Vasko Popa: Vasko Popa und sein Gedicht „Die kleine Schachtel“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Vasko Popa und sein Gedicht „Die kleine Schachtel“. –

 

 

 

 

VASKO POPA1

Die kleine Schachtel

Der kleinen Schachtel wachsen die ersten Zähne
Und es wächst ihre kleine Länge
Ihre kleine Breite kleine Leere
Und überhaupt alles was sie hat

Die kleine Schachtel wächst weiter
Und nun ist der Schrank in ihr
In dem sie war

Und sie wächst weiter und weiter und weiter
Und nun ist das Zimmer in ihr
Und das Haus und die Stadt und die Erde
Und die Welt in der sie einmal war

Die kleine Schachtel erinnert sich an ihre Kindheit
Und vor übergroßer Sehnsucht
Wird sie wieder kleine Schachtel

Nun ist in der kleinen Schachtel
Die ganze Welt klein klitzeklein
Ihr könnt sie leicht in die Tasche stecken
Leicht stehlen leicht verlieren

Hütet die kleine Schachtel

 

Du wirst gefragt,

was eines deiner Gedichte, was die kleine Schachtel bedeutet. Die Frage hat dich zum Träumen gebracht über dieses Gedicht, und die Träumerei hat dir mit einer Reihe von Fragen geantwortet:
Was ist die kleine Schachtel? Oder genauer: wer ist die kleine Schachtel? Ist sie ein kleiner Bastard, und zwar ein seltsamer Bastard, dessen menschlicher Vater zwar bekannt ist, aber nicht auch dessen Mutter (aus einem hölzernen, eisernen, kristallenen oder einem anderen edlen oder gemeinen Geschlecht)?
Ist das ein neues Ungeheuer, das diesmal nicht den Ehebruch des Menschen mit einem Tier darstellt (es ist keine Sirene, kein Kentaur), auch nicht den Ehebruch von Tieren verschiedener Gattung (es ist kein Drache, kein Einhorn)? Ist das ein neues Ungeheuer, das den Ehebruch des Menschen mit einem Gegenstand, mit einer Maschine darstellt (halb Mädchen, halb Maschine also) und das in Erscheinung trat, um die alten, verhungerten oder schon ausgestorbenen Ungeheuer auf den Industrie-Wiesen unserer häßlichen Träume zu ersetzen?
Oder ist es eine Halbgöttin, die sich, dem Menschen zum Heil, mit der großen Welt wie mit einem Samen befruchtet hat und die danach über derselben Welt wie über einem Kind im Schoße wacht und es nicht gebären will?
Oder ist es, ganz im Gegenteil, eine Halbteufelin, die, dem Menschen zum Verderben, die ganze große Welt in ihren Rachen gestopft und sie dann in ihrem Innern zerkleinert hat um sie besser quälen zu können.
Ist es vielleicht eine Schatzmeisterin, die zugleich auch ihre eigene Schatzkammer ist und die die ganze Welt in sich verborgen und obendrein verkleinert hat, um sie besser bewachen zu können
Oder ist es im Gegenteil eine Kerkermeisterin, die zugleich auch ihr eigener Kerker ist, und die die ganze Welt in sich verschlossen und in einen Zwerg verwandelt hat, damit sie ihr schwerer entfliehen kann?
Ist es ganz einfach ein menschlicher Kopf, jener allerdings ein wenig viereckige Kopf, der in letzter Zeit hauptsächlich Schachteln hervorbringt und der sich selbst in eine Schachtel verwandelt hat, in eine kleine Schachtel, die zweifelhafte Wunder ausheckt?
Oder ist es eine von den Öffnungen des Weltalls, die sich überall um uns her verbergen – in deinem, in jedermanns Schrank – und die mal wächst, mal schrumpft wie ein Mund, der schwer atmet?
Oder ist es die Leere der Welt selbst, die weder mit der Welt noch mit sich selbst etwas anzufangen weiß und die, wenn sie etwas anfängt, nicht weiß, wie sie es zu Ende bringen wird?
Oder ist sie nur die vergegenständlichte große Versuchung des Menschen, diese kleine Schachtel? Die Versuchung, die der Mensch bewundert und vor der er sich gleichzeitig fürchtet, der er aber leider nicht widerstehen kann?
Was ist die kleine Schachtel? Wer ist die kleine Schachtel? Ist sie wirklich alles, was deine Träumerei hier aufgezählt hat, oder ist sie nichts von all dem?
Du wirst gefragt, was dein Gedicht bedeutet. Warum fragt man nicht den Apfelbaum, was seine Frucht – der Apfel bedeutet? Wenn der Apfelbaum reden könnte, würde er antworten: Beißt hinein, und ihr werdet sehen, was er bedeutet!
Wie willst du eine Bedeutung aus deinem Gedicht ziehen? Wie willst du dein Gedicht auspressen, oder zerstoßen, oder auskochen, um diejenigen, die dich fragen, mit dem Gedichtsaft oder Gedichtpulver oder mit dem Gedicht in Tablettenform zu bewirten?
Du könntest – nur so, spaßeshalber – ein Gedicht über dein Gedicht schreiben. Ein jämmerliches Gedicht würde das! Das würde so etwas, wie wenn ein Apfelbaum aus seinem Stamm, seinen Ästen und Blättern einen Apfel zusammenbasteln würde. Manch einer hätte Nutzen davon! Aber das beweist doch, daß nicht du, ebensowenig wie der Apfelbaum, dazu berufen bist, etwas über dein Obst zu sagen! Beweist das nicht auch, nebenbei gesagt, daß du deinem Gedicht überhaupt nicht ähnlich bist? Ähnlich sehen sich nur deine Gedichte, und ihnen wird dann als gemeinsamer Nenner dein Name gegeben.
Übrigens, was bedeutet der Apfel? Warum antwortet dir niemand? Dein Gedicht bedeutet ein Geheimnis, das irgendwo in dir entstanden und gereift ist, und als es reif war, hast du es mit den Silben deiner Sprache ausgesprochen. Hättest du gewußt, was dieses Geheimnis bedeutet, dann hättest du dir nicht solche Mühe gegeben, daß es geboren wird und unter die Sonne, unter die Leute und unter die Wolken kommt. Und an den anderen ist es, nicht an dir, auf die Frage zu antworten, ob das Geheimnis erfahren oder nur erlebt werden kann, ob man es erobern oder ihm nur unterliegen kann, ob man es öffnen oder nur dem zustimmen kann, daß man in ihm Gefangener wird?
Du schaust deinem Gedicht hinterdrein, es ist deinen Händen entflogen, du schweigst, ruhst dich ein wenig aus, oder denkst zumindest, dich auszuruhen, du läßt dein Gedicht los, damit es selbst Antwort auf sich selbst wird. Du kannst über dein Gedicht allein als sein Leser sprechen, denn du bist der erste Leser deines Gedichts. Aber das bedeutet keineswegs daß du auch der maßgebliche, der beste Leser bist. Unter denen, die dich nach der Bedeutung deines Gedichts fragen gibt es gewiß klügere, erfahrenere und unbefangenere Leser als du selbst bist.
Du wirst gefragt, wie du dein Gedicht gemacht hast. Warum fragt man nicht den Stein, wie er das Steinchen gemacht, oder den Vogel, wie er das Ei gelegt, oder die Frau, wie sie das Kind geboren hat?
Der Stein kann (sagen wir) nicht reden, die Sprache der Vögel versteht niemand (oder, man hat sie vergessen), und die Frau wird ihre Liebe erzählen, den Weg ihrer Liebe, die Umstände ihrer Liebe; und nichts wird sie im Grunde sagen können, was eine Antwort auf die Frage wäre. Oder hat man schon von einer Mutter gehört, die erzählt hätte, wie sie ihrem Kinde den Kopf gemacht, wie sie ihm den Verstand und die Farbe seiner Augen ausgesucht, wie sie ihm die Seele eingehaucht hat? Du glaubst: nein. Das könnte sie nicht, aber deswegen würde sie nicht aufhören zu behaupten, daß sie und keine andere ihr Kind geboren hat.
So kannst auch du nicht antworten, wie du dein Gedicht geschrieben hast. Du stehst vor dieser Frage wie versteinert, den Kopf unterm Arm versteckt (denn Flügel hast du nicht), den Blick mütterlich erregt, du stehst so hilflos, so still und stumm wie (oder fast wie) ein Stein, ein Vogel, eine Frau. Und wäre diese Antwort, die man dir abverlangt, der Preis, mit dem du jedes deiner Gedichte bezahlen müßtest – du würdest wahrscheinlich aufhören, Gedichte zu schreiben. Oder du würdest, End aller Enden, daran zweifeln, daß du deine Gedichte selbst schreibst. (Und dieser Zweifel wäre, unter uns gesagt, nicht einmal so unbegründet!)
Du wirst die Zeremonie nacherzählen, die dich zum Gedicht bringt. Du erzählst im Grunde dein Benehmen, das der Entstehung des Gedichts vorangeht, also: den äußeren Aspekt der dichterischen Zeremonie, den einzigen, dessen du dir bewußt bist. Über den anderen, geheimnisvollen Aspekt der Zeremonie, die sich krönt mit dem Entstehen des Gedichts und die sich in dir vollendet, wirst du, wenn du ehrlich bist, niemandem etwas sagen können. Denn davon hast du keine Ahnung, genausowenig wie diejenigen, die dich fragen. Deine Rolle beim Schaffen des Gedichts ist die Rolle eines Mittelsmannes: du vermittelst, daß das Gedicht, das sich in dir formiert, ans Tageslicht kommt, daß es in diesem Licht bestehen und in Zukunft allein, ohne deine Hilfe leben und wirken kann. Das ist eine weder kleine noch leichte Arbeit, nur kann man darüber nicht weiß Gott was sagen: eine Arbeit wie jede andere in der dieser hauptsächliche, entscheidende Teil im Arbeiter selbst, aber ohne sein Wissen, bereits beendet ist.
Du wirst oft gefragt, woher du die Worte für dein Gedicht nimmst. Es gibt Wort-Knochen, die dir im Halse stecken bleiben. An ihnen kannst du ersticken. Es gibt Wort-Glut, die dir ins Herz fällt. An ihr kannst du verbrennen. Es gibt Wort-Schlangen, die sich in deinem Kopf ringeln. Ihretwegen mußt du lernen, auf der Zauberflöte zu spielen. Es gibt allerlei Worte, die dir übel mitspielen können. Mit Worten ist überhaupt nicht zu spaßen. Und unter anderem gibt es Wort-Schlüssel. Diese Wort-Schlüssel sind die einzigen lebendigen Worte, aus denen du ein Gedicht machen kannst. Diese Worte kommen immer unverhofft, aber nie zufällig zu dir. Sie tauchen auf wie Sterne oder ganze Gestirne am Himmel deines Schädels. Sie glänzen unter den anderen Worten und Sätzen, die mit dem zukünftigen Gedicht nichts zu tun haben. Diese Worte glänzen als Vorzeichen des Gedichts. Nur diese Worte muß man erkennen. Sie machen dich staunen, so, als seien es nicht deine Worte. Und du erinnerst dich ihrer dunkel, als hättest du sie schon irgendwann irgendwo gehört, nur weißt du nicht wo und wann; und diese Erinnerung bleibt dir für immer dunkel und wird sich dir auch nach der Niederschrift des Gedichts nicht klären.
Je reicher und reifer deine Erfahrung ist, lehrt sie dich, daß die Worte des Gedichts aus ihrer Quelle zu dir kommen. Woher könnten sie übrigens auch kommen? Wo diese Quelle der lebendigen Worte (der Wort-Schlüssel) ist, das könntest weder du noch irgendwer denen sagen, die dich danach fragen. Du weißt lediglich, daß der Weg von dieser Quelle durch dein Herz führt, durch deinen Kopf, durch deine Seele. Und das gibt dir die Möglichkeit, ein Gedicht zu schreiben, so zu schreiben, wie du es verdient hast. Dichter sein heißt – mehr als alles andere – Mensch sein, ein Mensch, der mit seinem Leben die Worte für sein Gedicht aus ihrer Quelle löst. Ohne Selbstvergessen gibt es keine Konzentration, ohne Konzentration keine Inspiration ohne Inspiration keine Offenbarung, ohne Offenbarung gibt es und kann es kein Gedicht geben. Kann es wenigstens kein Gedicht geben, wie du es wolltest.
Und du wirst ebensooft gefragt, an wen du die Worte deines Gedichts richtest. Du bringst sie dorthin zurück, woher du sie empfangen hast, du bringst sie zurück an ihre Quelle. Auch diesmal kannst weder du noch irgendwer sagen, wo sich diese Quelle befindet. Du weißt nur, daß der Weg zurück zur Quelle des lebendigen Wortes durch das Herz, durch den Kopf, durch die Seele aller Menschen führt. Und das wiederum gibt allen Menschen die Möglichkeit, daß auch sie – über die Worte des Gedichts – mit dieser lebensspendenden Quelle in Verbindung stehen. Darin, und in nichts anderem, besteht das Gemeinschaftliche, die Menschenliebe und die Humanität des dichterischen Aktes, des Gedichteschreibens. Denn jeder Mensch, nicht nur der Dichter, hat das tägliche Bedürfnis, mit der Quelle des lebendigen Wortes zu reden, aber oft weiß er nicht: wie.

Und für jeden Menschen, für jeden Leser gilt das Gesetz, wonach er die Worte des Gedichts verdient, wenn er will, daß diese Worte seine eigenen werden. Sonst kann er, wie hoch er immer will, über dem Gedicht stehen, das Gedicht wird sich ihm nie offenbaren. Die Worte im Gedicht bilden einen geschlossenen Kreis. Man sieht, daß sie einen Reigen tanzen, aber es ist nicht zu sehen, um welche Mitte sie tanzen. Die Worte im Gedicht ergeben das Bild der Quelle, der sie entsprungen sind und der sie wieder zufließen. Die Worte, könnte man sagen, drehen dem Menschen den Rücken zu, der sich über das Gedicht beugt. Und der Mensch kann ihnen ins Gesicht sehen nur wenn er sich ohne seine Hintergedanken, auf die er stolz ist, in diesen Reigen einschaltet; wenn er nicht danach fragt, wohin ihn dieser Reigen der Worte entführen wird, und wenn er sich nicht umdreht. Nur so wird sich ihm das Gedicht offenbaren: es wird sich ihm von innen eröffnen. Andere Eingänge, Nebeneingänge ins Gedicht gibt es nicht.
Du wirst immer von neuem gefragt, warum du Gedichte schreibst. Um zu sehen, warum du lebst – darum schreibst du Gedichte. Die lebendigen Worte übernachten oder überragen von Zeit zu Zeit in dir, auf ihrem endlosen Weg zu ihrer Quelle. Nur an ihnen siehst du, warum du lebst. Wenn es sie nicht gäbe, nie würdest du auf deinem Gesichtsfeld sehen, was sich hinter den Bergen verbirgt, die dein Feld umgeben. Nie würdest du sehen, wo sich dein Feld befindet, nichts ließe sich auf ihm entdecken. Deine Sätze wären nur Bissen von Erde, bis zu deinem Tod, und danach erst recht. Du würdest über dein Feld taumeln und offenen Auges die Stirn an unsichtbaren Mauern einschlagen.
Du wachst, mitten auf diesem endlosen Weg, der durch dich hindurch führt, und wartest auf die lebendigen Worte. Du gehst ihnen entgegen und bringst ihnen deine Geschenke dar, die einzigen, die du hast: Wachsamkeit und Schweigen. Damit, hoffst du, ihnen Speis und Trank zu reichen. Du bereitest ihnen deinen bloßen Atem, damit sie sich in ihm wie zu Hause fühlen, wie unterm Himmelszelt oder im unterirdischen Abgrund, je nachdem, was ihnen entspricht.
Du wachst, fern von dieser Quelle des lebendigen Wortes; du hast die Quelle nie gesehen, aber dir scheint, daß du etwas von ihrem Klang hörst, etwas von ihrer Gestalt spürst, etwas von ihrer Klarheit in jedem deiner Gedichte siehst. Du hast keine Angst, daß diese Quelle je versiegen könnte. Du hast keine Angst, daß sie jemand vergiften oder zustopfen könnte. Du weißt sehr wohl, daß diese Quelle nicht getrübt werden kann, denn kein einziger Fluch, keine Verwünschung, kein Stein kann sie erreichen und in ihre Tiefen fallen.
Wenn du so wachst, mitten auf dem Weg, auf dem die lebendigen Worte aus ihrer Quelle kommen, dann darum, weil du Angst hast, daß dieser Weg veröden und zuwachsen könnte zu einem dichten, undurchdringlichen Getöse, oder daß er versinken könnte unter der dicken Staubschicht des Schweigens. Dann nämlich brächtest du kein einziges Gedicht mehr hervor. Deine Stirn verwandelte sich wieder in eine Grabplatte, die eine ganze Welt verdeckt. Unter dieser Platte läge für immer alles, was du mit bloßem Auge nicht sehen kannst. Und du wüßtest nicht mehr, warum du lebst, denn kein lebendiges Wort wäre da, es dir zu sagen.
Du wirst gefragt, du, der du dich dem Gedichteschreiben gewidmet hast, wo dein Platz ist. Dein Platz ist unter den Menschen, die ein tägliches Bedürfnis nach dem lebendigen Wort deines Gedichts haben. Und gerade deswegen, weil du das weißt, darfst du dieses Wort nicht verschweigen, auch nicht, wenn dich jemand zum Schmuggler von Dingen erklärt, die es nicht gibt. Du darfst dieses lebendige Wort nicht zum Schweigen bringen, auch wenn dich jemand zum Verbrecher erklärt Dingen gegenüber, die es gibt. Denn das ausgesprochene dichterische Wort ist lebensspendend für alle Menschen. Das unausgesprochene, ins Fleisch und ins Schweigen vergrabene Wort, dieses selbe Wort verfault, zerfällt und wird giftig in allen Menschen und kann ihnen den Tod bringen. Und hier beginnt deine Verantwortung in dieser Zeit, wie in allen Zeiten, dem lebendigen Wort gegenüber. Heute, wo auch die Existenz dieses kleinen fruchtbaren Sterns, dessen Schein die Menschheit selbst sein sollte, in Frage gestellt ist, heute mehr denn je ist es notwendig, daß das lebendige dichterische Wort gehört wird.
Dein Platz ist in der langen Prozession der Menschen deiner Sprache, die sich im Lauf der Jahrhunderte mit derselben seltsamen Arbeit abgegeben haben wie du: sie verwandelten wenig Erde und viel Himmel, den sie in ihrem Herzen trugen, in ein Gedicht. Sie dichteten nicht, weil sie Lust zum Dichten hatten, sondern weil sie nicht sterben wollten. Sie wollten nicht sterben, und ebensowenig wollten sie die Menschen um sich herum sterben sehen. Sie verwandelten die Welt in ein Gedicht, um sie im Gedicht zu retten. Für sie Gedichte schreiben, bedeutet lieben.
Und sonst bildest du dir nichts ein. Du weißt, wo letztlich dein Platz im Verhältnis zu deinem Gedicht ist, wenn du es geschrieben hast. Im Gedicht ist dein Platz sicherlich nicht: stell dir vor, du fändest im Apfel eine Krume Erde, die den Apfelbaum ernährt hat?! Auch nicht hinter dem Gedicht ist dein Platz: dein Schatten fiele auf dein Gedicht und würde es trüben. Unter dem Gedicht, tief unter ihm ist dein Platz: wie der jeder nährenden Erde.

Vasko Popa, aus Walter Höllerer (Hrsg.): Ein Gedicht und sein Autor, Deutscher Taschenbuch Verlag, 1969

 

Popas Lyrik geht von der Alltagssprache aus,

von dem mündlichen Sich-Verständigen, – aber überall läßt er durchblicken, daß ihm der Surrealismus bekannt ist. Die alltägliche Umgebung wird mit dem aufs Außergewöhnliche geschulten Auge betrachtet. Und da Popa angeregt wird von einzelnen Worten, von Sätzen, die er neben sich gesprochen hört, ist es auch in seinen Versen oft eine ins Außergewöhnliche transponierte alltägliche Wendung, ein Wort, das zum Wortschlüssel wird. Die Position von Popa wurde angedeutet mit: populärem Exorzismus, also Austreibung der bösen Geister aus den Leuten, aus der Gesellschaft mit sprachlichen Mitteln. Poesie der belagerten Heiterkeit, Poesie zwischen den Dingen und dem Nichts. Popas Übersetzer, Karl Dedecius, nennt typische Ausdrucksformen dieses Dichters, wenn er davon spricht, daß seine Vorliebe der Sammlung und der Forschung verschollener Volkslieder, Sprüche, Rätsel, Zauberformeln, Wortspielen gehört, und daß er dort „Folklore und Surrealismus dicht beieinander“ aufzuspüren sucht. „So sehr diese Poesie aus Landschaft und Landesgeschichte geknüpft ist, so universell ist ihre Reichweite.“ „Erkenntnisse“ ist eine Gedichtreihe von Popa benannt worden, nicht weniger bezeichnend eine andere: „Dinge und Landschaft“. Am bezeichnendsten ist aber die Gedichtreihe „Spiele“, in der es Überschriften gibt wie „Versteckspiele“, „Wir spielen Hochzeit“, „Wir spielen Rosendiebe“, „Zwischen den Spielen“, „Wir spielen Samen“, „Wir spielen Jäger“, „Wir spielen Asche“. Seine Spiele sind Grotesken: sie zeigen die Zusammenhänge des Menschen aus Dingen. Er ist ein System von Dingen. Im „Knochendialog“ spielen die Bestandteile ein Marionettenspiel, einen mechanischen Totentanz:

Ich bin Knochen, du bist Knochen
Warum hast du mich verschluckt
Ich sehe mich nicht mehr
Was ist mit dir
Du hast mich verschluckt
Ich sehe mich auch nicht

Wo bin ich jetzt…

Walter Höllerer, aus Walter Höllerer (Hrsg.): Ein Gedicht und sein Autor, Deutscher Taschenbuch Verlag, 1969

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