern von dem für immer
verlorenen Händedruck. Von einem Mund, der sich geschlossen hat. Von
Augen, die zu müde sind, weiter zu sehen. Bis zur nächsten Stunde. In der
wir uns begegnen. Wäre nicht das Fest. Als er lebte, rangen seine Züge mit
dem Docht. Und Ruß. Die schwarze Schrift, die ins Gewissen schrieb.
Dass wir gottlos sind. Sein werden. In seinem Sessel sehen wir ihn sitzen.
Hinterher. Um ihn herum Leitern. Feuertreppen. Vielleicht Stiegen in den
epiphanischen Schnee. Der morgen fallen wird. Ohne ihn. Ohne uns auch.
Wer weiß, vielleicht wachsen dem Frosch Kiemen. Oder Flügel. Wenn ich
nicht singen darf, ruft die Nachtigall, tanze ich eben! Kommt, lasst uns das
Feuer und den Schnee vereinen. Denn als er lebte, glühte sein Gesicht.
Bebte der Stollen in ihm auch. Dass sich die Bücher wie Grabsteine aufs
Herz legen. Dass das Reich der Poesie kommen möge. Denn als er lebte,
waren seine Hände Beine und sein Bauch ein Kopf. Als er lebte, lag der
Geruch schwerer Blumen in der Luft. Als er lebte, schrieben ihm die Fühler
etwas zu. Als er lebte, hingen die Vorhänge zugezogen vor den Fenstern, wo
der neue Tag begann.

in Erinnerung an Max Barck

 

 

 

Tom Schulz

ist der Romantiker unter den jüngeren deutschen Lyrikern. Er gestattet sich Emphase „nah am Wortrausch“, hat den Mut, Mond, Reh und Waldvögelein zu besingen. Doch dann ist der Wald plötzlich „voll von Schläuchen und Blutkonserven“, Tragödie oder Vorabendserie – die Schnitte sitzen tief. Ob Reisebild, politisches Gedicht oder Liebesklage, immer sind es die Übergänge, die Tom Schulz interessieren, wo die Lichtveränderung zum Aufbruch ins Ungewisse führt und sich die Dinge grundlegend wandeln. In einer Sprache, in der sich hoher Ton mit Alltagsphrasen verbindet, ruft Tom Schulz diese Veränderung der Wirklichkeit herbei:

egal wie Du kommst,
ob als Hund oder Schlüsselblume
komm.

Hanser Berlin, Klappentext, 2015

 

Kleiner Prinz in Ostdeutschland

– Konzert mit Harfe, Blech und Kamm: Tom Schulz will wieder mit dem Herzen sehen. –

Liebhabern der Provokation wird der dritte Lyrikband des Tom Schulz gefallen – vorausgesetzt, sie lassen sich auf ein Studium an der „Lichtuniversität“ des Autors ein. Keine „Hochschule für Avatare“, wie der Titel eines Gedichts nahelegen könnte, eher eine Schule des Sehens. „Zu viel was ich gesehen hatte“, heißt es eingangs über das Sehen, Hören und Sprechen auf Reisen in Prag, Paris, Breslau.
Schulz schreibt Gedichtblöcke, die auf regelgerechte Strophen und Verse verzichten, nicht aber auf Rhythmus und Binnenreim; er forscht in variierten Wiederholungen Sinneswahrnehmungen nach. Der Himmel und der Plastebecher, das Großartige und das Profane haben gleichermaßen ihren Platz im Gedicht. Aus Überangebot und Fülle wird Leere. Das mag das Protokoll eines Krisenmoments sein, steht aber auch für ein zeitgenössisches Lebensgefühl. Hier begegnet uns kein allwissend urteilender Autor, sondern ein Mensch, der alle Wahrnehmungen im Wechsel von Licht und Schatten in sich aufnimmt:

Keines war besser als das andere. Jedes war.

Der Autor als postmoderner, alles aufsaugender Schwamm? Dagegen spricht der Wille zur Form, der sich in fünf Kapiteln durchsetzt. Den kompakten Blöcken des ersten Teils mit seinen ineinandergreifenden Strukturen folgen liedhafte Passagen. War schon das letzte Gedicht des ersten Kapitels „ad libitum“ eine Musik für sich, gespielt auf Harfe, Blech und Kamm, lässt Tom Schulz nun ein inniges Adagio mit Erinnerungen an seine Herkunft aus der Oberlausitz hören; ostdeutsche Kindheitserlebnisse in Flora und Fauna, in Worte gefasst, die sonst nicht zum Vokabular der Naturbeschreibung gehören.
Den romantischen Mond zerfasert eine Sinfonie aus Hagel. Die Schwaden der ostdeutschen Braunkohleindustrie wabern durch das Gedächtnis. Die Szene, in der das Kind plötzlich eine „Kinderpanzerfaust“ in der Hand hält („Hort“) ist an Groteske kaum zu überbieten und führt die propagierte „Erziehung zum Frieden“ ad absurdum. Zwielichtige Gestalten huschen durch das Gedicht „Alter Schulweg“: ein als „scheues Waldvögelein“ verkleideter Wachtmeister, ein Buch führender „stiller Portier“. Selbst der Mond schreibt Berichte. Die Erinnerung fährt als „abgedunkelte Limousine“ vor. Das sind politische Gedichte, die in wenigen Bildern die Atmosphäre des zugrunde gegangenen restriktiven Staates erfassen, auch das Tragikomische der Mangelwirtschaft.
Ob erinnert oder erfunden: Die Verse bewegen sich zwischen Naturalismus und Surrealismus, angetrieben von der Frage, was der Mensch denn eigentlich sei. Dass das nicht zum philosophischen Diskurs mutiert, garantieren nicht zuletzt die skurrilen Figuren. Groteske Kabinettstückchen in rascher Szenenfolge verraten den Hang des Lyrikers zum Dramatischen. Schulz spielt hier absurdes Theater in wechselnden Milieus. Unter den kabarettreifen Alltagstypen befindet sich auch ein parodistisch vorgeführtes „Ich als Deutscher“ („Kap der guten Holzbank“).
Eine weitere Provokation: Tom Schulz scheut nicht davor zurück, das in Kitschverdacht geratene Herz zum Bezugspunkt seiner Gedichte zu machen. Damit reiht er sich ein in die lange Tradition der herzerfüllten Poesie, vom Minnesang bis zur Romantik. Was fügt Tom Schulz dem Symbol für Liebe und zärtliche Empfindung hinzu? Wo der Prenzlauer-Berg-Dichter Bert Papenfuß einst dichtete: „Alle Dinge liegen klar in meinem Herzen“ [Diese Zeile stammt leider von Sascha Anderson und das gesamte Gedicht ist hier nachzulesen. Red.] persifliert Tom Schulz:

Ich trage alle Dinge in meinem Herzbeutel
(„Mantra“).

Damit provoziert er wiederum den Aufschrei derer, die nach Kalauern fahnden.
Dabei verschiebt Schulz aber nicht ohne Witz die Herzperspektive ins Soziale und in die nüchterne, profane Welt der Apparatemedizin, etwa wenn „nah am Herzen“ die „Abtastnadel“ aufsetzt („Dieses Haus“). Sein „Mantra“-Gedicht verwandelt die Feststellung von Antoine de Saint-Exupéry: „Man sieht nur mit dem Herzen gut“ in eine programmatische Forderung:

Wir müssen wieder mit dem Herzen sehen.

Solch ein Herz-, Seelen-und Gemütsfuror ist ungewöhnlich in der zeitgenössischen Lyrik. „Griff ins Herz“ ist ein Gedicht überschrieben, in dem der Lyriker eine bildhafte Poetologie entwirft: „Ein Gedicht greift ins Herz oder wehrt sich. Stellt sich quer“, heißt es da. Die Widersprüche, aus denen seine eigenen Gedichte bestehen, konzentriert Schulz hier auf kleinstem Raum: das Leichte, Spielerische und die zur „Narbe“ gewordene tragische Erfahrung, die „zum Inneren der Worte führt“ und zugleich „eine gedachte Linie zu den Vogelschwärmen“.
Im Fokus des dritten Kapitels steht der Traum von einer gerechten Welt. Soziale Utopien finden sich in der Ode „An das Pampasgras“. „Tag der Arbeit“ gestaltet revolutionäre Szenen, Stimmungen und dramatische Konfrontationen. Das Gedicht als Zeitgeistdokument, hier vorgetragen mit Ironie und Selbstironie. Seinen „Schneeleoparden“ lässt Schulz durch eine imaginierte Stadt der Liebe und der Kreativität streifen – ein „Zwischenparadies“ der Sprache, der Malerei und der Musik. Diesen utopischen Entwurf beschreibt er als „das Leben ein oder zwei / Hebungen über dem Meer“.
Zur Fantasie gesellt sich der Wortklang, hier die mit Vergnügen zelebrierte Z-Alliteration: „Zu den Zirben. Komm, Zapfen pflücken“, konterkariert mit Dissonanzen aus dem Leierkasten der Zeitkritik, wo „künstliche Gelenke und Organe leise quietschen“. Gerne initiiert Tom Schulz per Zeilen- und Wortbruch eine plötzliche Bedeutungsumkehr. Oder er erfindet überraschende Komposita, auch solche, die Gegensätzliches in Eins denken. Dass sich der Vorgang nicht adäquat ins Normalsprachliche übertragen lässt, macht das eigentlich Poetische aus. Tom Schulz’ Verse über das Wesen des Gedichts und das Schreiben gehören zu den besten des Bandes, darunter „Gedicht“ und „About : blanc“. Selbst ein Text über das Nicht-Schreiben-Können, die Schreibkrise, den writer’s block, gerät ihm zum brillanten Credo.
Nicht immer erwischt der Autor bei seinem „Griff ins scheinbar Leere“ – wie er es nennt – fantastische Exemplare wie die Wüstenmaus, die nach der Springflut aus der Supermarkt-Arche steigt. Ein kurioser Einfall jagt den anderen, manchmal durch das Wort „oder“ in rauschhaften Assoziationsketten verbunden. Das überzeugt durch Virtuosität. In der bloßen Aneinanderreihung wirkt es gelegentlich austauschbar.
Das gesamte letzte Kapitel ist eine Hommage an gegenwärtige Verwandte im Geiste: Jan Wagner, Eberhard Häfner, Ron Winkler, Björn Kuhligk und Mirko Bonné. Allesamt sind sie Garanten für den gegenwärtigen literarischen Paradigmenwechsel.

Dorothea von Törne, Die Welt, 4.7.2015

Libellentänze

– Der Berliner Lyriker Tom Schulz erprobt in seinem neuen Gedichtband mit Witz und Virtuosität das Offene und Ungesicherte – und der Leser findet überraschende Glücksmomente. –

Es gibt Lyriker, die unentwegt wollen, was sie schon können. Ihre Gedichte laufen Gefahr, wie aus dem Register gezogen zu wirken. Sie sind kunstfertig gebaut, elegant im Auftritt, aber durch ihren reibungsarmen Gestus auch wieder schnell vergessen. Der Sirenengesang des leichten Gelingens nimmt sie in seinen Kanon auf. Es gibt aber auch Lyriker, die ihr Können immer wieder am Eigensinn ihres Wollens erproben, an einer Poetik, die nie ganz in Besitz genommen werden kann. Ihre Verse bleiben offen, dem Ungesicherten treu, dem Streben nach der nie zu erreichenden, endgültigen Form. Gerade die ausgehaltene Nähe zur Möglichkeit des Misslingens kann zum überraschenden Glücksmoment bei der Lektüre werden.

Experimentierfreudigkeit
Mit seinem Gedichtband Lichtveränderung schlägt Tom Schulz auf befreiende Art und Weise diesen zweiten Weg ein. Schulz, 1970 in der Oberlausitz geboren, heute als freier Autor, Herausgeber und Leiter einer Schreibwerkstatt in Berlin lebend, wurde von der Kritik wiederholt als „der Romantiker unter den jüngeren deutschen Dichtern“ bezeichnet. Das mag für seinen letzten Gedichtband, Innere Musik, mit seiner nur von wenigen dezenten Störgeräuschen unterminierten Melodiösität und seinem kontrolliert gebrochenen Blick auf die Natur und ihre prägende literarische Umgebung zwar stimmen. Mit seinem neuen Buch wendet sich Schulz nun aber extrovertierter, expressiver und damit exponierter einer sprachlich frei pulsierenden Welt- und Selbstvergegenwärtigung zu. Die Zeile „Ich liebe die momentane Verstrickung“ könnte gut und gerne das Motto zu diesem Gedichtband abgeben.
Schulz’ an den Moment gebundene Experimentierfreudigkeit macht sich vor allem in seinen Prosagedichten bemerkbar. Meist nicht länger als eine Seite, vermögen sie einen in unberechenbare semantische und syntaktische Schwingungen zu versetzen. Man könnte sie als improvisierte Stepptänze auf engstem Raum bezeichnen. Ob es sich dabei um die Beschwörung eines Ortes, die Erinnerung an ein gemeinsam verbrachtes Wochenende oder um das Wesen der deutschen Dichtung handelt, Schulz geht seine „Themen“ in einem Staccato aus über die Interpunktion hinausschiessenden Sätzen an. Sätze, bei denen der Punkt das Zeilen- und Vers-Ende ersetzt, nicht aber den assoziativen Fluss der festgehaltenen Bilder zersetzt:

Als Deutscher laufe ich der Holzmaus hinterher, die an einem unsichtbaren Faden gezogen wird. Durch den Wald. Jeder ist finster. Inside der Kuckucksuhr. Wer spricht? Ein Polizist mit einer Orange in der Hand. Ein landläufiger Huflattich. Oder in Schöneberg ein verspätetes Ich. Du bist bestimmt in Bestimmungen, die voraus eilen. Ich muss ins Planetarium. Die Sterne rufen…

So zwitschern in diesen parataktisch gestaffelten Prosatexten die Vögel aus den Tiefen und Untiefen des deutschen Waldes scheinbar wild durcheinander. Im Twitter-Takt – und locken uns doch mit gemeinsamer Konzentration ins Dickicht von erstaunlichen poetischen Kurzessays.
Es sind Versuche, sprachliche Verdichtung ohne Kompression herzustellen, in Wirbeln, Katarakten, gelenkten, aber nicht durchkalkulierten Gleitbewegungen zu denken, in immer wieder verflüssigten Momentaufnahmen. Eigenes und Fremdes, Beobachtung und Witz, Empfindung und Reflexion durchkreuzen sich in diesen „Verstrickungen“ in kleinen und kleinsten Satzpartikeln, werden beim Schreiben wie eine Herde zusammengetrieben und dabei konturstark und doch flüchtig flirrend zusammengehalten. Das sind keine Maulwürfe mit dunkelerdigen Aushüben, sondern luftig flinke Libellentänze über einem abgesteckten Terrain, nur ab und zu unsanft auf einem Kalauer landend.
Stenografische Spontaneität und szenografisches Geschick finden aber auch in anderen Gedichten dieses lose nach Themen geordneten Bandes zu einer entspannten Reflexion in Bildern zusammen. So etwa im Kindheitsgedicht „Alter Schulweg“, das mit den Zeilen „die goldenen Birnen, herein geschraubt / in die Fassung des Abends“ anhebt und damit die Bühne der Kindheit ironisch mit Hölderlins „Hälfte des Lebens“ illuminiert. Erlebnis, Erinnerung und dichterische Appropriation verbinden sich zu einem wie von selbst zusammenfindenden Amalgam.

Die Feldtheorie der Dichtung
Diesem Erhaschen und zugleich Erschaffen von Momenten einer zweiten Unmittelbarkeit bleibt Schulz auch in seinen eher poetologischen Gedichten auf der Spur. Wenn er etwa aus dem streunenden und zugleich konzentrierten Blick auf ein Feld von Pampagras eine Art Feldtheorie der Dichtung entwickelt oder wenn er das Paradoxon beschreibt, wie aus dem Weiss des leeren Papiers ein Gedicht entsteht. Mit der Bezeichnung „Schneesieben“ hat Schulz schliesslich die ebenso prekäre wie gültige Formel für diesen schöpferischen Prozess gefunden. Es ist der Konvergenzpunkt von Aktivität und Passivität, der Indifferenzpunkt von Schreiben und Lesen, das Zusammengehen von Sehen und Denken. An solchen Kreuzungspunkten von Tom Schulz’ neuem „Schneesieb“ bleiben wir gerne hängen.

Andreas Langenbacher, Neue Zürcher Zeitung, 26.8.2015

Am Kap der guten Holzbank

Tom Schulz ist ein Lyriker in Berlin – nicht das einzige, das ihn mit Jan Wagner, Björn Kuhligk und Ron Winkler verbindet. Die vier Poeten sind befreundet, widmen sich gegenseitig Gedichte, treten bisweilen auch gemeinsam auf und bilden unter den eingefleischten Individualisten, die Lyriker häufig sind, so etwas wie eine lose lyrische Gemeinschaft. Für ein Etikett à la „Neue Berliner Schule“ schreiben sie, alle um die vierzig, allerdings schon zu lange – und sind im übrigen ihrerseits zu individualistisch und nonkonformistisch, um sich einer Schuldisziplin zu fügen. Ein Grüppchen im Konzert der Gegenwartslyrik sind sie. Aber ein wichtiges.
Tom Schulz könnte man als den Hermetiker des Quartetts bezeichnen. „Einmal war ich ein Kuckuck. Schoss aus der Uhr und jede Zeit der / Welt war meine. Meer aller Meere. Land aller Länder“, heißt es, schön rätselhaft, in seinem neuen Lyrikband. Schulz zu lesen ist kein Kinderspiel, und nicht immer wirft die Dechiffrierarbeit einen eindeutig benennbaren Sinn ab. Dafür entschädigen überraschende Bilder – und eine in jeder Zeile spürbare geistige Freiheit.
Lichtveränderung – schon im Titel des Bandes deutet sich an, dass Schulz, der ein politischer Lyriker im weiteren Sinn ist, sich nicht als strahlender Aufklärer versteht, der den Tumben das Licht bringt. Eher würde man ihn als einen Romantiker mit Sinn für Schattierungen und Übergänge, für Zwielicht und Schatten, selbst für das Nächtige bezeichnen.
In „Kap der guten Holzbank“ (eine wunderbare kleine Metapher für die Utopie) ist zu lesen: „Wir heben ein Glas auf die lichte Weite“, doch die Antithese folgt prompt: „Auf die Schleierwolke.“ „Hinauf zu den zerschossenen Sternen“ – dagegen hätte auch Novalis nichts einzuwenden gehabt. Und „mit dem Herzen sehen“ wollten schon Paulus und der Kleine Prinz.
Die fünf Kapitel dieses Bandes haben keine Überschriften, lassen sich aber leicht ersichtlich allgemeinen Themen wie Liebe, Kindheits- und Jugenderinnerungen, Politik oder Nachdenken über die Utopie zuordnen. Bisweilen wechselt der Ton in ein und demselben Gedicht von zart-poetischen Bildern wie dem der „Harfe spielenden Brüste“ zu derberer Diktion – selbst zu so nobel kaschierten Kraftausdrücken wie „weiße Sch***e“. „Nah am Wortrausch“, sind die Gedichte, voll von sprachspielerischen Findungen („Ghaselen-Gazelle“, „Schlawittchen“). Gleich das erste Poem gefällt sich als lyrisch-assoziatives Denken an Binnenreim und Wortspiel entlang.
Romantiker im Sinne von Träumer ist Schulz auch im Politischen. Er weiß: Wir sind „abhängig von den toxischen Konzernen“. Und einmal lesen wir:

Alles Leid
der Erde glänzte golden über dem Ginster

Doch die Hoffnung, dass „das Reich der Poesie komme“, will er nicht preisgeben. Dem Klee denkt er ein fünftes Blatt zu. Und vieldeutig fordert er:

vergiss,
was du gelesen hast, Adorno und Freud, das Manifest
vergiss es noch nicht, vielleicht kommt noch ein Tag
mit klarem Licht und Bergen hinter den Fenstern.

Hans-Dieter Fronz, Badische Zeitung, 20.6.2015

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Mario Osterland: Der Versuch, sich an der Natur zu orientieren
signaturen-magazin.de

Anton Thuswaldner: Lichtveränderung
oe1.orf.at, 8.3.2015

 

TOM SCHULZ

Zerschlag mich …

und starte die geräuschlose Maschine, die ich bin
zur metallischen Stunde, wenn ich mich warte
und warte in der ölwanne mit wonne.
Wonne mit wannenöl wartung jede matallische
stunde, die ich maschine bin, geräuschlos starte,

mich zerschlage

Peter Wawerzinek

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + Facebook
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Keystone-SDA
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Tom Schulz rezitiert seine Gedichte „Bobrowski in Friedrichhagen“ und „Krakau im Nebel“: Live-Mitschnitt seiner Lesung vom 19.6.2011 in der Offiziersmesse des Schulschiffs Deutschland, Bremen (Vegesack). 12. Internationales Literaturfestival Bremen „POETRY ON THE ROAD“.

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