Werner Jung: Zu Wolfgang Hilbigs Gedicht „abwesenheit“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Wolfgang Hilbigs Gedicht: „abwesenheit“ aus dem Band Wolfgang Hilbig: abwesenheit. –

 

 

 

 

WOLFGANG HILBIG

abwesenheit

wie lang noch wird unsere abwesenheit geduldet
keiner bemerkt wie schwarz wir angefüllt sind
wie wir in uns selbst verkrochen sind
in unsere schwärze

nein wir werden nicht vermißt
wir haben stark zerbrochne hände steife nacken –
das ist der stolz der zerstörten und toten dinge
schaun auf uns zu tod gelangweilte dinge –
es ist eine zerstörung wie sie nie gewesen ist

und wir werden nicht vermißt unsere worte sind
gefrorene fetzen und fallen in den geringen schnee
wo bäume stehn prangend weiß im reif – ja und
reif zum zerbrechen

alles das letzte ist uns zerstört unsere hände
zuletzt zerbrochen unsere worte zerbrochen: komm doch
geh weg bleib hier – eine restlos zerbrochne sprache
einander vermengt und völlig egal in allem
und der wir nachlaufen und unserer abwesenheit

nachlaufen so wie uns am abend
verjagte hunde nachlaufen mit kranken
unbegreiflichen augen.

 

Die richtige Sprache

Unter dem Titel abwesenheit erschien 1979 im Westen der schmale Gedichtband des im Osten lebenden, nahezu unbekannten Dichters Wolfgang Hilbig. Damit wurden schließlich langanhaltende Schreibbemühungen eines Autors, der als Arbeiter, als Heizer, Werkzeugmacher, Erdarbeiter, Monteur und Hilfsschlosser, seine Existenz fristete, durch die Publikation belohnt.
Sieht man diese zwischen 1965 und 1977 entstandenen Gedichte durch, erkennt man schon auf den ersten Blick, daß es in ihnen immer wieder nur um einige wenige zentrale Dinge geht, um die existentielle Befindlichkeit eines lyrischen Ich nicht zuletzt, das sich zerrissen, entfremdet, gespalten vorkommt. Da werden auf der einen Seite konkrete Arbeitserfahrungen konkret beschrieben, in einer unprätentiösen, Metaphern vermeidenden Sprache, da werden aber auch auf der anderen Seite die Räume und Welten dieser Arbeit – etwa das sächsische Kohlerevier – wieder mythisch überhöht, und da wird auch das erlebende Ich bisweilen in expressionistischen Gesten stilisiert. Hilbig arbeitet sich in diesen Texten, worauf sein früher Förderer und Mentor Franz Fühmann wohl als erster hingewiesen hat, an der „Praxis und Dialektik der Abwesenheit“ ab:

Es ist eine Abwesenheit, die nach Anwesenheit schreit, freilich von Anfang an im Ahnen letztlichen Unerfüllbarseins. Anwesenheit hat ja manche Grade; der erste ist simples physisches Hier-Sein, der letzte wäre Identität, Selbstfindung durch das Wirken in einer Gesellschaft, darin nach einem Wort von Karl Marx „die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“.

Der ganze Gedichtband wie insbesondere jenes Gedicht, das dem Band den Titel gab, kreist um die Erfahrung der Abwesenheit, um „die versprengte Existenz des schreibenden ,Ich‘“, „des von der Route der anderen abgekommenen Arbeiters/Schriftstellers“ (Genia Schulz). Schreibend, so möchte man den Gedichten als ihre mögliche subjektive Wahrheit, als Lehre, hinzufügen, versucht der Dichter seine Anwesenheit allererst her- und festzustellen.
Die Diagnose klingt fürchterlich: das Elend der Arbeiter – auch und insbesondere im DDR-Sozialismus – ist stationär, keine Änderung und keine Hoffnung sind in Sicht. Die fünf Strophen des Gedichts umschreiben etwas, das in traditioneller marxistischer Terminologie unter dem Begriff Entfremdung nur unzureichend charakterisiert ist, tatsächlich aber eine fundamentale existentielle Dimension aufweist, nämlich die Abwesenheit als Ausgesperrtsein und Nichtpräsenz. Die numinose schwarze Masse der Arbeiter, jenes undifferenzierte, unspezifische ,Wir‘ des Gedichts, schleicht unbemerkt durch die Geschichte. Die Arbeiter sind in sich selbst „verkrochen“ – jeder für sich allein ohne Solidarität der anderen –, alle „haben stark zerbrochne hände steife nacken“. Sie sind zerstört, weil sie sprachlos sind: „zuletzt zerbrochen unsere worte zerbrochen“, „eine restlos zerbrochne sprache / einander vermengt und völlig, egal in allem“. Wer keine Sprache hat bzw. wem sie genommen worden ist, der ist auch seinem Schicksal ausgeliefert, der trudelt anhaltslos in seinem Alltag hin und her, im ewigen Einerlei ohne Höhen und Tiefen, ohne Ablenkungen, Hoffnungen und Freuden, in der Tristesse der „Abwesenheit“. Wer keine Sprache hat, verfügt über kein Mittel des Benennens, der Bezeichnung für seine Erlebnisse und die Widerfahrnisse, die ihm in seiner Nähe, in demjenigen, was Bloch die „Dunkelheit des gelebten Augenblicks“ genannt hat, zustoßen. Er ist allem ausgesetzt.
Die ,richtige‘ Sprache, die ,treffende‘ Bezeichnung hingegen nimmt wieder den Bann von den Dingen und der Situation; sie hat eine erlösende Funktion, so wie Hilbig in einem anderen Gedicht mit dem sprechenden Titel „bewußtsein“ (1967) sein poetologisches Selbstverständnis skizziert:

die verwirrung
in worte zu kleiden
hab ich
das schreiende amt
übernommen.

Im passenden Wort, der gelungenen Metapher, im Gedicht bzw. in der ganzen Sammlung stellt Hilbig Erfahrung her, vermittelt er einen dumpfen, quälenden, grauen Alltag. Schreibend stellt sich das Ich her, stellt es seine Anwesenheit fest, drückt es sich aus und damit auch seine Geschichte, die Narben und Verletzungen, die ihm zugefügt worden sind, aber zugleich auch die kurzen Momente des Glücks, der Vereinigung in der Liebe. Es vermißt seine Lebenswelt, schreitet die topographischen Orte und Orientierungspunkte ab, die Arbeitsplätze (über und unter Tage) ebenso wie den privaten Rückzugsraum („ein dunkles zimmer“ [1967], „geste“ [1968]).
Was es jedoch nicht gibt, was es niemals mehr geben wird – und hier zeigt sich der Weitblick der Fühmannschen Formulierungen über Hilbig –, das ist so etwas wie eine stabile Identität, die letztgültige Feststellung des Ich. Daran hat auch die Wiedervereinigung nichts geändert. Wenn es Hilbig zu DDR-Zeiten noch darum ging, wie es in einem Vortrag von 1988 heißt, die „subjektiven Grenzen, die es zu erfassen und zu überschreiten gilt“, als „territoriale Grenzen“ zu sprengen, als Landesgrenzen, so lautet die Aufgabe von Literatur hier und heute im geeinten Deutschland, die „verbalen Müllhalden des Alltags“ zu sprengen und zu einer „Körper- und Sinnensprache“ zurückzufinden, wie Hilbig in einem Interview von 1990 nachdrücklich betont. In jedem Fall aber versteht Hilbig seine Texte – die Gedichte ebenso wie die seit den 80er Jahren dominierende Prosa – als Versuchsanordnungen, als Annäherungen und Reisen zu sich selbst: als „Selbstbefragung, Beschwörung und Verständigung des Ich“, wie es Harald Hartung anläßlich der Erstveröffentlichung von abwesenheit formulierte, bzw. – worin sich der gesamte Spannungsbogen der Hilbigschen Produktion von den frühen Gedichten bis zu den letzten Erzählungen Grünes grünes Grab (1992) spiegelt – in der Negation von Gewißheiten, in der Absage ans Geläufige:

Das Ich ist nicht als eine identische Stimme oder Wesenheit dingfest zu machen, es gibt keine eindeutige (Selbst-) Erfahrung, keinen verläßlichen Sinn, sondern nur sprachlich vortastende und erprobende Annäherungsversuche an das, was Biographie, Wirklichkeit oder das ,Leben‘ genannt wird. (Harro Zimmermann)

Und genau das kennzeichnet schon die Stärke der frühen Gedichte, Texte, die noch heute lesbar sind – wiederlesbar z.B. in dem Band Zwischen den Paradiesen (1992) – als Suchbewegungen auf dem Weg zur Ichfindung, wobei das Irritierende und Widersprüchliche daran wie auch in der unterschiedlichen Textur, die der Fragilität und Fragmentarik dieses Ich geschuldet sind, gerade die Faszination ausmacht.
Wie hieß es noch gleich in der Erzählung „Er, nicht ich“ (in: Zwischen den Paradiesen), was zugleich als poetologischer Vorsatz aller Literatur denkbar wäre: es gehe um „Möglichkeiten, sich zurechtzufinden ohne eine Weltidee“.

Werner Jung, aus Karl Deiritz und Hannes Krauss (Hrsg.): Verrat an der Kunst? Rückblicke auf die DDR-Literatur, Aufbau Taschenbuch Verlag, 1993

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