Tom Schulz: Kanon vor dem Verschwinden

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Tom Schulz: Kanon vor dem Verschwinden

Schulz-Kanon vor dem Verschwinden

PSALM

der Einsame ist ein Zweig
er trägt die Dörrfrucht des Winters
die Bäume mit der Totenhand

sie greifen hinter das Leben
Herr, schließ den Weltraum
Kühlschrank zu, es schweben

die Datteln, vom Mund in die Hand
der Gabentisch, das gedeckte Grab
der letzte Platz beim Abendmahl

bleibt frei, Vater, schließ den Weltraum
Turnsaal zu, abends wenn ich schlafen
geh, vierzehn Engel bei mir stehn

dreizehn mit Brüsten voll Milch
und Honig, wer singt das Lied
wer nimmt den Hut, es klingt

nach rostigen Klingen, Solingen rostfrei
es klingt nach Chartbrechern, Eis
Meeren, der Wüste jenseits des Schmerzes

Jesus as a child in einer Karaoke-Bar

 

 

 

Er kann und will zum Glück nicht anders –

mit Tom Schulz hat die Oberlausitz einen Lyriker hervorgebracht, aus dessen Gedichten eine bezwingende Notwendigkeit spricht. Jenseits jeder künstlerischen Attitüde setzt sich hier ein hochreflektiertes lyrisches Ich der Welt aus und erzählt davon in Bildern, die assoziative Fülle und präzise Beobachtung in sich vereinen.
Tom Schulz beherrscht die unterschiedlichsten Tonlagen und setzt sie gezielt ein. Unerschrocken mischt er Bilderstaccato, gebrochenen Beat, kalauerndes Sprachspiel, aber auch zärtlich elegische Töne und verwandelt so die Wunden, Risse und Brüche, die er überall wahrnimmt, egal, ob er die Isarauen entlanggeht, oder die Kastanienallee, in eine wilde Poesie, aus der vor allem eines spricht: der feste Glaube an die eigene Macht. Wie kritisch und skeptisch Tom Schulz diese Welt auch betrachtet, er findet — er kann nicht anders — fast wider Willen noch im trostlosesten Brachland eine leuchtend blaue Blume.

Berlin Verlag, Klappentext, 2009

 

Reizstromwäsche

„Die Liebe ist eine zu häufige Blume“ – wenn ein Lyriker das sagt, dann hat er wohl einen anderen Eros im Sinn. Tom Schulz, 1970 in der Oberlausitz geboren und auch als Übersetzer und Herausgeber hervorgetreten, setzt auf den Eros der Sprache. Er spricht von einem „Gedicht, das mit der Sprache schlief“. Sein Band Kanon vor dem Verschwinden hat freilich keinen kulturkonservativen Kanon im Sinn. Er steht in der Tradition von Dadaismus und Surrealismus. Gern persifliert er das Pathos großer Poesie – wenn auch mit mäßigem Witz. Dylan Thomas’ Wendung „Dem Tod soll kein Reich bleiben“ wird zu „dem Tod soll keine Gründerzeitvilla bleiben“. Und bei der Zeile „durch soviel Kuhmist geschritten“ sollen wir an Benns Artistik denken: „Durch soviel Formen geschritten“. Die Titel der Gedichte von Tom Schulz suggerieren Welthaltigkeit. Da figurieren Orte von Cordoba bis zu den Isarauen, von der Saarschleife bis Anatolien. „Die Holledau, die blöde“ klingt als Titel lustig. Doch das Spiel der Worte gibt dem Ort keine Chance. Es ist ohne Geduld. Schulz erfindet zum Mobilfunk einen „Debilfunk“. „Reizstromwäsche“ kombiniert nach schlichtem Rezept zwei Begriffe zu einem neuen. Loben wir aber den Ausdruck, den Tom Schulz für bestimmte Ästheten findet: Kunstanrichter. Er passt recht hübsch auf den Autor und was er anrichtet.

H.H., Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.10.2009

Pathos mit Tomaten

– Aus Furcht, die Dinge zu benennen, tanzt Tom Schulz im Kanon vor dem Verschwinden graziös mit seinen Gedichten auf der heißen Herdplatte. –

Dieser Dichter hat eigentlich Angst, die Dinge zu benennen, und es gelingt ihm, diese Angst auch uns einzuflößen. Wie besessen holt er Wörter hervor, welche zwar nicht die Dinge sind, aber doch so nahe bei ihnen, dass sie stellvertretend deren Härte, Geruch, Farbe und Geschmack simulieren können, vor allem auch ihre Aggressivität oder Zärtlichkeit. Aber kaum genannt, lässt er sie fallen, kalauert sie weg, deutet sie um.
Die Gedichte, oft aus drei- oder vierzeiligen Strophen gebaut, sehen auf dem Papier sehr ordentlich aus, aber kaum ein Satz passt in einen Vers, und kaum ein Strophenende gibt Zeit zum Atemholen. Der Tänzer auf einer Herdplatte: Wohin er auch tritt, ist es zu heiß, um nur eine Sekunde auszuharren. Also darf er nicht aufhören zu tanzen, und wir dürfen nicht aufhören zu lesen. Natürlich ist das im Ernst unmöglich, aber künstlerisch gelingt es, wenn das Gedicht sich unangemeldet unterbricht oder mit einem Doppelpunkt seine Unbeendbarkeit ausdrückt, wie dieses „Abendlied“:

wir tränenreich versiegten Zisternen
wir gehen dahin mit Schnitt und weg
zehrendem Bier zur Neige, verwandelt
in Eigenurin, Rosenwasser der Mond
Scheintarif wird angesagt:

Das erste Motto, eine Strophe des rumänischen Dichters Gellu Naum, beziehen wir spontan auf die Dichtung: „und die stimmen kommen allein ohne körper.“ Es ist auch eine Verbeugung vor dem Surrealismus, den Tom Schulz in seinen Gedichten liebevoll an der Nase herumführt. Das zweite Motto ist von Emily Dickinson mit einem schönen geheimnisvollen Bild des Todes. Der Dichter meint wirklich den Tod, wenn er das Buch Kanon vor dem Verschwinden nennt. Das ist eine Gedichtüberschrift aus dem ersten Teil, welcher seinerseits „Vom Zugrundegehen” überschrieben ist. Als Widmung des ganzen Bandes finden wir wie zur Bestätigung der finsteren Titel: „in Erinnerung an meine Mutter“ (neben „für Theresa“, die auch noch ein hinreißend charmantes Gedicht „in der 1002. Nacht“ bekommt).

Die Trauerränder, die nachtblau
zerstochenen Venen, die Geburtstagskarten
ins Jenseits, während du durchgefeuert wirst
im Universalsarg, einfachste Ausführung
wie verrinnst du denn und dein Pferd
Rosinante.

Obwohl der Kanon vor dem Verschwinden virtuos und rabiat die Krankenhaus- und Sterbekulisse samt Requisiten hin- und herbeutelt, ist er ein Hymnus auf Leben und Liebe:

ich singe
dass dem Tod kein Scheich
tum gehören soll, keine wüste
Wüste

und ganz am Schluss auch „keine Gründerzeitvilla“.

Nicht nur zur Wirklichkeit hat der Dichter ein allergisches Verhältnis, auch den überlieferten Schatz von Weltweisheit, vom Kindervers bis zur absoluten Poesie, wehrt er fuchtelnd ab wie einen Mückenschwarm. In einem „Psalm“ heißt es:

Vater, schließ den Weltraum
Turnsaal zu, abends wenn ich schlafen
geh, vierzehn Engel bei mir stehn
dreizehn mit Brüsten voll Milch
und Honig, wer singt das Lied
wer nimmt den Hut, es klingt
nach rostigen Klingen, Solingen rostfrei
es klingt.

Die tiefe Verstörtheit der ersten Gedichte des Bandes lässt in den folgenden Kapiteln zwar nach, und es gibt viele, bei denen die scheinbar surreale Technik nicht nur Sarkasmus, sondern auch Humor vermittelt wie in „Die Holledau, die blöde”. Aber wie leicht schlägt das um wie in „Sommerabend” mit einem Vers von Rilke über den Panther: Er reißt einen Abgrund von Nihilismus auf, der sich auch hinter einer sarkastischen Geschmacklosigkeit nicht mehr verbergen lässt:

was macht das schon für einen Unterschied, verschwinden oder
herausgestrichen werden aus einem Plan
der nicht aufgeht
nur die lange schweigende Mehrheit der auf dem Grund
der Flüsse röchelnden Fische, die den Rochen voll
und hinter tausend Hefeweizen keine Welt.

Und es gibt Gedichte wie die „Stendaler Elegie“, die so schön sind, dass man sich die Augen reibt, die ganze Wortfindungskunst im Dienst eines rührenden, zärtlichen Gefühls:

bitte sende mir Abende, sende mir Wochenenden
damit die Tränen nicht im Vorortzug sitzen müssen
sende mir Sendungen vor dem Schlaf, eine Mütze
Zuckerschnee, den Liebestrank 100 Gramm.

Furcht und Liebe sind wohl die Pole, zwischen denen ein sensibles dichterisches Talent wie Tom Schulz schwanken kann: das Verhängnis, vor dem man nicht endgültig fliehen und das Glück, das man nicht endgültig besitzen kann. Die besten Gedichte von Tom Schulz sind denn auch jene, welche die Unfertigkeit nicht nur behaupten, sondern selber sind. Schal werden sie, wenn die Wortausflüchte kokett wirken oder gar zu einem abschließenden Statement gelangen. Wo der Bildercrash höchst gekonnt und mitreißend grassiert, ist ein kohärentes Bild altklug und langweilig: „als unvollendete Sinfonie / mit zerbrochenem Notenschlüssel“. Vielleicht hat der Dichter ja nichts dagegen, wenn man einfach kürzt, wo er seine eigene Stilhöhe nach unserem Geschmack nicht ganz erklimmt? Eine Poetik wählt man ja nicht wie im Supermarkt. Sie drängt sich auf. Auch Tom Schulz ist nicht nur Dozent für Kreatives Schreiben, sondern Opfer und Täter seiner Kreativität, vor allem aber Seismograph seiner sprachlichen Wahrnehmung von Wirklichkeit. Wenn wir ihn richtig verstanden haben, müssen wir ihn wohl vor den Haupt- und Aussagesätzen warnen. Zur Wiesn heißt es in „München im Herbst“ entschieden kreativer:

Absturzrasen, Pathos mit Tomaten
Soße! hoble Parmesan drüber, feuer
die Fenchelknollen an, einmal Lehel
von vorn und hinten, sichere Bahnhofs
Mission

Hans-Herbert Räkel, Süddeutsche Zeitung, 4.10.2010

Seepferdchen, nicht domestizierbar

– Mit seinem Kanon vor dem Verschwinden hat sich Tom Schulz in die vorderste Riege der jungen Lyrik geschrieben. –

Sie leben und arbeiten in der Hauptstadt und schreiben vor allem Gedichte: Jan Wagner, Björn Kuhligk, Florian Voß und einige andere. Zu sehr sind sie als Lyriker Individualisten, als dass sich von einer neuen Berliner Dichterschule sprechen ließe. Und doch verbindet sie manches – auch Freundschaft. Gemeinsam treten sie bei Veranstaltungen auf, gemeinsam veröffentlichen sie Bücher oder geben welche heraus und widmen sich gegenseitig Gedichte.
Was sie verbindet, ist ein dezidiert neuer Ton. Diese Lyriker zwischen 30 und 40 schließen sich nicht im Elfenbeinturm der Dichtung ein und lassen sich auch nicht in die Ausnüchterungszelle aseptischer Arbeit am Sprachmaterial sperren. Mit wachem Kopf öffnen sie sich der Gegenwart.
Wie vorzüglich das geht, beweist Jan Wagner. Und eine neue politische Lyrik, wie sie die vor kurzem erschienene Anthologie Alles außer Tiernahrung versammelt, ist nicht die unbedeutendste Frucht der Poetenverbindung.
Herausgeber und Mitautor des Bandes ist Tom Schulz, der, auch wenn er mittlerweile als Dozent für „Kreatives Schreiben“ der Universität Augsburg in Bayern lebt, die Berlin-Connection pflegt. Kanon vor dem Verschwinden heißt sein jüngster Gedichtband. Virtuos verrätselt hebt „Sommerabend“ an:

nichts gesagt und getan
als die eigenen Hieroglyphen in den Sand gesetzt
durch soviel Kuhmist geschritten
rauchst du mit mir den miesesten ipod

holst du die Anspruchsmusik herunter
auf dich lässt sich alles verwenden
die Nächte, in denen wir verbrennen
sollen die Vulkane ins Quadrat nehmen.

Überhaupt sind dies durchweg schwierige Gedichte, die doch nie den Verdacht wecken, dass die Hermetik Inhaltsleere kaschiert.
Splitterhaft tauchen Realitätselemente auf: ein Ausflug an die Isar-Auen mit Fernsicht („wir hatten den Bärlauch / gefangen, er war grün und schrie nicht / 300 km Voralptraumland“), die Trostlosigkeit eines so genannten Einkaufsparadieses oder des Seniorenheims, in dem der Großvater starb. Reisegedichte führen nach Amsterdam, Cordoba, Lissabon, Gomera – und Weimar: „hinterm Buchenwald die Um / Kehr der Photosynthese“, der „Dreisatz aus Lüge & Furcht & Vergessen“ ist Gemeingut. Ein Sehnen über die sinnentleerte gesellschaftliche Realität hinaus strebt „zu den See / Anemonen, den Muschel / Bänken, bei denen es nichts / zu holen gibt / außer Lichtgewinn“. Schöne, zarte Verse sind der Liebe gewidmet: „als wir / uns berührten, wurden wir gegenständliche Poesie“, heißt es an einer Stelle. Oder, versteckt lasziv: „deine Liebe, lass sie mich ausstatten / mit einem Seepferdchen, nicht domestizierbar“.
Freirhythmisch sind diese Gedichte und doch streng gebaut mit ihren meist drei- oder vierzeiligen Strophen. Manche verknappen sich zum Ein- oder Zweizeiler. „Giersch, zähneknirschender / Giersch!“, lesen wir, oder: „Lupinie, Pinie nie“. Zahlreich sind die Reminiszenzen und Reverenzen an ältere Lyrik – von Hölderlins Gedicht „Blödigkeit“ und Mörikes Orplid bis zu Huchels Kreuzotterndickicht. Mit Kanon vor dem Verschwinden hat sich Tom Schulz in die vorderste Riege der jungen deutschsprachigen Lyrik geschrieben.

Hans-Dieter Fronz, Badische Zeitung, 27.2.2010

Rosinante, ich singe

Noch einmal fürs Protokoll: Die Lyrik blüht. Der hochkonzentrierte Sprachstoff, nach dem, wer erst einmal auf ihn gekommen ist, unweigerlich süchtig wird, ist keine Mangelware. Die weniger erfreuliche Nachricht: Auch an hervorragende Gedichte kommt oft nur, wer bereits eingeweiht ist, ihre Verbreitung unterliegt, könnte man meinen, klandestinen Strukturen, seit die überregionalen Feuilletons ihre Zuständigkeit für die Hörbarmachung lyrischer Stimmen weitgehend abgetreten haben. Die neuen Medien gewinnen an Bedeutung, ja, doch Twitter & Co können weder die eingehendere Betrachtung im Feuilleton ersetzen, noch dessen Gewicht für die Wahrnehmung von Lyrik in einer breiteren Leserschaft.
So sattsam bekannt diese Entwicklung ist, soll sie hier doch ins Gedächtnis gerufen werden, weil sie erklärt, weshalb der im vergangenen Jahr erschienene, bemerkenswerte Gedichtband von Tom Schulz Kanon vor dem Verschwinden bislang noch ein Geheimtipp ist. An den klangreichen, innovativen, bei aller Sprachspielfreude ernsthaften und welthaltigen Gedichten liegt das jedenfalls nicht, die sind eine Entdeckung. Denn sie nehmen einen mit zu den Erscheinungen, die zu entdecken bleiben, ganz gleich wo oder wie oft man ihnen schon begegnet ist, weil man ihnen immer wieder begegnen muss und wird.

„… keine wüste Wüste“
Die Titel der Gedichte lesen sich wie die Route einer Irrfahrt von den Isarauen über die Holledau bis nach Gomera oder ins Hotel Teheran. Doch die Fahrt geht zum Glück nicht ins Exotische, aber auch nicht in die Fremde, vielmehr fühlt sich der Reisende „nur in der Fremde als Zuhausler“, wie Schulz in dem Gedicht „Im Fernen ist er ein Heimgänger“ lakonisch feststellt:

(…) er fühlt sich nur jenseits der Donau
als Hiesiger,
(…)
ein Vielflieger
kabellos
mussidenn mussidenn

er fühlt sich nur ganz im Süden
als Waidmanns Sohn.

Im Umkehrschluss ist diesem Angehörigen der weitverbreiteten Spezies der Durchreisenden die Heimat fremd geworden, denn wirkliche Vertrautheit stellt sich natürlich weder diesseits noch jenseits der Donau oder der Isar ein, er wird nirgends wahrhaft ankommen, weil seine Reise Bewegung nur simuliert. Und nirgends ist Ruhe, überall erwartet einen der Soundtrack der „tausend Stimmen / ohne Grund“, und wenn sie nur als „Laubstaubsauger dröhnen“ wie in dem Gedicht „Begegnung in der Kastanienallee“. Nirgends ist man allein oder gar zuerst, auf Schritt und Tritt stößt man auf Spuren und Echos.
Aber was einem als Passant zu nahe tritt, schafft eine fragile Art von Nähe, wenn es um die Teilbarkeit von ebenso allgemeinen wie schwer zu tragenden Erfahrungen geht, die ein Innehalten erzwingen: „es werden die Zeugen / der Friedhöfe sehr lange vor dem Ausgang zum / Universellen Leben Schlange stehn“, heißt es am Schluss des Gedichts.
Solche Zeugen findet Tom Schulz vor allem in der Dichtung. Dabei geht es nicht allein um Zeugenschaft für Verluste, sondern um Anrufung und Selbstaufruf zum Mut: „And death shall have no dominion“, hört man Dylan Thomas aus dem Titelgedicht rufen, worin „dem Tod kein Scheich / tum gehören soll, keine wüste / Wüste“ und „keine Gründerzeitvilla“. Das Pathos des Dylan-Verses vom Reich, das dem Tod nicht bleiben soll, wird heruntergebrochen auf fast possierlich anmutende Referenzen willkürlich ausgewählter Örtlichkeiten – was ist das, ein Kalauern?

Man kann es zunächst als eine grelle, gallige Antwort auf eben die gefühlte Willkür lesen, mit der der Tod ins Leben einbricht, und zugleich als Verweis auf die Brüchigkeit des donnernden Dylanschen Tonfalls selbst. Statt sich ihm anheimzugeben, verlagert Schulz den Ausdruck des Schmerzes in das, was tatsächlich zu sehen, beziehungsweise als bildmächtige Vorstellung zu ertragen ist, wenn ein Mensch stirbt: „(…) die nachtblau / zerstochenen Venen, die Geburtstagskarten ins Jenseits, während du durchgefeuert wirst / im Universalsarg, einfachste Ausführung“, um dann fortzufahren: „wie verrinnst du denn und dein Pferd / Rosinante, ich singe / dass dem Tod kein Scheich / tum gehören soll“ und im Weiteren sogar: „(…) ich swinge und sage ich heirate die drei Schwestern“.
Schulz intoniert sein Trotzdem im Gewand eines Don Quixote, der nicht im Wahn unterwegs ist, sondern im klaren Bewusstsein der Absurdität seines Aufbegehrens gegen die Windmühlen des Absurden antritt, eine Haltung, die an den Mythos des Sysiphos erinnert, wie Camus ihn auffasste:

Leben, das heißt das Absurde leben. Das Absurde leben – das heißt vor allem: es in Betracht ziehen. (…) Mit der unaufhörlichen Folge von Gegenwärtigem spielen, das ist das absurde Ideal.

„… in die Mehrzahl von Liebe“
Eine solche Folge von Gegenwärtigem wird in Tom Schulz’ Gedichten nicht selten in dynamisch situativen Aufzählungen durchgespielt, etwa in „Cordoba“, einem Reise- und Liebesgedicht, genauer: einem Gedicht über eine Reise in die Liebe, das den Leser geradezu hineinrasen lässt in „einen Sommer, den es nie gab / einen Sommer ohne Protuberanz / einen Sommer, der nie hier rief“ und von dem das lyrische Ich bekennt, es habe ihn sich „injizieren“ wollen, einen in zum Teil surrealen Bildern aufscheinenden Sommer, „der die Kathedrale / aus der Stadt trug“.
Lesen sich die als Reisegedichte getarnten Zustandsverortungen eher als Kartographien eines rasenden Stillstands, zudem oft von medialen Vermittlungen definiert wie in „Hotel Teheran“ – „für uns war die Erde ein beliebiger Fleck / ein ungleiches Stück von einem verbrannten Kuchen“ – so geraten in den Liebes- und Beziehungsgedichten die Orte selbst in Bewegung und finden in einer geheimnisvollen inneren Geographie zueinander.

In „Unsere Liebe ist kein Schmetterlingstal“ überlagern sich Landschaften unterschiedlicher Provinienz, Erinnerungen, Innen- und Außenraum in traumartig wirkenden, doch ganz sinnlichen Bildern der Verschmelzung:

(…) das Begehren auf Berg
Ruinen, die Libido an der Weinstraße
Beeren, die in den Mündern sanft landeten

ich werfe den Apfelbrutzen in hohem Bogen
hinweg, auf dem Rodeo Drive, als wir uns
berührten, wurden wir gegenständliche Poesie

In dieser „gegenständlichen Poesie“ findet der Leser sich mitunter erst einmal als Außenstehender wieder. An die Stelle des unvermittelt Wiedererkennbaren tritt der üppig bebilderte Paravan eines exklusiven So-war-es, wenn etwa „die Tapire der Ausnüchterung vor den Trau / Altar“ treten, eine Form von Hermetik greift Raum, der Schulz sich des öfteren bedient – und die der Annäherung an seine Gedichte erstaunlicherweise nicht im Wege steht.
Stattdessen erlebt man eine Rückführung ins Eigene, ein Ingangkommen der Phantasie. Immer wieder wird die durch überbordende Sprachspiele befeuert, besonders gelungen dort, wo dem Wörterwitz (der jedoch meistens auf Gedichttitel wie „Kollekte, Dekollete“ oder „Tantiemen, Jemen“ beschränkt bleibt) die Show zugunsten von assoziativen Klangmustern gestohlen wird: „Lupine, Pinie nie / das Wort Schlafmohn zum Nacktsein“ („Nachrichten vom Dürren Ast“). Oder „es klingt / nach rostigen Klingen, Solingen rostfrei / es klingt nach Chartbrechern, Eis / Meeren, der Wüste jenseits des Schmerzes“ wie in „Psalm“.
Den Titel eines Gedichts von Celan zu entlehnen oder sich ihm durch Anspielung anzunähern, ist kein geringes Risiko. Tom Schulz geht es mehr als einmal ein. Dass solche Entlehnungen maßhaltende Anlehnungen unter Berücksichtigung der historischen und erfahrungsmäßigen Distanz bleiben und nicht zu Anbiederungen oder gar zu Raubzügen ausarten, verdankt sich dem konsequenten Verzicht auf Anverwandlung auf dem Wege des poetischen Tons.

Der „Tanz der Komposita“
Schulz bleibt in seiner eigenen Stimmlage, seinem streckenweise frenetischen, nur selten einmal getragenen Rhythmus. Vor allem bleibt er bei dem Stoff, für den er spürbar mit selbsterworbener Erlebens- und Erleidensmünze gezahlt hat und der doch den Horizont jedes Menschen berührt und durchdringt, bei den Traumata der Verluste, durch den Tod und durch die Liebe.
In seinem Gedicht „Vom Zugrundegehen“ leuchten alle Eigenheiten seiner Sprache auf, der souveräne Tanz der Komposita, die Auflösung manch abgenutzten terminus’ technicus und dessen anschließende Wiederbelebung, der Erfindungsreichtum in den Bildern. Aber diese formalen Qualitäten sind nur der dicht gewebte Vorhang, der aufgeht für die alltäglichen tapferen Don-Quixoterien, das absurde Sysiphosdrama oder, um mit Tom Schulz zu sprechen, für die „unvollendete Sinfonie / mit zerbrochenem Notenschlüssel“.
Man muss dieses Gedicht ganz lesen, muss damit „mit den Zugehfrauen“ gehen, sich am besten immer wieder hinlesen zu den „Opium / Tropfen am Grunde des Eimers / mit der Schneeharfe“, hin zu seinem Trotzdem. Als eines jener berauschenden Sprachmittel, von denen eingangs die Rede war, zeigt es auch das unausweichliche Zugrundegehen als Reise, als einen Aufbruch in die Einsicht, was alles dem Verschwinden vorausgeht, auch wenn es „nichts / zu holen gibt // außer Lichtgewinn / aus der Tiefe“.

Sylvia Geist, die horen, Heft 237, 1. Quartal 2010

Weiterer Beitrag zu diesem Buch:

Henning Heske: Zeilensprunghaft
poetenladen.de, 6.10.2009

 

ZWEITES URBANES PANNEAU
für Tom Schulz 

sag über, sag unter, sag Stadt. sag, was
du gesehen hast. sag die rundum verspiegelten Taxis,
die zwischen dem Bauen gewidmeten Bauten hin
und her Luft verschieben. sag ziemlich schnell Kinder,
die unter Aufsicht von auf verschiedene Personen
verteilten Hermaphroditen Elementarteilchen
zu löschen haben. sag Kinder, denen man ansieht,
dass ihre Eltern oder übrig gebliebenen Elternteile
Francis Bacon verehren. sag Francis Caspar Bacon Kahlo.
sag die Kassiererinnen, die während ihrer Pausen
in den Hinterzimmern der Supermärkte tanzen
wie balinesische Göttinnen ohne näher spezifizierten
Aufgabenbereich. sag die zu unfreiwilligen Klienten
gewordenen Opfer der Eindrucksfarmer. sag sie auch zu
ihnen selbst. sag, dass wir Symbolsex hatten
am Nordweststern, den man auch Halbgelbplanet nennt
oder nannte. sag, dass wir gleichzeitig aus drei
Kontinenten stammen. sag, dass fast jeder von Geburt
an ein Telefon bewohnt. und nicht über das Viertel
der Zölibanten spricht. das eine Mandelform hat. fast
wie der Park, den du in meinem Park angelegt hast. ein
Überpark, in den man nur von wenigen Referenzgebäuden
aus blicken konnte. kann. sag die Gebetsgemeinschaft
XYZ, die unser Sein zu dromedarisieren
versuchte. sag die Bacchusbrüste der Geliebten
in lauen Sommernächten. sag Herbst minus zwei Türme.
sag Beamte, sag Winter, mit Leinwand auf Öl gemalt.
sag, wie wir überzogen sind von Digitallack. und dass
es keinen Angora-Beton gibt. nur Liebe, geregelt durch
den Schnee der Gefühle. und Teufel, aus Mangel
an Teufeln. sag, dass man nach hundert Vorlesungen
im Sozialamt einen Besuch gratis erhält. sag: die Wolken
beginnen immer zuerst am Himmel. sag: jeder zweite
Odysseus hält sich eine Sirenenmaschine ans Ohr.
sag auch die Ballerinen, die insgesamt und einzeln alle
Eurydike heißen. weil sie an den Ausfallstraßen
die Fensterscheiben der Fluchtfahrzeuge streicheln.
weil es so ist. weil es so determiniert ist. weil das die
Sinusseite der Gegenwart zeigt. sag das. vielleicht.

Ron Winkler

 

KURZ VOR DEN KREIDEFELSEN 

war die Schaabe genetisch
nicht verwendbar (Ringersand wie alter falscher Laich),
aber wir trugen ihr die Wellen

ins Hinterland:
die Schlingerpflanzen zunächst noch eingewandter,
später überwundener Geschichte.

als Schwimmabdruck (unumwunden & verwundbar)
konnten uns nur Gedichte dienen,
und was die Waldameisen auf den Bäumen taten,
das taten wir am Strand

bis die Landzunge schwer in der Sprache lag
und wir uns heimwärts logen,
den Dommeln nach
ins Rohr

am Bodden, wo die Eigenheimischen, Befreite
zweiten Grades, ihre Töchter
Prora nannten

unter dem peer-to-peer-chiffrierten Summen
eheähnlich lebender Insekten
(Bienen)
und dem Simsen einzelner Sirenen mit Bismarck-
brötchen tief in der Habseligkeit
gingen wir
metrisch verwendbar

durch über Parkgebühr beanspruchte Gelände,
sahen wahlverkannte Tiere
zartbedünt am Strand, vor allem
Quallen, letzten Endes

gestört vom Festland in ihrem einzehigen Sein.
sie delegierten ihr schwindendes Eigentum
der See abgewandt in einen Himmel

blau, doch voller Wolken wie vereiste Scheiben,
Schaabe,
angewandtes Weiß.

(für Tom Schulz)

Ron Winkler

 

 

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